Urteil des BVerwG vom 08.03.2006

Aus Wichtigen Gründen, Raumordnung, Wichtiger Grund, Hersteller

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 75.05
OVG 1 LC 107/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. März 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a ,
Dr. J a n n a s c h und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:
Die Beschwerden der Klägerin und der Beigeladenen zu 1
gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Nie-
dersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. September
2005 werden zurückgewiesen.
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Die Klägerin und die Beigeladene zu 1 tragen die Kosten des
Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte. Die außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen zu 2 bis 4 sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 100 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO und - im Fall der Beige-
ladenen zu 1 - auf § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gestützten Beschwerden bleiben ohne
Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerdeführerinnen beimessen. Das angegriffene Urteil weicht auch nicht - wie die
Beigeladene zu 1 meint - von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
zur Rechtfertigung von Eingriffen in die kommunale Planungshoheit ab.
1. Beide Beschwerdeführerinnen möchten in dem Revisionsverfahren rechtsgrund-
sätzlich geklärt wissen,
wie das Tatbestandsmerkmal "aus wichtigen Gründen" in § 6 Abs. 4 Satz 2
BauGB auszulegen ist, insbesondere ob die Verlängerung der Genehmi-
gungsfrist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig und ob ein strenger
Maßstab anzulegen ist.
Diese Frage kann, soweit sie entscheidungserheblich wäre und einer rechtsgrund-
sätzlichen Klärung zugänglich ist, auf der Grundlage des Gesetzes beantwortet wer-
den, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedürfte. Über die
Genehmigung des Flächennutzungsplans ist binnen drei Monaten zu entscheiden
(§ 6 Abs. 4 Satz 1 BauGB). Aus wichtigen Gründen kann die Frist auf Antrag der
Genehmigungsbehörde von der zuständigen übergeordneten Behörde verlängert
werden, in der Regel jedoch nur bis zu drei Monaten (§ 6 Abs. 4 Satz 2 BauGB). Das
Oberverwaltungsgericht hat das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Anschluss an
die Begründung des Verlängerungsantrags der Bezirksregierung L. bejaht, weil im
Zeitpunkt der Fristverlängerung absehbar war, dass die Prüfung des Genehmi-
gungsantrags wegen der Komplexität und des Umfangs der mit der 26. Änderung
des Flächennutzungsplans verbundenen Fragen nicht innerhalb der Frist von drei
Monaten würde abgeschlossen werden können (vgl. UA S. 33 f.). Dass ein wichtiger
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Grund für eine Fristverlängerung gegeben ist, wenn über den Genehmigungsantrag
wegen des besonderen Umfangs und der besonderen Komplexität der durch den
Flächennutzungsplan aufgeworfenen Fragen nicht innerhalb der Regelfrist von drei
Monaten entschieden werden kann, liegt auf der Hand (vgl. Krautzberger, in:
Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 6 Rn. 47 - Stand April 2005; Gaentzsch, in: Ber-
liner Kommentar zum BauGB, § 6 Rn. 22 - Stand August 2002; Schrödter, BauGB,
6. Auflage 1998, § 6 Rn. 10). Ob die Fragen, die ein Flächennutzungsplan aufwirft,
so umfangreich und komplex sind, dass eine Verlängerung der Regelfrist gerechtfer-
tigt ist, hängt von den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls ab.
Die Klägerin möchte darüber hinaus rechtsgrundsätzlich geklärt wissen,
- ob die von der Genehmigungsbehörde geltend gemachten "wichtigen Grün-
de" wirklich vorliegen müssen oder ob es ausreicht, dass sie im Verlänge-
rungsantrag ins Feld geführt werden und nach der Struktur des Einzelfalls
theoretisch vorliegen können (Frage I.2.a),
- ob ein Antrag auf Fristverlängerung noch durch "wichtige Gründe" getragen
sein kann, wenn die Genehmigungsbehörde in pflichtgemäßer Ausübung der
originär ihr zustehenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenz zu dem
Ergebnis gekommen ist, dass die Änderung des Flächennutzungsplans "ord-
nungsgemäß zustande gekommen ist" im Sinne von § 6 Abs. 2 BauGB und
deshalb ein Anspruch auf Genehmigung besteht (Frage I.2.b) und
- ob "wichtige Gründe" im Sinne von § 6 Abs. 4 Satz 2 BauGB im Zusammen-
hang mit der Möglichkeit stehen müssen, dass die von der Gemeinde bean-
tragte Genehmigung für die Änderung ihres Flächennutzungsplans abgelehnt
werden kann (Frage I.3).
