Urteil des BVerwG vom 13.01.2014

Abgrenzung, Hauptsache, Rüge, Hinweispflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 37.13
OVG 1 KN 33/10
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem auf die mündliche Verhand-
lung vom 10. April 2013 ergangenen Urteil des Nieder-
sächsischen Oberverwaltungsgerichts wird zurückgewie-
sen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 40 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
Für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig hält die Beschwerde zunächst die
Frage,
ob und in welchem Umfang ein Gericht bei der Beurteilung
der Abgrenzung eines Gebiets von gemeinschaftlicher
Bedeutung an seine eigene fachliche Beurteilung in einer
Gerichtsentscheidung gebunden ist und unter welchen Vo-
raussetzungen das Gericht in einer späteren Entschei-
dung davon abweichen darf.
Die Beschwerde macht deutlich, dass es ihr konkret um die Frage geht, ob das
Oberverwaltungsgericht bei der Beurteilung der Abgrenzung eines Gebiets von
gemeinschaftlicher Bedeutung im Normenkontrollurteil an die eigene fachliche
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Beurteilung im vorangegangenen Eilrechtsschutzverfahren gemäß § 47 Abs. 6
VwGO gebunden ist. Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
Sie lässt sich auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung mit Hilfe der
üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne Weiteres vernei-
nen (vgl. hierzu z.B. Beschluss vom 28. Mai 1997 - BVerwG 4 B 91.97 - juris
Rn. 4
1997, 468>).
Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien,
aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Grund-
lage für die Entscheidung ist der aufgrund der mündlichen Verhandlung aufbe-
reitete Prozessstoff (z.B. Dawin, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand April
2013, Bd. II, § 108 Rn. 28 m.w.N.). Das hindert das Gericht zwar nicht, auf die
in einem mit dem Hauptsacheverfahren im Zusammenhang stehenden gericht-
lichen Eilrechtsschutzverfahren gewonnenen Erkenntnisse zurückzugreifen (Be-
schluss vom 13. Juli 1989 - BVerwG 7 CB 80.88 - Buchholz 451.171 AtG
Nr. 30). Eine Bindung des Gerichts an die im Eilrechtsschutzverfahren vorge-
nommenen fachlichen Beurteilungen, von der die Beschwerde ausgeht, sieht
das Gesetz jedoch nicht vor. Sie widerspräche zudem der generellen Zweck-
setzung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens auf vorläufigen Rechtsschutz,
den Zeitraum bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache durch eine
schnelle Zwischenregelung zu überbrücken (BVerfG, Beschluss vom
19. Oktober 1977 - 2 BvR 42/76 - BVerfGE 46, 166 <178>), und wäre auch an-
gesichts unterschiedlicher Prüfungsmaßstäbe (vgl. hierzu Beschluss vom
18. Mai 1998 - BVerwG 4 VR 2.98 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 125 = NVwZ
1998, 1065; vgl. z.B. auch Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, § 47 Rn. 148
m.w.N.) und Prüftiefen (vgl. z.B. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010,
§ 47 Rn. 106, und Kopp/Schenke, a.a.O. Rn. 24, jew. m.w.N.) nicht sachge-
recht.
Die weiter aufgeworfene Frage,
welche Bedeutung die Einstellung eines Vertragsverlet-
zungsverfahrens durch die EU-Kommission hat und wel-
che Schlüsse daraus für die Ordnungsgemäßheit der Ge-
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bietsabgrenzung gezogen werden können, und insbeson-
dere, ob der Verfahrenseinstellung zumindest eine Indi-
zwirkung für die fachliche Richtigkeit der Gebietsabgren-
zung durch den Mitgliedstaat zukommt,
rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Revision. Ihre Beantwortung hängt
von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und ist einer verall-
gemeinerungsfähigen, rechtsgrundsätzlichen Klärung nicht zugänglich (zu die-
sen Maßstäben vgl. z.B. Beschluss vom 18. Mai 1999 - BVerwG 9 B 256.99 -
juris).
2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer
Abweichung des angefochtenen Urteils von dem Beschluss des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 13. März 2008 - BVerwG 9 VR 9.07 - (Buchholz 451.91 Eu-
rop. UmweltR Nr. 33, insoweit identisch mit Parallelentscheidung von demsel-
ben Tag - BVerwG 9 VR 10.07 - NuR 2008, 495) zuzulassen.
Eine die Revision eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich
bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz
benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Anwendung dersel-
ben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschluss vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Daran fehlt
es hier.
