Urteil des BVerwG vom 17.03.2004
Rechtliches Gehör, Wohnung, Stall, Weiler
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 78.03
VGH 8 S 2790/02
In der Verwaltungsstreitsache
- 2 -
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. März 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. L e m m e l und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 10. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 7 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf alle drei Zulassungstatbestände des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Das Berufungsurteil leidet nicht an den geltend gemachten Verfahrensmängeln
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
a) Die Beschwerde wirft dem Berufungsgericht vor, es sei von einem aktenwidrigen
Sachverhalt ausgegangen und habe deshalb gegen den Überzeugungsgrundsatz
des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO sowie gegen die Pflicht, rechtliches Gehör zu gewäh-
ren (§ 108 Abs. 2 VwGO), verstoßen. Dieser Vorwurf ist nicht berechtigt.
Das Vorbringen der Beschwerde knüpft an folgende Erwägungen im Berufungsurteil
an (Urteilsabdruck S. 10): Der zur Genehmigung gestellte (teilweise) Umbau des
vorhandenen Stall- und Scheunengebäudes zu einer Wohnung lasse nicht die Ver-
festigung oder Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten (§ 35 Abs. 3 Nr. 7
BauGB). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom
18. Mai 2001 - BVerwG 4 C 13.00 - und Beschluss vom 2. September 1999
- BVerwG 4 B 27.99 - Buchholz 406.11 § 35 Nr. 347 bzw. 340) sei dieser öffentliche
Belang regelmäßig dann beeinträchtigt, wenn die Splittersiedlung um die Hälfte ihres
- 3 -
Bestandes vergrößert werde; hierbei sei auch zu berücksichtigen, ob das betreffende
Vorhaben auf Grund seiner Vorbildwirkung einen Berufungsfall mit der Folge darstel-
le, dass weitere vergleichbare Vorhaben nur noch schwer zu verhindern seien. Im
vorliegenden Fall sei entgegen der Befürchtung der Beklagten eine solche Situation
nicht gegeben. Denn die Klägerin wohne schon bisher auf dem Anwesen und wolle
keine zusätzliche Wohnung schaffen, sondern ihre bisherige Wohnsituation verbes-
sern.
Aus diesen Ausführungen schließt die Beschwerde, das Berufungsgericht habe ak-
tenwidrig übersehen, dass die Klägerin mit ihrem Bauvorhaben neben der vorhande-
nen Wohnung in dem Wohnhaus eine zweite selbstständige Wohnung in dem Stall-
und Scheunengebäude errichten wolle. Der Beschwerde ist zwar einzuräumen, dass
die fraglichen Formulierungen im Berufungsurteil der wünschenswerten Präzision
entbehren. Indes wird aus dem Gesamtzusammenhang des Urteiltextes deutlich,
dass das Berufungsgericht keineswegs übersehen hat, dass das Bauvorhaben eine
eigenständige Wohnung in einem von dem Wohnhaus getrennten Gebäude betrifft.
Das macht nicht nur die Darstellung des Sachverhalts im Tatbestand des Urteils klar,
sondern belegen auch die Ausführungen auf Seite 10 des Urteilsabdrucks, in denen
von der Nutzung des "vorhandenen Stall- und Scheunengebäudes zu Wohnzwe-
cken" die Rede ist. Was das Berufungsgericht mit seiner Wendung, die Klägerin wol-
le "keine zusätzliche Wohnung schaffen", offenbar gemeint hat, ist Folgendes: Das
Bauvorhaben der Klägerin sei von Besonderheiten geprägt, die es ausschlössen,
dass es im Sinne der genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
anderen vergleichbaren Bauwünschen als Berufungsfall dienen könne. Diese Be-
sonderheiten sieht das Berufungsgericht darin, dass die Klägerin in dem Stall- und
Scheunengebäude keine Wohnung für eine "Fremdnutzung" schaffen wolle, sondern
die Wohnung zur Verbesserung ihrer eigenen Wohnsituation nutzen wolle. Ob diese
Argumentation in der Sache tragfähig ist, bedarf im Rahmen der erhobenen Verfah-
rensrüge keiner Beurteilung; eine aktenwidrige Annahme von Tatsachen liegt ihr je-
denfalls nicht zugrunde.