Auch diese Fragen bedürfen nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren. Die zu-
erst genannte Frage würde sich in dem Revisionsverfahren nicht stellen, denn das
Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass ein wichtiger Grund für die
Verlängerung der Frist von der Genehmigungsbehörde nicht nur geltend gemacht
wurde, sondern auch vorlag. Auch die zweite Frage geht von einem Sachverhalt aus,
den das Oberverwaltungsgericht so nicht festgestellt hat. Nach den Feststellungen
des Oberverwaltungsgerichts unterlag die Genehmigungsbehörde bei der Entschei-
dung über die Genehmigung der Fachaufsicht zunächst durch das Ministerium für
Frauen, Arbeit und Soziales, später durch das Niedersächsische Innenministerium
(vgl. UA S. 10 f.). Dass die Genehmigungsbehörde nach Landesrecht über die Ertei-
lung der Genehmigung hätte entscheiden dürfen, ohne die Fachaufsichtsbehörde zu
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beteiligen, oder dass die Genehmigungsbehörde nach Ausübung der Fachaufsicht zu
dem Ergebnis gekommen sei, dass ein Anspruch auf Genehmigung bestehe, macht
die Beschwerde selbst nicht geltend.
Die zuletzt genannte Frage würde sich in dem Revisionsverfahren nicht stellen, weil
ein Zusammenhang zwischen der vom Oberverwaltungsgericht angenommenen
Komplexität und dem Umfang der durch die Flächennutzungsplanänderung aufge-
worfenen Fragen und der Versagung der Genehmigung besteht. Als Ergebnis der
weiteren Prüfung des Genehmigungsantrags hat die Bezirksregierung L. die Ge-
nehmigung des Flächennutzungsplans versagt.
2. Die Beigeladene zu 1 bezeichnet als rechtsgrundsätzlich die Frage,
ob das Wort "Gesetzesänderung" in § 233 Abs. 1 Satz 1 BauGB jede pla-
nungsrechtlich relevante Gesetzesänderung (hier: Änderungen des Landes-
planungsrechts) erfasst oder ob damit nur Änderungen des BauGB gemeint
sind.
Auf die Klärung dieser Frage sind sinngemäß auch die von der Klägerin unter II.1.3
und 1.4 ihrer Beschwerdebegründung bezeichneten Fragen gerichtet.
Die Frage bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie lässt sich auf
der Grundlage des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter
Interpretation und auf der Grundlage der entstandenen Rechtsprechung ohne weite-
res beantworten. Gemäß § 233 Abs. 1 Satz 1 BauGB werden Verfahren nach diesem
Gesetz, die vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung förmlich eingeleitet
worden sind, nach den bisher geltenden Rechtsvorschriften abgeschlossen, soweit
nachfolgend nichts anderes bestimmt ist. Diese Vorschrift wurde durch das Gesetz
zur Änderung des Baugesetzbuchs und zur Neuregelung des Rechts der Raumord-
nung (Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 - BauROG) vom 18. August 1997
(BGBl I S. 2081) in das Baugesetzbuch eingefügt. Zuvor enthielt das Baugesetzbuch
für jede seiner Änderungen gesonderte Überleitungsvorschriften. Da diese Überlei-
tungsvorschriften unübersichtlich, teilweise auch durch Zeitablauf überflüssig gewor-
den waren, sollten sie durch eine offen formulierte Generalklausel in § 233 BauGB
abgelöst werden (vgl. BTDrucks 13/6392, S. 74). § 233 Abs. 1 BauGB sollte - anders
als die bisherigen Überleitungsvorschriften des BauGB und als z.B. die Überleitungs-
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vorschrift in § 23 Abs. 1 ROG - die Anwendbarkeit nicht nur des BauROG, sondern
auch der künftigen Änderungsgesetze zum Baugesetzbuch auf vor Inkrafttreten der
Gesetzesänderung förmlich eingeleitete Verfahren regeln (vgl. Bielenberg/Söfker, in:
Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 233 Rn. 1 - Stand August 2002; Lemmel, in:
Berliner Kommentar zum BauGB, § 233 Rn. 1 - Stand August 2003; Löhr, in: Battis/
Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Auflage 2005, § 233 Rn. 1). Aus diesem Grund trifft
§ 233 Abs. 1 Satz 1 BauGB eine Übergangsregelung für Verfahren nach dem Bau-
gesetzbuch, die vor dem Inkrafttreten "einer" und nicht nur einer bestimmten Ände-
rung des Baugesetzbuchs förmlich eingeleitet worden sind. Die Auswirkungen einer
Änderung des Landesplanungsrechts auf laufende Verfahren nach dem Baugesetz-
buch regelt § 233 Abs. 1 BauGB nicht.
