Urteil des BVerwG vom 21.10.2004

Ermessen, Abgrenzung, Beweiswert, Abrede

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 77.04
VGH 2 B 02.1239
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Oktober 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht G a t z und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Re-
vision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs
vom 29. Juni 2004 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit
Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen,
die diese selbst trägt, zu je einem Drittel.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 25 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde
hat keinen Erfolg. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Revisi-
on wegen der behaupteten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache, wegen ei-
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ner Abweichung des angefochtenen Urteils von einer höchstrichterlichen Entschei-
dung oder wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen ist.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Kläger bei-
messen.
Die Frage, welche Anforderungen vor dem Hintergrund des Art. 14 Abs. 1 GG an
öffentliche Belange zur Rechtfertigung einer Abweichung von Abstandsvorschriften
zu stellen sind, insbesondere ob die konkret angeführten öffentlichen Belange
rechtssatzmäßig verankert sein müssen, knüpft an Art. 70 Abs. 1 BayBO an, wonach
die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen u.a.
zulassen kann, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung der
nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind. Der Sache
nach rügt die Beschwerde, dass das Berufungsgericht bei der Anwendung des
Art. 70 Abs. 1 BayBO die Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 GG verkannt hat. Damit
lässt sich die Zulassung der Grundsatzrevision nicht erreichen. Im Verfahren der
Nichtzulassungsbeschwerde ist es nicht damit getan aufzuzeigen, dass die Ausle-
gung und Anwendung einer Vorschrift des als solchen nicht revisiblen Landesrechts
mit einer Regelung des Bundesrechts (einschließlich des Bundes-Verfassungsrechts)
nicht im Einklang stehen soll. Vielmehr muss dargelegt werden, dass der
bundesrechtliche Maßstab selbst einen die Zulassung der Revision rechtfertigenden
Klärungsbedarf aufweist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Dezember 1994
- BVerwG 4 B 114.94 - NVwZ 1995, 700 <702>). Diesen Anforderungen wird die Be-
schwerde nicht gerecht. Im Übrigen ist nicht zweifelhaft, dass die öffentlichen Belan-
ge, die für eine Befreiung von den bauaufsichtlichen Anforderungen im Allgemeinen
und den Abstandsvorschriften im Besonderen streiten können, nicht in einem
Rechtssatz festgeschrieben sein müssen. Die Regelung, die die Beschwerde im
Hinblick auf den Gesetzesvorbehalt in Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG vermisst, ist Art. 70
Abs. 1 BayBO selbst.
2. Die Revision ist auch nicht wegen der behaupteten Abweichung des angefochte-
nen Urteils von den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. De-
zember 1990 - BVerwG 4 C 40.87 - (BRS 50 Nr. 72) und vom 18. Juni 1997
- BVerwG 4 B 238.96 - (BRS 59 Nr. 78) zuzulassen. Der Tatbestand des § 132
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Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist nur erfüllt, wenn die Vorinstanz in Anwendung derselben
Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragenden Rechtssatz einem in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechts-
satz widerspricht (stRspr vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG
6 B 35.95 - NVwZ-RR 1996, 712). Das ist hier nicht der Fall.
Nach der von der Beschwerde zitierten Rechtsprechung des Senats ist für die
Existenz eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils i.S. des § 34 Abs. 1 BauGB
ausschlaggebend, inwieweit die aufeinander folgende Bebauung trotz etwa vorhan-
dener Baulücken nach der Verkehrsauffassung den Eindruck der Geschlossenheit
und Zusammengehörigkeit vermittelt und die zur Bebauung vorgesehene Fläche
(noch) diesem Zusammenhang angehört. Zu berücksichtigen sind bei der bewerten-
den Beurteilung nur äußerlich erkennbare Umstände, d.h. mit dem Auge wahrnehm-
bare Gegebenheiten der vorhandenen Bebauung und der übrigen Geländeverhält-
nisse. Das Berufungsurteil enthält weder ausdrücklich noch stillschweigend einen
anders lautenden Rechtssatz. Es äußert sich zu dem Tatbestand des Bebauungszu-
sammenhangs überhaupt nicht. Die inkriminierte Aussage, die beiden bereits vor-
handenen Sternhochhäuser als Fremdkörper von der den Umgebungsrahmen bil-
denden Bebauung auszuklammern, hieße, die planerisch beabsichtigte und im We-
sentlichen bereits verwirklichte räumliche Komposition aus den verschiedenen Bau-
strukturen des Siedlungsgeländes zu ignorieren, ist der Frage zugeordnet, ob sich
das Vorhaben der Beigeladenen nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bau-
weise und der überbauten Grundstücksfläche in die Eigenart seiner näheren Umge-
bung einfügt. Mit diesen Tatbestandsmerkmalen des § 34 Abs. 1 BauGB hat die vom
Senat entwickelte Definition des Begriffs des im Zusammenhang bebauten Ortsteils,
die für die Abgrenzung des baurechtlichen Innenbereichs vom Außenbereich benötigt
wird, nichts zu tun.
3. Die Zulassung der Revision ist schließlich nicht wegen eines Verfahrensmangels
geboten. Es ist nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht den Antrag der
Kläger auf Durchführung einer Ortsbesichtigung abgelehnt hat.
Es ist ein allgemeiner Grundsatz, dass das Gericht Umfang und Art der Tatsachen-
ermittlung nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (vgl. BVerwG, Urteil vom
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14. November 1991 - BVerwG 4 C 1.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 236).
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist es ermessensfehlerfrei, von der
Durchführung eines Ortstermins abzusehen, wenn und soweit ausreichendes Kar-
tenmaterial oder Lichtbilder vorhanden sind (vgl. Urteil vom 14. November 1991
- BVerwG 4 C 1.91 - a.a.O. m.w.N.; Urteil vom 4. Juni 1996 - BVerwG 4 C 15.95 -
NVwZ-RR 1997, 271 <273>). Es begegnet deshalb keinen Bedenken, dass das Be-
rufungsgericht den Antrag der Kläger auf Einnahme des Augenscheins abgelehnt
hat, weil das bei den Akten befindliche Karten-, Licht- und Luftbildmaterial, dessen
Beweiswert auch die Beschwerde nicht in Abrede stellt, einschließlich der Untersu-
chung der durch das Hochhaus verursachten Verschattung der Umgebung ausrei-
chend sei, um die Frage des Einfügens des Vorhabens in die Eigenart der näheren
Umgebung und eine etwaige Verletzung des Rücksichtnahmegebots zu Lasten der
Kläger zu beurteilen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1
ZPO und die Streitwertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1
GKG n.F.
Dr. Paetow Gatz Dr. Jannasch