Die Beschwerde benennt keinen die angefochtene Entscheidung tragenden
abstrakten Rechtssatz, mit dem das Oberverwaltungsgericht dem Bundesver-
waltungsgericht die Gefolgschaft verweigert hätte. Das könnte sie auch nicht,
denn das Oberverwaltungsgericht (UA S. 18) hat sich die in dem zitierten Be-
schluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2008 (a.a.O.) getroffene
Aussage, mit Blick auf den mittlerweile erreichten fortgeschrittenen Stand des
Melde- und Gebietsausweisungsverfahrens verringere sich die gerichtliche Kon-
trolldichte und unterliege Parteivorbringen, es gebe ein faktisches Vogelschutz-
gebiet, das eine „Lücke im Netz“ schließe, besonderen Darlegungsanforderun-
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gen, ausdrücklich zu eigen gemacht. Die Beschwerde beschränkt sich demge-
mäß auch auf den Vorwurf, das Oberverwaltungsgericht sei diesen erhöhten
Darlegungsanforderungen nicht gerecht geworden; es habe nicht dargelegt,
dass die Abgrenzung aus ornithologischen Gründen nicht vertretbar sei. Sie
macht damit der Sache nach eine unzutreffende Rechtsanwendung geltend.
Eine die Revision eröffnende Divergenz ist damit nicht dargetan. Gleiches gilt
für die Rüge, das Oberverwaltungsgericht hätte sich im Einzelnen mit seinem
Eilbeschluss auseinandersetzen müssen, in dem es davon ausgegangen sei,
dass die Gebietsabgrenzung angesichts des fachlichen Beurteilungsspielraums
zumindest vertretbar gewesen sei.
3. Die Revision ist schließlich auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen
eines Verfahrensfehlers zuzulassen. Das Vorliegen einer das rechtliche Gehör
(§ 108 Abs. 2 VwGO) und die gerichtliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO)
sowie gegebenenfalls auch das Gebot eines fairen Verfahrens verletzenden
„Überraschungsentscheidung“ ist seitens der Beschwerde nicht schlüssig dar-
getan.
Eine gerichtliche Entscheidung stellt sich als eine unzulässige Überraschungs-
entscheidung dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen
oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht
und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach
dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (vgl. z.B.
Beschluss vom 11. August 1999 - BVerwG 11 B 61.98 - juris Rn. 8
nicht veröffentlicht in Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 19>). Diese
Voraussetzungen liegen hier bereits nach dem eigenen Vortrag der Beschwer-
de nicht vor.
Die Beschwerde macht nicht geltend, dass der Gesichtspunkt der fachlich zu-
treffenden Abgrenzung des Gebiets von gemeinschaftlicher Bedeutung in der
mündlichen Verhandlung nicht erörtert worden wäre. Sie trägt vielmehr vor,
dass der Antragsteller zu diesem Thema verschiedene Beweisanträge gestellt
habe, und räumt damit der Sache nach selbst ein, dass das Oberverwaltungs-
gericht dieses Thema zum Gegenstand seiner mündlichen Verhandlung ge-
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macht hat. Für überraschend hält sie dementsprechend auch nicht, dass das
Oberverwaltungsgericht den Gesichtspunkt der Abgrenzung des Gebiets von
gemeinschaftlicher Bedeutung zur Grundlage seiner Normenkontrollentschei-
dung gemacht hat, sondern vielmehr, dass das Gericht in der Hauptsacheent-
scheidung an seiner im Eilbeschluss vertretenen Auffassung nicht mehr festge-
halten hat. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung ist damit nicht darge-
tan. Die Antragsgegnerin musste damit rechnen, dass das Gericht die Frage
der fachlich zutreffenden Abgrenzung des Gebiets von gemeinschaftlicher Be-
deutung in der Hauptsache - insbesondere nach Zulassung der Revision im
Verfahren BVerwG 4 BN 28.08 - gegebenenfalls anders beurteilen könnte als
im Eilverfahren, und zwar auch dann, wenn sich - wie die Beschwerde behaup-
tet, aber vom Antragsteller bestritten wird - an den maßgeblichen tatsächlichen
und rechtlichen Erkenntnisgrundlagen nichts geändert haben sollte. Denn wie
dargestellt entscheidet das Gericht in der Hauptsache ohne Bindung an seine
vorangegangene Beurteilung im Eilverfahren anhand anderer Prüfungsmaßstä-
be und - hier nach Maßgabe des niedersächsischen Landesrechts - auch in
anderer Besetzung als im Eilverfahren. Da sich die tatsächliche und rechtliche
Würdigung überdies regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung
des Spruchkörpers ergibt, war das Oberverwaltungsgericht auch nicht gehalten,
die Beteiligten vorab auf seine nunmehrige Rechtsauffassung oder die beab-
sichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinzuweisen (vgl. Urteil vom 13. Mai
1976 - BVerwG 2 C 26.74 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 87; Beschluss vom
26. Juni 1998 - BVerwG 4 B 19.98 - NVwZ-RR 1998, 711). Die Antragsgegnerin
wäre deshalb im wohlverstandenen Eigeninteresse gehalten gewesen, sich in
der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht von sich aus und
unabhängig von einem richterlichen Hinweis Gehör zu verschaffen und mit ge-
eignetem Vortrag und gegebenenfalls geeigneten Beweisangeboten dafür zu
streiten, dass sich ihr Rechtsstandpunkt auch im Hauptsacheverfahren durch-
setzt. Dass sie davon - wie vorgetragen - abgesehen hat, liegt in ihrer Verant-
wortung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Petz
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