3. Die Beigeladene zu 1 bezeichnet weiter als rechtsgrundsätzlich die Frage,
auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung eines auf Genehmigung eines Bau-
leitplans gerichteten Klageantrags abzustellen ist, wenn nach der Beschluss-
fassung über den Bauleitplan und der Einreichung des Genehmigungsgesuchs
Änderungen des Landesplanungsrechts in Kraft getreten sind und der zur
Genehmigung gestellte Bauleitplan zwar mit der ursprünglichen, nicht aber mit
der geänderten Fassung des Landesplanungsrechts im Einklang steht.
Auch die von der Klägerin unter II.1.1 und 1.2, II.2.1 bis 2.3 sowie II.3.1 und 3.2 auf-
geworfenen Rechtsfragen beschäftigen sich mit dem maßgebenden Zeitpunkt für die
Genehmigungsfähigkeit eines Flächennutzungsplans und für die Erfüllung des An-
passungsgebots des § 1 Abs. 4 BauGB. Die genannten Fragen lassen sich, soweit
sie in dem Revisionsverfahren entscheidungserheblich wären, auf der Grundlage des
Gesetzes und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts ohne weiteres beantworten.
Gemäß § 6 Abs. 2 BauGB darf die Genehmigung nur versagt werden, wenn der Flä-
chennutzungsplan nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist oder diesem Ge-
setzbuch, den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen oder sonstigen Rechtsvor-
schriften widerspricht. Gemäß § 1 Abs. 4 BauGB sind die Bauleitpläne - also auch
der Flächennutzungsplan (vgl. § 1 Abs. 2 BauGB) - den Zielen der Raumordnung
anzupassen. Ein Flächennutzungsplan, der entgegen § 1 Abs. 4 BauGB nicht den
Zielen der Raumordnung angepasst ist, widerspricht dem Baugesetzbuch; er ist nicht
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genehmigungsfähig. Die Pflicht zur Anpassung, die § 1 Abs. 4 BauGB statuiert, endet
nicht im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Flächennutzungsplan oder die
Satzung. Bauleitpläne sind den gültigen Zielen der Raumordnung anzupassen, un-
abhängig davon, wann diese in Kraft getreten sind. Nach der Rechtsprechung des
Senats (Urteil vom 17. September 2003 - BVerwG 4 C 14.01 - BVerwGE 119, 25
<39 f.>) liegt der Regelungszweck des § 1 Abs. 4 BauGB in der "Gewährleistung um-
fassender materieller Konkordanz" zwischen der übergeordneten Landesplanung und
der gemeindlichen Bauleitplanung. Die Pflicht zur Anpassung zielt nicht auf
"punktuelle Kooperation", sondern auf dauerhafte Übereinstimmung der beiden Pla-
nungsebenen. Die Gemeinde ist - unter dem Vorbehalt der materiellrechtlichen und
zeitlichen Erforderlichkeit im Einzelfall - zur Anpassung an die Ziele der Raumord-
nung nicht nur verpflichtet, wenn sie Bauleitpläne aus eigenem Entschluss und allein
aus städtebaulichen Gründen aufstellt oder ändert; sie muss auch dann planerisch
aktiv werden, wenn allein geänderte oder neue Ziele der Raumordnung eine Anpas-
sung der Bauleitpläne erfordern (BVerwG, Urteil vom 17. September 2003, a.a.O.).
