Urteil des BVerwG vom 06.03.2002

Gemeinde, Kritik, Bebauungsplan, Übergewicht

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BESCHLUSS
BVerwG 4 BN 11.02
VGH 9 N 1902/00
In der Normenkontrollsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. März 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. B e r k e m a n n und Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die
Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
12. November 2001 wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Be-
schwerdeverfahrens.
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Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist unbegründet. Das Vorbringen der Beschwerde
ergibt nicht, dass die geltend gemachten Voraussetzungen des
§ 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO erfüllt sind.
1. Das Normenkontrollgericht erachtet die Voraussetzungen des
§ 1 Abs. 10 BauNVO für gegeben. Die Beschwerde hält es
- verkürzt gesagt - für grundsätzlich klärungsbedürftig, was
im Sinne des § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO unter "überwiegender
Bebauung" zu verstehen ist, und beanstandet eine unzureichende
Begründung des vorinstanzlichen Gerichts.
a) Der von der Beschwerde hervorgehobene Klärungsbedarf be-
steht nicht. Zwar hat das Beschwerdegericht bislang eine Ent-
scheidung zur Auslegung dessen, was als ein "überwiegend be-
bautes Gebiet" im Sinne des § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO zu ver-
stehen ist, nicht getroffen. Das rechtfertigt jedoch noch
nicht die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeu-
tung der Rechtssache. Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung
und Anwendung einer revisiblen Vorschrift enthält gleichzeitig
eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst im Revisionsverfahren
zu klärende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisions-
zulassungsrechtes ist Voraussetzung vielmehr, dass der im
Rechtsstreit vorhandene Problemgehalt aus Gründen der Einheit
des Rechts einschließlich gebotener Rechtsfortentwicklung eine
Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entscheidung ver-
langt. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate
des Bundesverwaltungsgerichts dann nicht der Fall, wenn sich
die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage der vorhandenen
Rechtsprechung oder mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerech-
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ter Gesetzesinterpretation und auf dieser Grundlage ohne wei-
teres beantworten lässt (z.B. BVerwG, Beschluss vom 28. Mai
1997 - BVerwG 4 B 91.97 - Buchholz 407.4 § 5 FStrG Nr. 10 =
NVwZ 1998, 172). So liegt es hier.
Der Begriff des "überwiegend bebauten Gebietes" erlaubt ohne
weiteres eine negative und eine positive Abgrenzung. Diese hat
die Zielsetzung des § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO zugrunde zu le-
gen. Die Vorschrift dient nach ihrem offenkundigen Zweck der
Standortsicherung der aufgrund der nunmehrigen Planung nicht
(mehr) gebietstypischen vorhandenen baulichen oder sonstigen
Anlagen (vgl. Knaup/Stange, BauNVO, 8. Aufl., 1997, § 1
Rn. 119; Fickert/Fieseler, BauNVO, 9. Aufl., 1998, § 1
Rn. 136; Roeser, in: König/Roeser/Stock, BauNVO, 1999, § 1
Rn. 104). Die Festsetzungsmöglichkeit nach § 1 Abs. 10 Satz 1
BauNVO verfolgt in Ausführung der gesetzlichen Vorgabe des § 1
Abs. 5 Satz 2 Nr. 4 BauGB im Wesentlichen das städtebauliche
Anliegen, für eine erhöhte Planungs- und Investitionssicher-
heit zu sorgen und eine Erweiterung bereits vorhandener Nut-
zung zu ermöglichen. Das städtebauliche Anliegen kann nach
Auffassung des Verordnungsgebers dadurch gefördert werden,
dass die Gemeinde durch ihre Planung jene vorhandenen bauli-
chen Anlagen an ihrem Standort planungsrechtlich sichert, die
bei typisierender Betrachtungsweise nunmehr "an sich" unzuläs-
sig sind (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 11. Mai 1999
- BVerwG 4 BN 15.99 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 27 = NVwZ
1999, 1338) und daher zwar kraft passiven Bestandsschutzes
nicht beseitigt, jedoch aufgrund neuer Rechtslage nicht erwei-
tert werden können. Die Gemeinde soll allerdings gehindert
sein, diese Möglichkeit gleichsam wahllos für eine bauliche
Anlage vorzusehen. Aus diesem Grunde wird sie in ihrer plane-
rischen Möglichkeit durch die Voraussetzung begrenzt, dass
sich ihre Planung auf ein "überwiegend bebautes Gebiet" zu be-
ziehen hat. Maßgebend ist mithin eine gesamträumliche Betrach-
tung des beplanten Gebietes. Die sich daraus ergebende Ziel-
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setzung des § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO wird vor allem dann er-
füllt, wenn die individuelle Standortsicherung zugunsten der
Erweiterung, Änderung, Nutzungsänderung oder Erneuerung ein-
zelner baulicher oder sonstiger Anlagen nicht davon abhängig
ist, dass das Plangebiet nicht nur "überwiegend", sondern wei-
tergehend "vorwiegend" bebaut ist. Eine derartige Vorausset-
zung würde die Planungshoheit der Gemeinde zu stark begrenzen.