Ebenso wenig aktenwidrig ist die weitere Feststellung im Berufungsurteil (Urteilsab-
druck S. 11), das mit der Baugenehmigung vom 19. Mai 1999 der Klägerin geneh-
migte Vorhaben sei "fast identisch" mit dem Vorhaben, das Gegenstand des Urteils
- 4 -
ist. Das Berufungsurteil stellt bei dieser Würdigung ersichtlich auf das Kriterium des
Bauvolumens ab, indem es darlegt, dass das jetzt zur Genehmigung gestellte Vor-
haben lediglich noch zusätzlich den inzwischen abgebrochenen Werkstattanbau ein-
schließe. Dass das neue Vorhaben in stärkerem Maße als das bereits genehmigte
Vorhaben mit dem Abbruch vorhandener Wände und Mauern verbunden war, war
dem Berufungsgericht (vgl. Urteilsabdruck S. 3/4) durchaus bekannt. Ob es unter
diesen Umständen zu der Feststellung kommen durfte, es handele sich um ein fast i-
dentisches Vorhaben, ist eine Frage der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung
des Sachverhalts, ohne dass damit die Zugrundelegung aktenwidriger Tatsachen
verbunden wäre.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass die gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO erhobene Divergenzrüge (vgl. Beschwerdebegründung S. 4/5) nicht zur Zu-
lassung der Revision führen kann. Das Berufungsurteil befasst sich an der fraglichen
Stelle nicht mit dem Rechtsproblem des Bestandsschutzes eines Altbestandes im
Sinne der Urteile, die die Beschwerde anführt.
b) Zu Unrecht sieht die Beschwerde in dem Berufungsurteil eine Überraschungsent-
scheidung, die unter Verletzung des Gebotes, rechtliches Gehör zu gewähren, er-
gangen ist. Sie trägt hierzu vor, auf Grund von Äußerungen des Vorsitzenden des
Berufungssenats im Rahmen von Vergleichsgesprächen hätten die Beklagte und die
Beigeladene nicht damit rechnen müssen, dass ohne weitere Erörterung eine Ent-
scheidung ergehen werde, die das Vorhaben der Klägerin nach § 35 Abs. 2 BauGB
für zulässig erachte. Die Gehörsrüge ist schon nicht ordnungsgemäß dargelegt
(§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), weil die Beschwerde nicht erläutert, welches weitere
entscheidungserhebliche Vorbringen sie bei Gewährung des vermissten Gehörs dem
Gericht unterbreitet hätte. Davon abgesehen war die Zulässigkeit des Vorhabens der
Klägerin nach § 35 Abs. 2 und 3 BauGB der maßgebende Streitstoff, mit dem sich
die Parteien bereits im Behördenverfahren sowie in den beiden gerichtlichen Tatsa-
cheninstanzen intensiv befasst hatten. Unter diesen Umständen musste die Beigela-
dene auch mit der Möglichkeit rechnen, dass sich der Standpunkt der Klägerin durch-
setzen würde.
- 5 -
2. Schließlich hat die Rechtssache nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO), die ihr die Beigeladene beimisst.
Die Beschwerde entnimmt dem Berufungsurteil folgenden "Rechtsgrundsatz": Ein
Vorhaben darf als potentieller "Berufungsfall" nur dann nach § 35 Abs. 3 Nr. 7 i.V.m.