Unbeschadet der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Anpassung eines ge-
nehmigten und durch Bekanntmachung der Genehmigungserteilung wirksam gewor-
denen (vgl. § 6 Abs. 5 Satz 2 BauGB) Flächennutzungsplans an ein neues Ziel der
Raumordnung erforderlich ist, darf die höhere Verwaltungsbehörde einen Flächen-
nutzungsplan, der einem während des Genehmigungs- oder des sich anschließen-
den gerichtlichen Verfahrens in Kraft getretenen Ziel der Raumordnung widerspricht,
nicht genehmigen und hierzu auch nicht verpflichtet werden (vgl. Runkel, in: Ernst/
Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 1 Rn. 69 - Stand September 2005; Krautzberger, in:
Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 9. Aufl. 2005, § 1 Rn. 42). Etwas anderes ergibt
sich auch nicht - wie die Klägerin meint (Frage II.1.2) - aus § 214 Abs. 3 Satz 1
BauGB. Nach dieser Vorschrift ist für die Abwägung die Sach- und Rechtslage im
Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Flächennutzungsplan oder die Satzung
maßgebend. Für die Anpassung an die Ziele der Raumordnung nach § 1 Abs. 4
BauGB gilt § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB weder unmittelbar noch entsprechend. Das
ergibt sich ebenfalls ohne weiteres aus der Rechtsprechung des Senats. Der Stand-
ort, den der Gesetzgeber den Zielen der Raumordnung und Landesplanung in der
Bauleitplanung zuweist, ist nicht im Abwägungsprogramm zu suchen; er ist diesem
vielmehr, wie bereits durch die Stellung des § 1 Abs. 4 BauGB im Gesamtregelungs-
zusammenhang dokumentiert wird, rechtlich vorgelagert (vgl. Beschluss vom
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20. August 1992 - BVerwG 4 NB 20.91 - BVerwGE 90, 329 <332>; Urteil vom
30. Januar 2003 - BVerwG 4 CN 14.01 - BVerwGE 117, 351 <356>). Ein Flächen-
nutzungsplan, der zunächst mit den Zielen der Raumordnung übereinstimmt, einem
später geänderten landesplanerischen Ziel jedoch widerspricht, würde im Übrigen
einem Bebauungsplan, der aus den Darstellungen des Flächennutzungsplans entwi-
ckelt worden ist, gegenüber der geänderten Landesplanung keinen bauleitplaneri-
schen "Bestandsschutz" verleihen (vgl. BVerwGE 117, 351 <356>). Die landesplane-
rische Zielfestlegung setzt sich als Bestandteil der übergeordneten Planung gegen-
über einem zielwidrig gewordenen Flächennutzungsplan durch. Die Frage, ob auch
die Gemeinde über den Bauleitplan vor der Schlussbekanntmachung neu entschei-
den müsste (Frage II.3.2 der Klägerin), würde sich in dem Revisionsverfahren nicht
stellen.
4. Die Beigeladene zu 1 möchte in dem Revisionsverfahren weiter rechtsgrundsätz-
lich geklärt wissen,
ob es mit der Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG in Gestalt der
kommunalen Planungshoheit vereinbar ist, wenn Regelungen des Landespla-
nungsrechts es allen Gemeinden unterhalb der Zentralitätsstufe eines Ober-
zentrums ausnahmslos untersagen, bestimmte Handelseinrichtungen (hier:
Hersteller-Direktverkaufszentren) auf ihrem Gemeindegebiet anzusiedeln.
Die Klägerin thematisiert mit ihrer Frage III.2.1 ebenfalls, welche Anforderungen an
strikte, ausnahmslose landesplanerische Zielvorgaben zur Wahrung der Selbstver-
waltungsgarantie zu stellen sind.