Ob das Übergewicht der bereits vorhandenen Bebauung sich nach
der Mehrzahl der im Plangebiet belegenen und bebauten Grund-
stücke richtet und ob hierzu ein optischer Eindruck maßgebend
zu sein hat (so Fickert/Fieseler, BauNVO, 9. Aufl., 1998, § 1
Rn. 138), mag zweifelhaft sein. § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO
stellt nicht entscheidend auf die einzelnen Grundstücke ab,
sondern auf einen Gesamtzusammenhang.
Das Normenkontrollgericht hat seiner Entscheidung kein anderes
Verständnis des § 1 Abs. 10 Satz 1 BauNVO zugrunde gelegt. Das
ergeben seine Entscheidungsgründe in ihrer Gesamtheit.
b) Ob ein Gebiet "überwiegend bebaut" ist, ist zugleich eine
Frage tatrichterlicher Feststellungen und damit eine Frage des
Einzelfalles. Die von der Beschwerde hierzu geäußerte Kritik
an der vorinstanzlichen Beurteilung enthält keine durchgrei-
fende Verfahrensrüge im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Die
Beschwerde macht geltend, das Erstgericht habe den Überzeu-
gungsgrundsatz verletzt. Das Vorbringen ist unzulässig, da es
nicht der Darlegungspflicht des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ge-
nügt. Das Vorbringen erschöpft sich mehr oder minder in einer
Behauptung. Damit kann ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1
oder 2 VwGO nicht hinreichend dargetan werden. Das Erstgericht
hat offensichtlich seiner tatrichterlichen Beurteilung die
konkrete Lage der Grundstücke und die im angegriffenen Bebau-
ungsplan, auf den es gemäß § 117 Abs. 3 VwGO Bezug genommen
hat, aufgenommene Bebauung zugrunde gelegt.
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2. Das Berufungsgericht hat es für rechtmäßig angesehen, dass
der angegriffene Bebauungsplan nach Maßgabe des § 1 Abs. 10
Satz 2 BauNVO eine Erweiterung der Geschossfläche auf 100 qm
begrenzt. Das hiergegen gerichtete Beschwerdevorbringen recht-
fertigt ebenfalls keine Zulassung der Revision. Eine Frage von
grundsätzlicher Bedeutung liegt nicht vor. Die Frage, ob und
welche Festsetzungen der Ortsgesetzgeber nach § 1 Abs. 10
Satz 2 BauNVO für angezeigt hält, ist einzelfallbezogen. Das
Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde dient nicht der
Rechtskontrolle des vorinstanzlichen Verfahrens. Darauf zielt
indes das Beschwerdevorbringen. Das gilt auch dann, wenn die
Kritik in abstrahierender Weise formuliert wird. Die Beschwer-
de beanstandet im Kern allein die aus ihrer Sicht nicht sach-
gerechte Abwägung.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die
Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 14 Abs. 3, § 13 Abs. 1
Satz 1, § 73 Abs. 1 GKG.
Paetow Berkemann Rojahn