Urteil des BVerwG vom 11.06.2010

Überschreitung, Begriff, Meinung, Wahrscheinlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 75.09
OVG 8 A 11057/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Juni 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
Rheinland-Pfalz vom 2. September 2009 wird zurückge-
wiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 24 491,25 €
festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO (Divergenz) und
§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (grundsätzliche Bedeutung) gestützte Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde meint, das Oberverwaltungsgericht sei von der Entschei-
dung des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2007 - BVerwG 4 C
7.07 - (BVerwGE 129, 307) abgewichen. Während das Bundesverwaltungsge-
richt schädliche Auswirkungen auf Versorgungsbereiche im Sinne von § 34
Abs. 3 BauGB erst bejahe, wenn ein Vorhaben deren Funktionsfähigkeit so
nachhaltig störe, dass sie ihren Versorgungsauftrag generell oder hinsichtlich
einzelner Branchen nicht mehr substantiell wahrnehmen können, setze das
Oberverwaltungsgericht eine erheblich niedrigere Schwelle an und lasse eine
Schwächung der Versorgungssituation ausreichen.
Dieses Vorbringen lässt eine Divergenz nicht erkennen. Das Oberverwaltungs-
gericht hat bei seiner Auslegung des Begriffs der „schädlichen Auswirkungen“
ausdrücklich auf die genannte Entscheidung Bezug genommen und sich auf
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den von der Beschwerde zitierten Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts
gestützt. Eine fehlerhafte Anwendung dieses Rechtssatzes könnte eine Diver-
genz nicht begründen (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
NJW 1997, 3328). Einen ihm widersprechenden Rechtssatz hat das Oberver-
waltungsgericht hierbei nicht aufgestellt. Das ist schon deswegen ausgeschlos-
sen, weil das Bundesverwaltungsgericht in der Entscheidung vom 11. Oktober
2007 den Begriff der „schädlichen Auswirkungen“ nicht abschließend definiert,
sondern durch Verwendung des Wortes „jedenfalls“ offengelassen hat, ob eine
niedrigere Schädlichkeitsschwelle als die durch den Rechtssatz bezeichnete in
Betracht kommt. Unabhängig davon geht das Oberverwaltungsgericht entgegen
der Auffassung der Beschwerde nicht davon aus, dass bereits jede „Schwä-
chung“ vorhandener Lebensmittelmärkte im zentralen Versorgungsbereich den
Tatbestand der „schädlichen Auswirkungen“ erfüllt. Vielmehr trifft diese Ent-
wicklung nach Ansicht der Vorinstanz auf eine bereits „eher eingeschränkte
Versorgungssituation mit Lebensmitteln“ und bezieht sich vor allem auf einen
Lebensmittelmarkt, dem für den zentralen Versorgungsbereich in quantitativer
und qualitativer Hinsicht eine besondere Versorgungsfunktion (UA S. 14) und
im nördlichen Teil des Gebietes sogar eine Einzelstellung zukomme (UA S. 16).
Die Kritik der Beschwerde an den zugrunde liegenden Annahmen des Ober-
verwaltungsgerichts betrifft Tatsachenfragen, die mangels durchgreifender Ver-
fahrensrüge der revisionsgerichtlichen Klärung entzogen sind und deswegen
die Zulassung der Revision nicht begründen können.
2. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung kommt
der Rechtssache nicht zu.
a) Die Frage
ob bereits eine „Verschlechterung der Versorgungssituati-
on“ die Annahme von schädlichen Auswirkungen i.S.v.