Die Frage, ob es den Gemeinden unterhalb der Zentralitätsstufe eines Oberzentrums
untersagt werden darf, Hersteller-Direktverkaufszentren anzusiedeln,
würde sich in dem Revisionsverfahren so nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht
hat das Landesplanungsrecht des Landes Niedersachsen dahin ausgelegt, dass der
Plansatz C 1.6 03 Satz 11 LROP 2002 zwar eine strikte Bindung für Hersteller-
Direktverkaufszentren vorsieht, das Zielabweichungsverfahren (§ 11 Abs. 1 NROG)
aber davon abweichende Lösungsmöglichkeiten eröffnet (vgl. UA S. 59).
Dass es, jedenfalls wenn die Möglichkeit der Zielabweichung besteht, mit der Selbst-
verwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar sein kann, Gemeinden
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unterhalb der Zentralitätsstufe eines Oberzentrums durch eine landesplanerische
Zielfestlegung zu untersagen, die Ansiedlung von Hersteller-Direktverkaufszentren im
Wege der Bauleitplanung zu ermöglichen, ist nicht zweifelhaft. Nach der Recht-
sprechung des Senats (vgl. BVerwGE 90, 329 <335>; Urteil vom 15. Mai 2003
- BVerwG 4 CN 9.01 - BVerwGE 118, 181 <185>; Beschluss vom 7. Februar 2005
- BVerwG 4 BN 1.05 - NVwZ 2005, 584), von der entgegen der Auffassung der Klä-
gerin (Frage III.3.1) auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen ist (vgl. UA
S. 47 f.), steht Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG der Bindung der gemeindlichen Bauleitpla-
nung an Ziele der Raumordnung und Landesplanung nicht prinzipiell entgegen. Das
Grundgesetz gewährleistet die kommunale Selbstverwaltung nur im Rahmen der
Gesetze. Die Gemeinde ist landesplanerischen Zielvorgaben jedoch nicht einschrän-
kungslos ausgesetzt. Sie ist, soweit für sie Anpassungspflichten begründet werden,
in den überörtlichen Planungsprozess einzubeziehen. Auch materiellrechtlich setzt
die kommunale Planungshoheit der Landesplanung Grenzen. Schränkt die Landes-
oder Regionalplanung die Planungshoheit einzelner Gemeinden ein, so müssen
überörtliche Interessen von höherem Gewicht den Eingriff rechtfertigen; der Eingriff
in die Planungshoheit muss gerade angesichts der Bedeutung der kommunalen
Selbstverwaltung verhältnismäßig sein (vgl. BVerwGE 118, 181 <185>). Die Stand-
ortplanung für Einzelhandelsgroßbetriebe ist nach der Rechtsprechung des Senats
(vgl. BVerwGE 119, 25 <41>) ein überörtliches Interesse, das eine Beschränkung der
Planungshoheit rechtfertigen kann. Die Standortplanung für Einzelhandelsgroß-
betriebe ist nicht auf die Instrumente der gemeindlichen Bauleitplanung beschränkt;
sie kann bereits auf der Ebene der Landesplanung einsetzen und - in unterschiedli-
cher Gestalt - mit der zentralörtlichen Gliederung verbunden werden. Gehen die
städtebaulichen Auswirkungen von Hersteller-Direktverkaufszentren insbesondere
wegen der Größe dieser Betriebe, der Zentrenrelevanz ihres Kernsortiments und der
Reichweite ihres Einzugsbereichs über die Auswirkungen der üblichen Formen des
großflächigen Einzelhandels hinaus, kann es gerechtfertigt sein, sie einer im Ver-
gleich zum sonstigen großflächigen Einzelhandel strengeren Sonderregelung zu un-
terwerfen und planerisch nur in Oberzentren an städtebaulich integrierten Standorten
zuzulassen. Eine solche Zielfestlegung schließt es zwar für das gesamte Gebiet ei-
ner Gemeinde, die nicht Oberzentrum ist, aus, die Ansiedlung von Hersteller-Direkt-
verkaufszentren planerisch zuzulassen; da die Zielfestlegung lediglich eine eng um-
grenzte Nutzungsart ausschließt, verbleibt der Gemeinde jedoch substanzieller
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Raum für eine anderweitige Bauleitplanung. Im vorliegenden Fall sind der Plangeber
und ihr folgend das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass Hersteller-
Direktverkaufszentren besondere raumstrukturelle, die zentralörtliche Gliederung
gefährdende Auswirkungen haben (vgl. UA S. 43 f., 51). An diese tatrichterliche Wür-
digung wäre der Senat in dem Revisionsverfahren gemäß § 137 Abs. 2 VwGO ge-
bunden. Ausgehend hiervon zeigen die Beschwerdeführerinnen nicht auf, dass die
dargelegten, in der Senatsrechtsprechung bereits geklärten Anforderungen an Be-
schränkungen der kommunalen Planungshoheit durch Ziele der Raumordnung in
dem Revisionsverfahren in verallgemeinerungsfähiger Weise präzisiert oder fortent-
wickelt werden könnten.