§ 35 Abs. 2 BauGB verhindert werden, wenn es der Baurechtsbehörde darum geht,
überhaupt die Herstellung neuen Wohnraums auf einem bestimmten Anwesen zu
verhindern. Die Beschwerde formuliert im Anschluss daran als klärungsbedürftig die
Frage, "ob sich eine solche rechtliche Abhängigkeit zwischen § 35 Abs. 4 BauGB und
§ 35 Abs. 2 BauGB herstellen lässt". Rechtsfragen, die in einem Revisionsverfahren
geklärt werden könnten, ergeben sich indes daraus nicht. Die Beschwerde beachtet
nicht hinreichend, dass das Berufungsgericht überhaupt keine Rechtsgrundsätze
aufgestellt hat, sondern nur begründet, weshalb die Zulassung des Vorhabens der
Klägerin wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht dazu führe, dass
auch die Umnutzung anderer Nebengebäude des Weilers nicht mehr verhindert
werden könnte.
Das Berufungsgericht geht davon aus, dass der Bau der Wohnung der Klägerin für
sich allein die Verfestigung oder Erweiterung einer Splittersiedlung im Sinne von § 35
Abs. 3 Nr. 7 BauGB nicht befürchten lasse, weil sich eine einzelne neue Wohneinheit
dem vorhandenen Bestand im Weiler unterordne. Der genannte öffentliche Belang
würde erst dann beeinträchtigt, wenn als Folge der Zulassung dieser Wohnung die
Umnutzung zahlreicher weiterer Nebengebäude im Weiler nicht verhindert werden
könnte. Ob dies der Fall ist, hängt nach allgemeiner Auffassung, die das Beru-
fungsgericht teilt, davon ab, ob sich der "Berufungsfall" von den möglichen Bauwün-
schen anderer Bauherrn durch beachtliche Besonderheiten unterscheiden lässt oder
nicht. Nur auf diese Frage bezieht sich die von der Beschwerde beanstandete Prü-
fung des Berufungsgerichts. Wie bereits ausgeführt, sieht es eine Besonderheit zu-
nächst darin, dass die Klägerin keine Wohnung für eine "Fremdnutzung" schaffen,
sondern nur ihre eigene Wohnsituation verbessern wolle. Mit den anschließenden
Ausführungen nennt das Berufungsgericht als weiteres Unterscheidungskriterium
den Umstand, dass für ein fast identisches Vorhaben der Klägerin bereits eine Bau-
genehmigung nach § 35 Abs. 4 BauGB erteilt worden sei. Dies ist so zu verstehen,
dass sich das Vorhaben der Klägerin, bei dem die Voraussetzungen des § 35 Abs. 4
- 6 -
Nr. 1 BauGB erst durch Überschreitung der ihr erteilten Baugenehmigung entfallen
seien, auch von solchen Bauwünschen auf Umnutzung von Nebengebäuden des
Weilers unterscheide, bei denen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 4 BauGB von
vornherein nicht in Betracht kämen. Beide Kriterien sind grundsätzlich zur Differen-
zierung geeignet. Ob mit ihrer Hilfe auch die Zulassung weiterer Vorhaben verhindert
werden kann, ist eine Wertungsfrage, die vom Tatsachengericht zu beantworten ist.
Im Revisionsverfahren klärungsfähige Fragen stellen sich nicht.
Dies gilt auch für die in der Beschwerde aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis
von § 35 Abs. 4 und § 35 Abs. 2 BauGB. Die Rechtsauffassung des Berufungsge-
richts stellt keineswegs in Frage, dass - wie die Beschwerde formuliert - mit dem
Wegfall der Erleichterungsvoraussetzungen des § 35 Abs. 4 BauGB sein Anwen-
dungsbereich endet und § 35 Abs. 2 BauGB das Prüfprogramm vorgibt. Richtig ist
nur, dass innerhalb des Prüfprogramms des § 35 Abs. 2 BauGB die Problematik der
Berufungsfälle auftauchen kann und dass in diesem Zusammenhang neben zahlrei-
chen anderen Unterscheidungskriterien auch eine früher gegebene Genehmigungs-
lage nach § 35 Abs. 4 BauGB eine Rolle spielen kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Den Wert des Streitge-
genstandes setzt der Senat gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1
Satz 1 GKG fest.
Dr. Paetow
Dr. Lemmel
Dr. Jannasch