§ 34 Abs. 3 BauGB rechtfertigen kann, selbst wenn nicht
zu befürchten ist, dass das Einzelhandelsvorhaben die
Funktionsfähigkeit des zentralen Versorgungsbereiches so
nachhaltig stört, dass dieser seinen Versorgungsauftrag
generell oder hinsichtlich einzelner Branchen nicht mehr
wahrnehmen kann,
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würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Das Oberverwaltungsge-
richt hat weder - wie unter 1. ausgeführt - eine Verschlechterung der Versor-
gungssituation ausreichen lassen noch festgestellt, dass die weiteren in der
Frage genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
b) Auch die auf die Anwendbarkeit des § 11 Abs. 3 Satz 3 BauNVO abzielende,
in der Rechtsprechung des Senats bislang offengebliebene Frage,
ob eine Überschreitung von 1 200 m² Geschossfläche als
Indiz dafür gewertet werden kann, dass schädliche Aus-
wirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche zu erwarten
sind,
wäre in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Das Oberver-
waltungsgericht hat nicht schon jede Überschreitung als Indiz angesehen, son-
dern eine „deutliche“ Überschreitung als „weiteren“ Beleg für die Schädlichkeit
des Vorhabens gewertet (UA S. 21), der das bereits aus dem Verkaufsflächen-
vergleich gewonnene Bild lediglich „bestätige“. Die Klärungsbedürftigkeit einer
hierauf eingeengten Frage legt die Beschwerde entgegen § 133 Abs. 3 Abs. 3
VwGO nicht dar, wenn sie lediglich darauf hinweist, die Auffassung des Ober-
verwaltungsgerichts habe zur Konsequenz, dass einem Vorhaben schon bei
einer geringfügigen Überschreitung der Geschossfläche von 1 200 m²
aufgrund
umsatzneutraler Erweiterungen der Verkaufsfläche (Pfandraum) oder des Sozi-
alraums der Mitarbeiter § 34 Abs. 3 BauGB entgegenstehe.
c) Grundsätzliche Bedeutung misst die Beschwerde der Rechtssache auch
deswegen bei, weil sie nach ihrer Ansicht die Möglichkeit eröffnet, für die Fälle
der Erweiterung bestehender Einzelhandelsbetriebe zu klären, welche Maßstä-
be bei den gebotenen Verkaufsflächenvergleichsbetrachtungen heranzuziehen
sind. Eine solche Klärung würde sich in einem Revisionsverfahren jedoch nicht
als entscheidungserheblich erweisen, weil alle vom Oberverwaltungsgericht
vorgenommenen, von der Beschwerde in tatsächlicher Hinsicht nicht angegrif-
fenen Vergleichsbetrachtungen zum - selben - Ergebnis geführt haben, dass die
beabsichtigte Erweiterung nicht geringfügig ist (UA S. 20).
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d) Darüber hinaus will die Beschwerde geklärt wissen, wie im Falle einer Ver-
kaufsflächenerweiterung Attraktivitätssteigerungen durch Sortimentsverände-
rungen zu bewerten sind. Sie meint der obergerichtlichen Rechtsprechung un-
terschiedliche Auffassungen zu der Frage entnehmen zu können, ob insoweit
nur auf beabsichtigte oder auch auf „potentiell mögliche“ Sortimentserweiterun-
gen abzustellen ist. Auch damit legt die Beschwerde die grundsätzliche Bedeu-
tung der Rechtssache nicht dar. Es liegt auf der Hand und bedarf nicht erst der
Klärung in einem Revisionsverfahren, dass sich die Prognose, ob im genannten
Fall attraktivitätssteigernde Sortimentsveränderungen zu erwarten sind, nicht
allein auf die mit der Erweiterung beabsichtigten Veränderungen beschränken
kann, sondern insoweit alle mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eintretenden
Entwicklungen einzubeziehen hat. Die Frage, ob solche Umstände vorliegen,
hat das Tatsachengericht zu beantworten; sie ist einer Klärung im Revisionsver-
fahren nicht zugänglich.
e) Schließlich begründet auch die von der Beschwerde aufgeworfene Frage,
ob mit dem Begriff „Arten der nach § 34 Abs. 1 und 2
BauGB zulässigen baulichen Anlagen“ im Sinne von § 9
Abs. 2a BauGB nur die ausdrücklich in den Baugebietska-
talogen der BauNVO aufgelisteten Nutzungsarten (Einzel-
handel) gemeint sind oder auch Unterarten (Einzelhandel
mit bestimmten Sortimenten) hiervon, wie sie nach § 1
Abs. 9 BauNVO festsetzungsfähig sind,
nicht die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, weil es zu ihrer Beant-
wortung nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf. Wie das
Oberverwaltungsgericht (UA S. 10) zutreffend ausführt, entspricht es nicht nur
dem Willen des Gesetzgebers (BTDrucks 16/2496 S. 11), sondern auch der
wohl einhelligen Meinung in der Literatur, dass sich der Inhalt der Festsetzun-
gen von Nutzungsarten an Abs. 5 und Abs. 9 des § 1 BauNVO anlehnen kön-
nen soll. Gesichtspunkte, die diese Auffassung in Frage stellen und einen revi-
sionsgerichtlichen Klärungsbedarf begründen könnten, zeigt die Beschwerde
nicht auf.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfest-
setzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Philipp
Petz
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