Das angefochtene Urteil weicht auch nicht - wie die Beigeladene zu 1 geltend
macht - von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Mai 2003
- BVerwG 4 CN 9.01 - (BVerwGE 118, 181) ab. In dieser Entscheidung hat der Senat
den Rechtssatz aufgestellt, dass die dem Träger der Regionalplanung durch Lan-
desgesetz auferlegte Verpflichtung, in einem Regionalplan regional bedeutsame In-
frastrukturvorhaben gebietsscharf auszuweisen, mit der Garantie der kommunalen
Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) vereinbar ist, wenn diese Ausweisung
durch überörtliche Interessen von höherem Gewicht gerechtfertigt ist und den Grund-
satz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Einen hiervon abweichenden Rechtssatz hat das
Oberverwaltungsgericht weder ausdrücklich noch sinngemäß aufgestellt. Es ist nicht
- wie die Beigeladene zu 1 meint - davon ausgegangen, dass ein Eingriff des Plan-
gebers in die kommunale Planungshoheit "schon dann gerechtfertigt ist, wenn er den
Eingriff aus politischen Erwägungen für zweckmäßig hält, ohne dass die materielle
Erforderlichkeit der Einschränkung der Planungshoheit geprüft werden muss". Das
Oberverwaltungsgericht hatte keinen Zweifel daran, dass die in Plansatz C 1.6 03
Satz 11 LROP 2002 getroffene Regelung erforderlich ist, um die Funktionsfähigkeit
von Innenstädten, Stadtteilzentren und Ortskernen zu schützen. Dass ein entspre-
chendes Ziel mit Ausnahmevorbehalt in gleicher Weise wie ein striktes Ziel geeignet
gewesen wäre, die zentralörtliche Gliederung zu schützen, macht die Beschwerde
selbst nicht geltend. Einen Spielraum für politische Zweckmäßigkeitserwägungen hat
das Oberverwaltungsgericht dem Verordnungsgeber lediglich bei der landesplaneri-
schen Abwägung eingeräumt.
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5. Die von der Beigeladenen zu 1 aufgeworfene Frage,
ob der Gesetzgeber bei der Aufstellung von Zielen der Raumordnung zur
räumlichen Steuerung der Ansiedlung privater Versorgungseinrichtungen (hier:
Hersteller-Direktverkaufszentren) durch das in § 7 Abs. 7 Satz 3 ROG
formulierte Abwägungsgebot verpflichtet ist, bereits verfestigte Planungen ei-
ner Gemeinde und die daraus resultierenden Rechtspositionen eines privaten
Vorhabenträgers in seine Abwägung einzubeziehen,
lässt sich, soweit sie sich in dem Verfahren stellen würde, beantworten, ohne dass es
hierfür der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedürfte. Gleiches gilt für die von
der Klägerin unter III.1.1 bis 1.3, 2.2, 2.3, 3.2 und 3.3 bezeichneten Fragen, die
ebenfalls die Folgen einer weitgehend geförderten gemeindlichen Bauleitplanung für
die raumplanerische Abwägung thematisieren.
Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts (vgl. UA S. 48 f.) ist bei der
Aufstellung des Ziels C 1.6 03 Satz 11 des LROP II 2002 das landesrechtlich gere-
gelte Beteiligungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Klägerin hat
in diesem Verfahren zu der vorgesehenen Zielfestlegung Stellung genommen; die
Stellungnahme ist mit ihr erörtert worden. Der Verordnungsgeber hat die vorgetrage-
nen Bedenken - auch die der Klägerin - gegen die Sonderregelung für Hersteller-
Direktverkaufszentren bewertet und abgewogen; dabei war ihm die planungsrechtli-
che Situation der Klägerin bekannt (vgl. UA S. 49). Die Beschwerdeführerinnen mei-
nen, der Verordnungsgeber habe nicht nur die generellen Einwendungen gegen die
Sonderregelung für Hersteller-Direktverkaufszentren, sondern auch die von der Klä-
gerin bereits beschlossenen Bauleitpläne zur Ansiedlung des von der Beigeladenen
zu 1 geplanten Designer-Outlet-Centers in der Abwägung berücksichtigen müssen.
Insoweit zeigen sie einen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf jedoch nicht auf.
Nach der Rechtsprechung des Senats kann und muss der Planer bei der Abwägung
nicht "alles" berücksichtigen; unbeachtet bleiben können u.a. betroffene Interessen,
die - sei es überhaupt, sei es im gegebenen Zusammenhang - nicht schutzwürdig
sind, z.B. weil sich deren Träger vernünftigerweise darauf einstellen müssen, dass
"so etwas geschieht" (vgl. Beschluss vom 9. November 1979 - BVerwG 4 N 1.78
u.a. - BVerwGE 59, 87 <102 f.>, Urteil vom 24. September 1998 - BVerwG 4 CN
2.98 - BVerwGE 107, 215 <219>; Beschluss vom 20. September 2005 - BVerwG
4 BN 46.05 - juris). Hiervon ist der Sache nach auch das Oberverwaltungsgericht
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ausgegangen - falls seine Ausführungen nicht ohnehin so zu verstehen sind, dass es
annimmt, der Verordnungsgeber habe die ihm bekannte "besondere planungsrecht-
liche Situation" (UA S. 49) bei der Klägerin durchaus gesehen und gewürdigt und
lediglich nicht ausdrücklich in seine Begründung einbezogen. Es hat bezogen auf die
Planungen der Klägerin für Vertrauensschutz keinen Raum gesehen (vgl. UA S. 59),
weil die Klägerin von den Änderungen des LROP 2002 nicht unvorbereitet getroffen
worden sei. Die Fortschreibung und Präzisierung der entsprechenden Planaussage
des LROP 1994, deren Zielqualität bei Aufstellung der Bauleitpläne streitig gewesen
sei (vgl. UA S. 12, 16), durch Satz 11 des LROP 2002 sei das Ergebnis einer lang-
jährigen und durch politische Beschlüsse vorbereiteten verordnungsrechtlichen Ent-
scheidung (vgl. UA S. 59 f.). An diese Feststellungen und deren tatrichterliche Wür-
digung wäre der Senat in dem Revisionsverfahren gemäß § 137 Abs. 2 VwGO ge-
bunden. Warum es bei einer solchen Ausgangslage abwägungsfehlerhaft sein sollte,
in der Zielfestlegung von einer Ausnahme für während der Zielaufstellung weitge-
hend geförderte Planungen einer Gemeinde abzusehen, legen die Beschwerdefüh-
rerinnen nicht dar. Sie zeigen auch nicht auf, warum die Beigeladene zu 1 auf den
Bestand der Planungen der Klägerin hätte vertrauen dürfen. Der Beigeladenen zu 1
waren die maßgebend durch ihr Vorhaben veranlassten (vgl. UA S. 12) Pläne zur
Änderung des LROP 1994 ebenfalls bekannt.
6. Die von der Beigeladenen zu 1 schließlich als rechtsgrundsätzlich bezeichnete
Frage,
ob der Gesetzgeber bei der Aufstellung von Zielen der Raumordnung zur
räumlichen Steuerung der Ansiedlung privater Versorgungseinrichtungen (hier:
Hersteller-Direktverkaufszentren) im Rahmen der Abwägung die typischen
Standortanforderungen und die konzeptionelle Ausprägung derartiger
Einrichtungen als "private Belange" nach § 7 Abs. 7 Satz 3 ROG berücksichti-
gen muss,
wäre in dem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Denn nach den Fest-
stellungen des Oberverwaltungsgerichts hat der Verordnungsgeber die typischen
Standortanforderungen und die konzeptionelle Ausrichtung von Hersteller-Direkt-
verkaufszentren im Rahmen der Abwägung berücksichtigt. Er ist davon ausgegan-
gen, dass die Ansiedlungsersuchen sich vorrangig auf Standorte auf der "grünen
Wiese" in der Nähe von Autobahnanschlüssen oder -raststätten, in der Nähe touristi-
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scher Zentren sowie in Zwischenlagen von großen Verdichtungsräumen richten.
