Urteil des BVerwG vom 07.01.2010

Gemeinde, Normenkontrolle, Bebauungsplan, Rechtsverletzung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 36.09
OVG 2 K 360/07
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Januar 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungs-
gerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 14. Mai 2009
wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der
Beigeladenen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), die ihr die Beschwerde (Bl. 238 bis 240 d.A.) beimisst.
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a) Die Beschwerde möchte rechtsgrundsätzlich klären lassen,
ob die Antragsbefugnis im Sinne von § 47 Abs. 2 Satz 1
VwGO bereits per se aus der Eigentümerstellung und den
damit verbundenen privaten Belangen und Interessen „zu-
sammen mit allenfalls hinzuzudenkenden Belangen wie
dem angeblichen Schutz vor Einblick“ folgt, ohne dass
dies einer weiteren Konkretisierung bedürfte, und ob dies
auch dann gilt, wenn diese Belange in einem bauord-
nungsrechtlichen Verfahren keinerlei Bedeutung hätten
und eine Antrags- bzw. Klagebefugnis gerade nicht be-
gründen könnten.
Diese Fragen rechtfertigen nicht die Durchführung eines Revisionsverfahrens.
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass die Anforderungen an das
Geltendmachen einer Rechtsverletzung im Sinne vom § 47 Abs. 2 Satz 1
VwGO nicht überspannt werden dürfen. Erforderlich, aber auch ausreichend für
die Antragsbefugnis ist, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsa-
chen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch
die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven Recht verletzt
wird (Urteil vom 30. April 2004 - BVerwG 4 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO
Nr. 165; stRspr). An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung sind grund-
sätzlich auch dann keine höheren Anforderungen zu stellen, wenn es um das
Recht auf gerechte Abwägung geht. Auch insoweit reicht es aus, dass der An-
tragsteller Tatsachen vorträgt, die eine fehlerhafte Behandlung seiner Belange
in der Abwägung als möglich erscheinen lassen (Urteil vom 24. September
1998 - BVerwG 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215 <218 f.>). Antragsbefugt ist
hiernach, wer sich auf einen abwägungserheblichen privaten Belang berufen
kann; denn wenn es einen solchen Belang gibt, besteht grundsätzlich auch die
Möglichkeit, dass die Gemeinde ihn bei ihrer Abwägung nicht korrekt berück-
sichtigt hat (Urteil vom 30. April 2004 a.a.O.).
Von diesem rechtlichen Ansatz ist das Oberverwaltungsgericht ausgegangen.
Es hat festgestellt, dass sich das teilweise fertig gestellte Gebäude der Beige-
ladenen aufgrund seiner Lage im rückwärtigen Bereich des Nachbargrund-
stücks nachteilig auf die Eigentümerinteressen der Antragsteller auswirken
kann (UA S. 7). Im Rahmen der Begründetheit hat es dargelegt, dass Belästi-
gungen und Störungen - sei es durch Immissionen, sei es durch den Wohnfrie-
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den störende Einblicksmöglichkeiten - hier auch nicht von vornherein tatsächlich
ausgeschlossen oder wegen mangelnder Schutzwürdigkeit unbeachtlich seien
(UA S. 10).
b) Zum Rechtsschutzbedürfnis möchte die Beschwerde klären lassen,
ob ein „Rohbau“ noch keine (das Rechtsschutzbedürfnis
ausschließende) ausreichende Verwirklichung der ange-
griffenen Festsetzungen eines Bebauungsplans auf dem
Nachbargrundstück darstellt, auch wenn durch diesen oh-
ne Weiteres erkennbar wird, wie das Nachbargrundstück
genutzt wird, insbesondere, welche „Immissionen“ und
„den Wohnfrieden störende Einblicksmöglichkeiten“ zu
erwarten sind.
Diese Frage rechtfertigt ebenfalls nicht die Durchführung eines Revisionsver-
fahrens. Dass die im Normenkontrollverfahren festgestellte Unwirksamkeit der
Planänderung auch einer Fortführung der durch diese Planänderung ermöglich-
ten Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück entgegen steht, lässt sich auf der
Grundlage des § 30 Abs. 1 BauGB ohne Weiteres bejahen. Im Übrigen kommt
eine das Rechtsschutzbedürfnis ausschließende Verwirklichung einer angegrif-
fenen Festsetzung nach der Senatsrechtsprechung (Beschluss vom 28. August
1987 - BVerwG 4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85 <92>; stRspr) allenfalls dann in
Betracht, wenn die Festsetzung im Baugebiet auch räumlich „vollständig ver-
wirklicht“ ist, was hier angesichts noch weiterer unbebauter Grundstücke im
Geltungsbereich des Änderungs-Bebauungsplans ersichtlich nicht der Fall ist.
c) Als klärungsbedürftig erachtet die Beschwerde ferner die Frage,
ob nur denkbare „potentielle“ Störungen bei offen gelas-
sener Prüfung der konkreten Bebauungssituation, die sich
- wenn überhaupt - überdies nur als „geringfügig“ heraus-
stellen, die Bauleitplanung der Kommune beschränken
bzw. „wegwägen“ dürfen.
