Urteil des BVerwG vom 26.11.2003

Rechtliches Gehör, Bebauungsplan, Beweisantrag, Anhörung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 89.03
VGH 8 S 630/03
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. November 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a und
Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:
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Der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 15. Juli 2003 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerde-
verfahren auf 70 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat Erfolg. Der angefochte-
ne Beschluss leidet an Verfahrensmängeln, auf denen er beruhen kann. Die Klägerin
beanstandet zu Recht einen Verstoß gegen § 130 a VwGO sowie eine Verkürzung
des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Eine Entscheidung über die Berufung ohne mündliche Verhandlung setzt nach
§ 130 a Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO voraus, dass die Beteiligten vorher
gehört werden. Das Beschlussverfahren nach § 130 a VwGO hat im System des
verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes Ausnahmecharakter. Gesetzlicher Regelfall
und Kernstück auch des Berufungsverfahrens ist die mündliche Verhandlung (§ 125
Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 1 VwGO). Hiervon dispensiert § 130 a VwGO. Das
ist nur hinnehmbar, wenn die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung kompensa-
torische Wirkungen entfaltet. Um diesen Zweck erfüllen zu können, muss sie stren-
gen Anforderungen genügen. Die Beteiligten dürfen nicht im Unklaren darüber ge-
lassen werden, wie das Gericht zu entscheiden beabsichtigt. Sie müssen der Anhö-
rungsmitteilung entnehmen können, ob die Berufung in vollem Umfang oder teilweise
als begründet oder unbegründet angesehen wird. Von diesem Erfordernis kann le-
diglich dann abgesehen werden, wenn sonstige Umstände eindeutige Rückschlüsse
darauf zulassen, wie das Gericht die Erfolgsaussichten einschätzt (vgl. BVerwG, Ur-
teil vom 21. März 2000 - BVerwG 9 C 39.99 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 49).
Das Anhörungsschreiben vom 16. Juni 2003 wird diesen Anforderungen nicht ge-
recht. Es bietet keine Aufschlüsse über den voraussichtlichen Prozessausgang. Ein
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entsprechender Hinweis war nicht entbehrlich. Das vorausgegangene Verfahren bot
keine Anhaltspunkte dafür, dass die Berufung der Beklagten Erfolg haben werde. Die
Berufungszulassung beruhte ausschließlich auf der Erwägung, dass der Mangel, der
dem Bebauungsplan wegen des vom Verwaltungsgericht festgestellten Verstoßes
gegen § 3 Abs. 2 BauGB anhaftete, inzwischen behoben worden war. Zwischen den
Beteiligten wurde im Berufungsverfahren indes darüber gestritten, ob der Plan an
weiteren Fehlern leide. Die Klägerin hatte keinen Anlass, die Anhörungsmitteilung
vom 16. Juni 2003 als Signal dafür zu verstehen, durch ergänzendes Vorbringen der
drohenden Klageabweisung vorzubeugen.
Der hierin liegende Verstoß gegen § 130 a VwGO ist nicht deshalb irrelevant, weil die
Klägerin mit Schriftsatz vom 30. Juni 2003 in Anknüpfung an ihre Ausführungen in
der Berufungserwiderung vom 12. Mai 2003 nochmals Stellung genommen hat. Bei
dieser Gelegenheit wiederholte sie nicht lediglich ihr früheres Vorbringen (vgl. hierzu
BVerwG, Beschluss vom 11. Oktober 1996 - BVerwG 6 B 32.96 - Buchholz 421.0
Prüfungswesen Nr. 374). Sie vertiefte ihren Vortrag; der Schriftsatz enthielt überdies
auch zwei unbedingt gestellte Beweisanträge. Das Berufungsgericht hat es
versäumt, sich mit diesen Anträgen auseinander zu setzen.
Darin liegt zwar kein Verstoß gegen § 86 Abs. 2 VwGO. Stellt ein Beteiligter nach
Zugang der Anhörungsmitteilung Beweisanträge, so ist diese auf das Verfahren mit
mündlicher Verhandlung zugeschnittene Vorschrift nicht anwendbar (vgl. BVerwG,
Beschlüsse vom 24. November 1994 - BVerwG 8 B 176.94 - und vom 18. Juni 1996
- BVerwG 9 B 140.96 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nrn. 12 und 16). Dies entbindet
das Gericht aber nicht von der Verpflichtung, rechtliches Gehör zu gewähren. Das
geschieht in der Regel dadurch, dass es den Beteiligten durch eine erneute Anhö-
rungsmitteilung i.S. des § 130 a i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die unverän-
dert beabsichtigte Verfahrensweise hinweist und auf diesem Wege zum Ausdruck
bringt, dass es dem Beweisantrag nicht nachgehen werde (vgl. BVerwG, Beschluss
vom 3. Februar 1993 - BVerwG 11 B 12.92 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 10). Durch dieses Erfordernis wird ebenso wie durch § 86 Abs. 2 VwGO sicher-
gestellt, dass sich das Gericht vor der Sachentscheidung über die Entscheidungser-
heblichkeit des Beweisantrages schlüssig wird. Gleichzeitig wird dem Beteiligten,
dem durch das erneute Anhörungsschreiben vor Augen geführt wird, dass das Ge-
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richt eine Beweiserhebung nicht für erforderlich hält, die Möglichkeit eröffnet, sich auf
diese prozessuale Lage einzustellen und seinen Sachvortrag zu ergänzen oder zu
erweitern (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 28. August 1995 - BVerwG 3 B 7.95 -
Buchholz 418.00 Ärzte Nr. 91 - und vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 -
Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 46). Eine weitere Anhörung erübrigt sich nur dann,
wenn der Beweisantrag unsubstantiiert oder aus sonstigen Gründen rechtlich uner-
heblich ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Juni 1996 - BVerwG 9 B 140.96 - und
vom 11. Oktober 1996 - BVerwG 6 B 32.96 - a.a.O.). Auch in diesem Falle aber darf
das Gericht den Antrag nicht gänzlich außer Acht lassen. Vielmehr muss es im Rah-
men der Sachentscheidung darlegen, aus welchen prozessrechtlichen Erwägungen
es sich erübrigte, ihm weiter nachzugehen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. April
1999 - BVerwG 8 B 150.98 - und vom 27. Dezember 2001 - BVerwG 1 B 361.01 -
Buchholz 310 § 130 a VwGO Nrn. 37 und 56).
