Urteil des BVerwG vom 21.11.2005

Verfassungskonforme Auslegung, Bebauungsplan, Gemeinde, Rechtsnorm

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 36.05
OVG 7 D 11/05.NE
In der Normenkontrollsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. November 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht G a t z und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 22. April 2005 wird zurückge-
wiesen.
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Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 25 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO ge-
stützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Die Antragstellerin rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs und
meint, das Normenkontrollgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen.
Eine gerichtliche Entscheidung stellt sich jedoch nur dann als unzulässiges Überra-
schungsurteil dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder
tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit
dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher insbesondere der unterlegene Be-
teiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte
(stRspr). Ein Überraschungsurteil liegt unter anderem vor, wenn die das angefochte-
ne Urteil tragende Erwägung weder im gerichtlichen Verfahren noch im früheren
Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren erkennbar thematisiert worden war. Um dies
auszuschließen, sind in der mündlichen Verhandlung die maßgebenden Rechtsfra-
gen zu erörtern. Das erfordert allerdings nicht, dass das Gericht den Beteiligten be-
reits die möglichen Entscheidungsgrundlagen darlegt oder das in der Beratung zu
findende Ergebnis vorwegnimmt. Auf der Grundlage dieser, im Wesentlichen auch
von der Beschwerde so referierten Rechtsprechung liegt hier kein Verstoß gegen das
rechtliche Gehör vor.
Die Antragstellerin hat in ihrer Antragsbegründung die Auffassung vertre-
ten, die umstrittene textliche Festsetzung im Bebauungsplan (Nr. 2 Abs. 4 Satz 2) sei
dynamisch auszulegen. Dies habe die Folge, dass auch durch einen späteren (einfa-
chen) Beschluss des Gemeinderats die Liste der nicht zentrenrelevanten Sortimente
erweitert werden könnte. Die Antragstellerin hat ferner gerügt, dies stelle ein vom
BauGB nicht vorgesehenes Verfahren dar. Darauf hat die Antragsgegnerin (lediglich)
erwidert, die angegriffene Formulierung sei "jedoch bewusst gewählt" worden. In der
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mündlichen Verhandlung vor dem Normenkontrollgericht hat der Senat nach dem
eigenen Vortrag der Antragstellerin zu erkennen gegeben, dass er von der Nichtig-
keit des Bebauungsplans ausgehen werde, falls es sich bei der umstrittenen Festset-
zung um eine dynamische Verweisung handele. Ob dies der Fall sei, unterliege je-
doch als Frage der Auslegung einer Rechtsnorm der Entscheidung des Normenkon-
trollgerichts.
Damit hat das Oberverwaltungsgericht deutlich zu erkennen gegeben,
dass auch eine andere Auslegung als die "dynamische" in Betracht kam. Es hat dar-
auf hingewiesen, dass eine Auslegung möglich ist, die nicht der von der Antragstelle-
rin einerseits favorisierten, andererseits als unzulässig angesehenen entsprach.
Zugleich hat es das Gericht ersichtlich nicht als zwingend angesehen, lediglich dar-
auf abzustellen, dass die Antragsgegnerin die Formulierung "bewusst gewählt" habe.
Somit hat das Gericht insgesamt deutlich gemacht, dass in die rechtliche Prüfung
auch eine gänzlich andere Auslegung einzubeziehen ist. Wenn eine bestimmte Aus-
legung eines Bebauungsplans - wie jeder anderen vergleichbaren Rechtsnorm - mit
höherrangigem Recht, also Bundesrecht oder Verfassungsrecht (des Landes oder
des Bundes) nicht vereinbar ist, drängt es sich auf, die Möglichkeit einer bundes-
rechtskonformen bzw. verfassungskonformen Auslegung zu prüfen. Bestehen Be-
denken gegen eine so genannte dynamische Verweisung, ist an eine statische Ver-
weisung zu denken. Damit mag der Normgeber nicht in vollem Umfang dasjenige Er-
gebnis erreichen, das er "bewusst gewählt" hat. Dies liegt indes in der Natur einer
bundesrechtskonformen bzw. verfassungskonformen Auslegung, die stets mit einer
entsprechenden Einschränkung verbunden sein wird.
Vorliegend hat das Normenkontrollgericht die umstrittene textliche Fest-
setzung verfassungskonform dahin ausgelegt, dass das Wort Beschluss nur einen
Satzungsbeschluss meinen könne, der auf der Grundlage eines Bebauungsplanän-
derungsverfahrens ergangen sei (Urteilsabdruck S. 17). Die Beschwerde rügt, damit
entspreche die Formulierung der Sache nach einem Änderungsvorbehalt, der ohne-
hin selbstverständlich sei. Selbst wenn diese Gleichsetzung zutreffen sollte, würde
eine derartige bundesrechtskonforme bzw. verfassungskonforme Auslegung nicht
dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der ein Beteiligter im Hinblick auf die
Hinweise in der mündlichen Verhandlung nicht zu rechnen brauchte. Im Übrigen ist
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im Hinblick auf die entsprechenden Ausführungen in der Beschwerde darauf hinzu-
weisen, dass das vom Normenkontrollgericht genannte Bebauungsplanänderungs-
verfahren auch für mehrere Bebauungspläne zeitgleich durchgeführt werden kann.
2. Die Rechtssache hat auch nicht die rechtsgrundsätzliche Bedeutung,
die ihr die Beschwerde beimisst. Dies setzt die Formulierung einer bestimmten,
höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen
Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die all-
gemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr). Eine
derartige Frage wirft die Beschwerde jedoch nicht auf.