Soweit erkennbar, möchte die Beschwerde damit klären lassen, ob eine Pla-
nung auch dann als abwägungsfehlerhaft beanstandet werden kann, wenn in
der Abwägung Störungen unberücksichtigt geblieben sind, deren Eintritt das
Normengericht zwar für möglich gehalten, aber nicht konkret untersucht hat,
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und die überdies private Interessen allenfalls geringfügig beeinträchtigen. Auch
diese Frage lässt sich, soweit entscheidungserheblich, auf der Grundlage bis-
heriger Senatsrechtsprechung beantworten. Abwägungserheblich sind alle Be-
lange, die nach Lage der Dinge in die Abwägung eingestellt werden müssen
(Urteil vom 12. Dezember 1969 - BVerwG 4 C 105.66 - BVerwGE 34, 301
<309>). Private Interessen sind für die Abwägung erheblich, sofern sie in pla-
nungsrechtlich beachtlicher Weise berührt werden (Urteil vom 9. November
1979 - BVerwG 4 N 1.78, 4 N 2. bis 4.79 - BVerwGE 59, 87 <98>) oder - anders
ausgedrückt - in der konkreten Planungssituation einen städtebaulichen Bezug
haben. Nicht abwägungsbeachtlich sind insbesondere geringwertige oder mit
einem Makel behaftete Interessen sowie solche, auf deren Fortbestand kein
schutzwürdiges Vertrauen besteht, oder solche, die für die Gemeinde bei der
Entscheidung über den Bebauungsplan nicht erkennbar waren (Urteil vom
30. April 2004 - BVerwG 4 CN 1.03 - a.a.O. S. 138 m.w.N.). Insofern kann auch
das private Interesse am Fortbestand der bisherigen planungsrechtlichen
Situation ein in der Abwägung zu berücksichtigender Belang sein, sofern der
Dritte von der beabsichtigten Änderung mehr als nur geringfügig in seinen
Interessen berührt wird (Beschluss vom 20. August 1992 - BVerwG 4 NB 3.92 -
Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69).
Diese rechtlichen Maßstäbe hat das Oberverwaltungsgericht seiner Prüfung
ausdrücklich zugrunde gelegt (UA S. 8 f.). Es hat dabei mit Blick auf die konkre-
te Situation im Baugebiet festgestellt, dass sich die Planänderung gegenüber
der in den jeweils vorderen, straßenseitigen Grundstücksbereichen bereits ent-
standenen Wohnbebauung als konfliktträchtig und bewältigungsbedürftig er-
weise, weil sie faktisch erstmals eine Wohnbebauung im rückwärtigen Grund-
stücksbereich ermögliche, die naturgemäß ein hohes Konfliktpotential berge,
indem sie Unruhe in diese Bereiche hineintrage und für die Nachbarn zu Beläs-
tigungen und Störungen führen könne (UA S. 9 f.). Das Oberverwaltungsgericht
hat damit Gründe für den städtebaulichen Bezug der privaten Interessen der
Antragsteller angegeben, die die Schlussfolgerung, die Antragsgegnerin hätte
diese Belange in der Abwägung berücksichtigen müssen, auch wenn eine an
den Umständen des Einzelfalls orientierte nähere Begründung denkbar und
möglicherweise auch wünschenswert gewesen sein mag, tragen. Auf die von
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der Beschwerde problematisierte Frage, ob diese Belange auch in einem bau-
ordnungsrechtlichen Verfahren zu berücksichtigen wären, kommt es ebenso
wenig an wie auf die zuvor erteilte „Zustimmung zur Abweichung“.