Dieser Verpflichtung ist das Berufungsgericht nicht nachgekommen. Die Beweisan-
träge der Klägerin werden in dem angefochtenen Beschluss nicht erwähnt. Diese
Unterlassung lässt sich nicht mit der Begründung rechtfertigen, sie seien so un-
substantiiert oder für die Entscheidung so offensichtlich unerheblich gewesen, dass
sie hätten unberücksichtigt bleiben dürfen. Der unter Beweis gestellten Tatsache,
dass es Einzelhandelsbetriebe, die nur der Versorgung der Beschäftigten in einem
bestimmten Gewerbegebiet mit Lebensmitteln und Drogeriewaren zum Ge- und
Verbrauch während der Tätigkeit im Gewerbegebiet dienen, in der wirtschaftlichen
und sozialen Realität nicht gibt, hat das Berufungsgericht freilich insofern Rechnung
getragen, als es zugunsten der Klägerin unterstellt hat, dass es für die textliche Fest-
setzung Ziffer 2.4 an einer Rechtsgrundlage fehle. Dagegen ist es bei der Erörterung
der Frage, ob ein etwaiger Wegfall der Ziffer 2.4 den in Ziffer 1 der textlichen Fest-
setzungen vorgesehenen Einzelhandelsausschluss unberührt lässt, dem Vorbringen
der Klägerin nicht gerecht geworden. Für den Ausschluss von Einzelhandelsbetrie-
ben führt es die planerische Absicht der Beklagten ins Feld, ein auf "höherwertige
Nutzungen" beschränktes Gewerbegebiet zu schaffen, das neben dem Dienstleis-
tungssektor solchen produzierenden Betrieben zur Verfügung steht, die, wie etwa die
Anfertigung von Mustern oder speziellen Modulen im IT-Bereich, der Nanotechnik
und der Biotechnologie, hiermit vereinbar sind. Die Klägerin macht demgegenüber
geltend, dass sich das Planungsziel, das Gebiet vornehmlich der Büronutzung und
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der Erbringung von Dienstleistungen vorzubehalten, mit den durch den Bebauungs-
plan rechtlich eröffneten Nutzungsmöglichkeiten nicht erreichen lässt. Sie gibt unter
Hinweis darauf, dass das Spektrum der zulassungsfähigen Betriebe, das u.a. außer
Vergnügungsstätten alle Gewerbebetriebe umfasst, die i.S. von § 8 Abs. 2 Nr. 1
BauNVO allgemein zulässig sind, zu bedenken, dass der Plan weithin Raum auch für
die Verwirklichung "minderwertiger" Nutzungen lässt. Der Bemerkung des Beru-
fungsgerichts, dass es die Beklagte in der Hand habe, "mit dem Instrumentarium des
§ 15 BauNVO mit dem Gebietscharakter nicht vereinbare Ansiedlungen zu verhin-
dern", setzt die Klägerin in Anknüpfung an ihre im Schriftsatz vom 30. Juni 2003 un-
ter Beweis gestellte Behauptung, der Bebauungsplan sei kein geeignetes Mittel für
die Abwehr "minderwertiger" Nutzungen, die Feststellung entgegen, dass in dem
Gebiet außer Autohäusern und Tankstellen sonstige Gewerbebetriebe vorhanden
sind, die nicht in dem vom Berufungsgericht verstandenen Sinne als "hochwertige"
Nutzungen angesehen werden können. Sie werte die Ziffer 2.4 der textlichen Fest-
setzungen als Beleg dafür, dass das Plangebiet nicht von jeglicher Einzelhandels-
nutzung hat freigehalten werden sollen, darüber hinaus aber auch als Indiz dafür,
dass die Beklagte sich der Einzelhandelsthematik in anderer Weise angenommen
hätte, wenn ihr bewusst gewesen wäre, dass sich der von ihr eingeschlagene Weg
als nicht gangbar erweist.
Auf der Grundlage des dieser Problematik gewidmeten Beweisantrages im Schrift-
satz vom 30. Juni 2003 hatte das Berufungsgericht Anlass, den Sachverhalt unter
dem von der Klägerin angesprochenen Blickwinkel näher zu prüfen. Die angefochte-
ne Entscheidung, die insoweit jegliche Auseinandersetzung vermissen lässt, genügt
in diesem Punkt nicht dem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Dieser
Verstoß stellt einen absoluten Revisionsgrund i.S. des § 138 Nr. 3 VwGO dar (vgl.
BVerwG, Beschlüsse vom 17. November 1994 - BVerwG 1 B 42.94 - Buchholz 310
§ 130 a VwGO Nr. 11 und vom 19. April 1999 - BVerwG 8 B 150.98 - a.a.O.). Da es
aus diesem Grunde nicht darauf ankommt, ob sich die Entscheidung des Berufungs-
gerichts sonst als richtig erweist, macht der Senat im Interesse der Verfahrensbe-
schleunigung nach § 133 Abs. 6 VwGO von der Möglichkeit Gebrauch, den ange-
fochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen.
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Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie
§ 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Dr. Paetow Halama Prof. Dr. Rojahn