Sie möchte mit ihrer ersten Frage geklärt wissen, ob es unter den Aspek-
ten des Eigentumsschutzes, der Abwägung und der Bestimmtheit als zulässig zu er-
achten sei, in Sondergebieten mit der Zweckbestimmung des § 11 Abs. 3 Satz 1
BauNVO die Verkaufsflächen und Sortimente von großflächigen Einzelhandelsbe-
trieben nicht grundstücksbezogen oder betriebsbezogen, sondern gebietsbezogen
festzusetzen, wenn in dem betroffenen einheitlichen Gebiet mehrere Einzelhandels-
betriebe vorhanden oder geplant sind, auf die die Verkaufsflächen aufgeteilt werden
müssen, ohne dass der Bebauungsplan eine bestimmte Art und Weise der Aufteilung
vorgibt.
In dieser Allgemeinheit würde sich die Frage in einem Revisionsverfah-
ren nicht stellen, denn vorliegend handelt es sich um drei in einem Sondergebiet be-
reits vorhandene Betriebe, auf die Verkaufsflächen nicht erst noch "aufgeteilt werden
müssen".
Die Beschwerde schränkt daher die Frage dahingehend ein, ob dies
dann zulässig sei, wenn das Gebiet bereits vollständig baulich genutzt wird und nach
dem Willen des Planungsgebers durch die gebietsbezogene Festsetzung erreicht
werden soll, dass die Verkaufsflächen und Sortimente im Falle einer (teilweisen)
Nutzungsaufgabe von den verbleibenden Betrieben übernommen werden können.
Auch in dieser Form rechtfertigt die Fragestellung indes nicht die Zulassung der Re-
vision wegen grundsätzlicher Bedeutung.
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Als Prüfungsmaßstab für den von ihr umschriebenen Sachverhalt be-
nennt die Beschwerde zunächst den Schutz des Eigentums und das Gebot einer ge-
rechten Abwägung. Das Oberverwaltungsgericht führt hierzu u.a. aus, die Antrags-
gegnerin habe die Folgewirkungen der Beschränkung der Randsortimente für die
Antragstellerin nicht verkannt. In der gegenwärtigen Situation könne diese ihr eige-
nes Randsortiment nicht (bis auf 700 m²) ausweiten. Vielmehr seien die Verkaufsflä-
chen und die Randsortimente auf den ermittelten Bestand festgeschrieben. Darin
sieht das Oberverwaltungsgericht vorliegend keinen Abwägungsfehler. Es bedarf
keiner Klärung in einem Revisionsverfahren, dass eine Gemeinde im Grundsatz ab-
wägungsfehlerfrei die vorhandene Nutzung "festschreiben" darf, weil sie die mit Er-
weiterungen (welcher Art auch immer) verbundenen Auswirkungen (beispielsweise
nach § 11 Abs. 3 Satz 2 ff. BauNVO) verhindern will. Ob eine derartige Festsetzung
im Einzelnen abwägungsfehlerfrei ist und ob dabei der Schutz des Eigentums seiner
Bedeutung entsprechend angemessen einbezogen worden ist, lässt sich nicht in
grundsätzlicher Weise klären. Zu Recht verweist das Oberverwaltungsgericht ferner
darauf, dass die Genehmigungsfähigkeit eines Einzelvorhabens im Bauplanungs-
recht auch davon abhängig sein kann, welche Gebäude und Nutzungen bereits vor-
handen sind. Er nimmt dabei unter anderem auf das Urteil des Senats vom
24. Februar 2000 - BVerwG 4 C 12.98 - (BVerwGE 110, 355) Bezug, das die Wech-
selbeziehungen bei einem Doppelhaus betrifft. Ergänzend wäre u.a. auf Belange des
Immissionsschutzes zu verweisen, die die Errichtung einer bestimmten (emittieren-
den oder schutzbedürftigen) baulichen Anlage hindern können, so lange eine andere
Anlage noch genutzt wird. Eine Gemeinde ist nicht gehindert und wird im Hinblick auf
eine vorhandene Lage häufig sogar gehalten sein, die gegenwärtigen Gegebenhei-
ten im Rahmen ihrer Abwägung zu beachten. Sie ist auch nicht grundsätzlich gehin-
dert, Festsetzungen zu treffen, die sich aus tatsächlichen Gründen erst unter be-
stimmten Voraussetzungen verwirklichen lassen. Ob dies im Einzelfall abwägungs-
fehlerfrei erfolgt ist, lässt sich nicht in einem Revisionsverfahren klären.
Auch der Hinweis in der Beschwerde auf den Maßstab der Bestimmt-
heit führt nicht auf eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. In der Rechtsprechung
ist geklärt, dass die Entscheidung über konkrete Einzelheiten dem Baugenehmi-
gungsverfahren überlassen werden darf. Im Bebauungsplan muss nicht jede Frage
regelnd vorweggenommen werden, die sich nach einer Nutzungsänderung stellt. Es
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ist gegebenenfalls Sache des Nutzungsänderungswilligen, die Voraussetzungen für
eine Genehmigung darzulegen; insoweit handelt es sich ohnehin nicht um Fragen
des bundesrechtlich geregelten Bauplanungsrechts.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5
Satz 2 Halbsatz 2 VwGO ab, da sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Vorausset-
zungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwert-
festsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Paetow Gatz Dr. Jannasch