Dorthin sollten Käuferschichten aus einem Einzugsbereich von bis zu 200 km oder
bis zu zwei Autostunden angezogen werden. Zur Attraktivitätssteigerung würden die
Zentren durch Gastgewerbe, Freizeiteinrichtungen und traditionellen Einzelhandel
abgerundet (vgl. UA S. 43). Der Verordnungsgeber hat mithin nicht verkannt, dass
die Betreiber von Hersteller-Direktverkaufszentren typischerweise versuchen, ihr
Vorhaben außerhalb von Oberzentren zu verwirklichen. Er hat jedoch - vom Ober-
verwaltungsgericht unbeanstandet - dem öffentlichen Interesse am Schutz der zen-
tralörtlichen Gliederung gegenüber dem privaten Interesse der Betreiber von Herstel-
ler-Direktverkaufszentren, derartige Einzelhandelsbetriebe an für diese spezielle Ver-
kaufsform besonders geeigneten Standorten zu errichten, den Vorrang gegeben.
Inwiefern diese Abwägung in rechtsgrundsätzlicher Weise fehlerhaft sein sollte, zeigt
die Beschwerde nicht auf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streit-
wertentscheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.
Halama Dr. Jannasch Dr. Philipp
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Bauplanungsrecht
Fachpresse: ja
Raumordnungsrecht
Rechtsquellen:
BauGB
§ 1 Abs. 4; § 6 Abs. 2, Abs. 4 Satz 2; § 214 Abs. 3; § 233 Abs. 1
ROG
§ 7 Abs. 7 Satz 3; § 23 Abs. 1
Stichworte:
Flächennutzungsplan; Fristverlängerung; wichtige Gründe; Gesetzesänderung; Über-
leitungsvorschrift; Änderungsgesetz; Ziel der Raumordnung; Anpassung; Planungs-
hoheit; kommunale Selbstverwaltung; Hersteller-Direktverkaufszentrum; Designer-
Outlet-Center; Einzelhandelsbetrieb; Zielabweichung; Landesplanung; Standortpla-
nung; zentralörtliche Gliederung; Abwägungsgebot; Vertrauensschutz.
Leitsätze:
1. Wenn über den Antrag auf Genehmigung des Flächennutzungsplans wegen des
besonderen Umfangs oder der besonderen Komplexität der durch den Plan aufge-
worfenen Fragen nicht innerhalb der Regelfrist von drei Monaten entschieden werden
kann, liegt ein wichtiger Grund im Sinne des § 6 Abs. 4 Satz 2 BauGB für eine
Fristverlängerung vor.
2. Die höhere Verwaltungsbehörde darf einen Flächennutzungsplan, der einem wäh-
rend des Genehmigungs- oder des sich anschließenden gerichtlichen Verfahrens in
Kraft getretenen Ziel der Raumordnung widerspricht, nicht genehmigen. Daher darf
sie hierzu auch nicht verpflichtet werden.
3. Gehen die städtebaulichen Auswirkungen von Hersteller-Direktverkaufszentren
insbesondere wegen der Größe dieser Betriebe, der Zentrenrelevanz ihres Kernsor-
timents und der Reichweite ihres Einzugsbereichs über die Auswirkungen der übli-
chen Formen des großflächigen Einzelhandels hinaus, kann es gerechtfertigt sein,
sie landesplanerisch einer im Vergleich zum sonstigen großflächigen Einzelhandel
strengeren Sonderregelung zu unterwerfen und nur in Oberzentren an städtebaulich
integrierten Standorten zuzulassen.
Beschluss des 4. