Urteil des BVerwG vom 06.02.2006

Rechtliches Gehör, Gemeinde, Erlass, Enteignung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 3.06
VGH 4 N 3126/01
In der Normenkontrollsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Februar 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht G a t z und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragstellerinnen gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 13. September 2005 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin zu 1 trägt 6/7, die Antragstellerinnen zu 2
und 3 tragen jeweils 1/14 der Kosten des Beschwerdeverfah-
rens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 42 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO ge-
stützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die
Antragstellerinnen beimessen. Die von der Beschwerde als rechtsgrundsätzlich be-
zeichnete Frage,
ob bei einer transitorischen Enteignung, auf die eine städtebauliche
Entwicklungsmaßnahme angelegt ist, die dauerhafte Sicherung des
Enteignungszwecks bereits in der Entwicklungssatzung selbst vor-
genommen werden muss,
bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie lässt sich, so-
weit sie in dem Revisionsverfahren entscheidungserheblich wäre, auf der Grundlage
des Gesetzes und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
beantworten, ohne dass es hierzu eines Revisionsverfahrens bedürfte.
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Die gesetzliche Regelung über die Zulässigkeit der Enteignung in einem
durch Satzung förmlich festgelegten Entwicklungsbereich (§ 165 Abs. 6 BauGB) ist
als so genannte transitorische oder Durchgangsenteignung darauf gerichtet, privaten
Dritten das Eigentum zu verschaffen. Der Durchgangserwerb der Gemeinde ist ein
notwendiger Zwischenschritt, um den eigentlichen Enteignungszweck, die Entwick-
lung eines Teils des Gemeindegebiets und dabei die Errichtung z.B. von Wohnstät-
ten, zu erreichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1998 - BVerwG 4 CN 5.97 - Buch-
holz 406.11 § 165 BauGB Nr. 4 ). Die Grundstücke sind nach ihrer Neuord-
nung und Erschließung unter Berücksichtigung weiter Kreise der Bevölkerung und
unter Beachtung der Ziele und Zwecke der Entwicklungsmaßnahme an Bauwillige zu
veräußern, die sich verpflichten, dass sie die Grundstücke innerhalb angemessener
Frist entsprechend den Festsetzungen des Bebauungsplans und den Erfordernissen
der Entwicklungsmaßnahme bebauen werden (§ 169 Abs. 6 Satz 1 BauGB). Die
Gemeinde hat bei der Veräußerung dafür zu sorgen, dass die Bauwilligen die Be-
bauung in wirtschaftlich sinnvoller Aufeinanderfolge derart durchführen, dass die Zie-
le und Zwecke der städtebaulichen Entwicklung erreicht werden und die Vorhaben
sich in den Rahmen der Gesamtmaßnahme einordnen (§ 169 Abs. 7 Satz 1 BauGB).
Sie hat weiter sicherzustellen, dass die neu geschaffenen baulichen Anlagen ent-
sprechend den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme
dauerhaft genutzt werden (§ 169 Abs. 7 Satz 2 BauGB). Diese Pflichten obliegen der
Gemeinde bei der Veräußerung der Grundstücke durch entsprechende Vertragsges-
taltung (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Juli 1998 a.a.O. ). Die Entwicklungssat-
zung wäre schon deshalb nicht geeignet, die Erwerber der Grundstücke rechtlich an
das Gemeinwohlziel zu binden, weil bei Erlass der Entwicklungssatzung noch nicht
feststeht, an wen die Gemeinde die von ihr zu erwerbenden oder zu enteignenden
Grundstücke veräußern wird. Auch ein parzellenscharfes Konzept für die Nutzung
der Grundstücke im Entwicklungsbereich muss im Zeitpunkt des Erlasses der Ent-
wicklungssatzung noch nicht vorliegen; die Bebauungspläne, die die Vorstellungen
über die bauliche oder sonstige Nutzung im Einzelnen festsetzen, sind erst nach Er-
lass der Entwicklungssatzung zu beschließen (§ 166 Abs. 1 Satz 2 BauGB; vgl.
BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 2002 - BVerwG 4 CN 7.01 - Buchholz 406.11
§ 165 BauGB Nr. 12 ). Der Gesetzgeber hat, indem er der Gemeinde aufge-
geben hat, bei der Veräußerung der Grundstücke die Erreichung der Ziele und Zwe-
cke der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme dauerhaft zu sichern, hinreichende
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Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass sich die Entwicklungsmaßnahme für
Ziele missbrauchen lässt, die vom Gemeinwohlerfordernis des § 165 BauGB nicht
gedeckt sind; die gesetzliche Regelung genügt damit den sich nach der Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Urteil vom 24. März 1987
- 1 BvR 1046/85 - BVerfGE 74, 264 <286, 296>) aus Art. 14 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG
ergebenden Anforderungen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. März 1998 - BVerwG
4 BN 4.98 - Buchholz 406.11 § 165 BauGB Nr. 1; Urteil vom 3. Juli 1998 a.a.O.; Be-
schluss vom 16. Februar 2001 - BVerwG 4 BN 55.00 - Buchholz 406.11 § 165
BauGB Nr. 9; Beschluss vom 5. August 2002 - BVerwG 4 BN 32.02 - Buchholz
406.11 § 165 BauGB Nr. 11; Urteil vom 12. Dezember 2002 - BVerwG 4 CN 7.01 -
Buchholz 406.11 § 165 BauGB Nr. 12; Beschluss vom 27. Mai 2004 - BVerwG
4 BN 7.04 - Buchholz 406.11 § 165 BauGB Nr. 14).
Die sinngemäß gestellte Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen
Voraussetzungen die gemäß § 165 Abs. 3 Satz 2 BauGB erforderliche Abwägung
fehlerhaft ist, wenn eine Gemeinde eine Entwicklungssatzung beschließt, obwohl
konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein öffentliches Interesse an der beab-
sichtigten städtebaulichen Entwicklung nur vorgeschoben wird, um tatsächlich private
Nutzungsinteressen zu Lasten der bisherigen Eigentümer zu begünstigen (zu einem
solchen Fall vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2002 - 1 BvR 390/01 - NVwZ 2003,
71), und es deshalb fraglich erscheint, ob die Gemeinde Maßnahmen ergreifen wird,
die geeignet sind, die Erreichung des Enteignungszwecks dauerhaft zu sichern, wür-
de sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen. Der Verwaltungsge-
richtshof hat Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin in Wahrheit nicht einen
erhöhten Bedarf an Wohnstätten decken, sondern eine vom Baugesetzbuch nicht
zugelassene soziale Umverteilung von Grund und Boden vornehmen will, nicht fest-
gestellt (vgl. UA S. 33).
2. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
2.1 Die Beschwerde rügt unter verschiedenen Gesichtspunkten eine Ver-
letzung des Anspruchs der Antragstellerinnen auf rechtliches Gehör. Nach Art. 103
Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO hat das Gericht die Ausführungen der Beteiligten
zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, es sei
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denn, dass es den Vortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz
oder teilweise außer Betracht lassen darf. Das Gericht ist indes nicht verpflichtet, sich
in den Entscheidungsgründen mit jedem Parteivorbringen ausdrücklich auseinander
zu setzen. Es darf sich darauf beschränken, auf die wichtigsten, für die Entscheidung
unmittelbar und primär relevanten Ausführungen einzugehen. Das Gebot, rechtliches
Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht insbesondere nicht dazu, der Rechtsan-
sicht oder der Tatsachenwürdigung eines der Beteiligten zu folgen (vgl. BVerwG, Be-
schluss vom 16. Februar 2001 - BVerwG 4 BN 56.00 - juris Rn. 22 m.w.N.).
Gemessen hieran liegt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs der An-
tragstellerinnen nicht vor. Die Beschwerde meint, der Verwaltungsgerichtshof habe
den Vortrag der Antragstellerinnen übergangen, dass sich von den 87 Eigentümern
59 vor Erlass der Satzung mit der Antragsgegnerin über die Abgabe ihrer Gründstü-
cke geeinigt hätten und dass die restlichen - sämtlich vom Prozessbevollmächtigten
der Antragstellerinnen vertretenen - Eigentümer zum Abschluss eines städtebauli-
chen Vertrages bzw. einer freiwilligen Umlegungsvereinbarung bereit gewesen seien.
Dieser Vortrag war nach der - für die Prüfung eines Verfahrensfehlers maßgeblichen
(vgl. BVerwG, Urteil vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - Buchholz 310 § 108
VwGO Nr. 183, stRspr) - materiellrechtlichen Rechtsauffassung des Verwaltungsge-
richtshofs nicht erheblich. Denn der Verwaltungsgerichtshof hat die Alternative, städ-
tebauliche Verträge zu schließen, unabhängig von der Einigungsbereitschaft der be-
troffenen Eigentümer schon im Hinblick auf deren große Zahl - und die mit der An-
zahl der Betroffenen wachsende Gefahr des Scheiterns der Maßnahme an der feh-
lenden Zustimmung eines einzelnen Eigentümers - als nicht tauglich beurteilt (vgl.
UA S. 28). Da diese Begründung die Entscheidung selbständig trägt, kann dahinste-
hen, ob Revisionszulassungsgründe im Hinblick auf die zusätzliche Begründung,
dass sich die realistische Perspektive einer Einigung mit den Antragstellerinnen nicht
abzeichnete (UA S. 28 ff.), gegeben wären (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juli
1973 - BVerwG 4 B 92.73 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 109 und vom 19. August
1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26; stRspr). Im
Übrigen hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit dem Vortrag der Antragstellerinnen
zu ihrer Bereitschaft, einen städtebaulichen Vertrag zu schließen, detailliert ausein-
ander gesetzt (vgl. UA S. 28 ff.). Dass er die Tatsachen nicht in der von ihnen ge-
wünschten Weise gewürdigt hat, begründet keine Verletzung des Anspruchs auf
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rechtliches Gehör. Das gilt auch, soweit der Verwaltungsgerichtshof entgegen dem
Vortrag der Antragstellerinnen Anhaltspunkte dafür, dass die Gegenseite nicht ernst-
haft verhandlungsbereit gewesen sei, verneint (UA S. 29) und ihnen vorgehalten hat,
sie hätten eine eventuelle Kompromissbereitschaft hinsichtlich des Preises nicht
deutlich gemacht (UA S. 29), und nach eingehender Auseinandersetzung mit dem
Gutachten der Wertermittlung des von ihnen beauftragten Sachverständigen R. nicht
gefolgt ist (UA S. 30 - 32).
2.2 Soweit die Beschwerde geltend macht, das Gericht habe einen wei-
teren Grundstückssachverständigen hinzuziehen müssen, ist ein Aufklärungsmangel
nicht hinreichend bezeichnet. Es fehlt bereits die Darlegung, hinsichtlich welcher tat-
sächlichen Umstände weiterer Aufklärungsbedarf bestanden hätte und aufgrund wel-
cher Umstände sich dem Gericht die Erforderlichkeit der von den Antragstellerinnen
nicht beantragten Sachverhaltsaufklärung hätte aufdrängen müssen (vgl. hierzu
BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 § 159 Satz 1 VwGO
i.V.m. § 100 Abs. 1, 2 ZPO, die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.
Dr. Paetow
Gatz
Dr. Philipp