Davon, dass die privaten Interessen der Antragsteller nur geringfügig beein-
trächtigt wären, ist das Oberverwaltungsgericht nicht ausgegangen. Die Formu-
lierung, es möge sein, dass sich die potentiellen Störungen angesichts der
Größe der betroffenen Grundstücke und der konkreten Bebauungssituation im
Ergebnis einer entsprechenden Prüfung als eher geringfügig herausstellen (UA
S. 10), bezieht sich auf die nach § 2 Abs. 3 BauGB gebotene Ermittlung und
Bewertung des Abwägungsmaterials durch die planende Gemeinde, deren Er-
gebnis es selbstverständlich auch sein kann, dass die fraglichen privaten Be-
lange der Antragsteller letztlich doch nur als geringfügig zu bewerten sind und
deshalb die Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB nicht maßgeblich beeinflus-
sen. Dies setzt aber einen ordnungsgemäßen Abwägungsvorgang voraus, des-
sen Fehlen das Oberverwaltungsgericht gerade beanstandet hat.
d) Die von der Beschwerde formulierte Grundsatzfrage,
ob das Normenkontrollgericht der Gemeinde in diesem
Zusammenhang eine fehlende „Abwägungsoffenheit“ un-
terstellen darf, ohne dies sachlich zu begründen,
ist nicht entscheidungserheblich, weil das Normenkontrollgericht der Antrags-
gegnerin eine fehlende Abwägungsoffenheit nicht unterstellt hat. Es hat lediglich
darauf hingewiesen, dass, wenn die Planänderung (auch) dazu dienen soll, die
illegal begonnene Errichtung des Gebäudes auf dem Nachbargrundstück zu
legalisieren, dieses Motiv eine ganz besonders sorgfältige Auseinandersetzung
mit den widerstreitenden Interessen erfordere, „weil ansonsten nicht ausge-
schlossen werden kann, dass sich das beschließende Gremium von vornherein
an ein bestimmtes Ergebnis gebunden fühlte und es mithin an der erforderli-
chen Abwägungsoffenheit fehlte“ (UA S. 11).
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e) Soweit die Beschwerde schließlich klären lassen möchte,
ob sich ein Gericht unter Missachtung des Gewaltentei-
lungsgrundsatzes an die Stelle einer planenden Gemeinde
setzen und letztlich deren Bauleitplanung bestimmen bzw.
sogar den Stillstand der städtischen Entwicklung
provozieren darf,
ist auf die in § 47 VwGO normierte Befugnis des Oberverwaltungsgerichts zu
verweisen, einen Bebauungsplan im Rahmen der prinzipalen Normenkontrolle
auf beachtliche Rechtsverstöße zu kontrollieren und gegebenenfalls für unwirk-
sam zu erklären.
2. Die geltend gemachte Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) führt ebenfalls
nicht zur Zulassung der Revision.
Der Beschwerdevortrag genügt insoweit schon nicht den Darlegungsanforde-
rungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO (vgl. dazu Beschluss vom 19. August
1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328; stRspr). Die Beschwerde be-
zeichnet keinen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragen-
den Rechtssatz, mit dem die Vorinstanz einem (unter anderem) in der Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen ent-
scheidungstragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift
widersprochen hat. Aber auch in der Sache lässt der Beschwerdevortrag eine
Divergenz nicht erkennen.
Von den im Urteil des Senats vom 30. April 2004 (BVerwG 4 CN 1.03 a.a.O.)
entwickelten rechtlichen Maßstäben für die Antragsbefugnis weicht das Nor-
menkontrollurteil - wie dargelegt - nicht ab. Soweit dort entschieden worden ist,
dass das Interesse, mit einem Grundstück in den Geltungsbereich eines Be-
bauungsplans einbezogen zu werden, kein abwägungsrelevanter Belang ist, der
dem Eigentümer die Antragsbefugnis für eine Normenkontrolle zu vermitteln
vermag, ist dies - entgegen der Auffassung der Beschwerde (Bl. 244 d.A.) -
vorliegend ohne Belang.
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Im Übrigen macht die Beschwerde lediglich geltend, das Oberverwaltungsge-
richt habe die rechtlichen Maßstäbe zur Antragsbefugnis unzutreffend ange-
wandt, was die Zulassung der Divergenzrevision nicht zu begründen vermag
(Beschluss vom 25. Februar 1997 - BVerwG 11 B 5.97 - ). Gleiches gilt,
soweit die Beschwerde eine unzutreffende Anwendung der höchstrichterlich
entwickelten Maßstäbe zum Rechtsschutzinteresse und zur Abwägung geltend
macht. Im Dunkeln bleibt, worauf die Beschwerde ihre Behauptung stützt, das
Oberverwaltungsgericht nehme - zu Unrecht - an, bei dem zu prüfenden Gebot
der Konfliktbewältigung handele es sich um ein der Abwägung von vornherein
vorgelagert zu prüfendes und möglicherweise die Abwägung von vornherein
ausschließendes Kriterium.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die
Streitwertfestsetzung richtet sich nach § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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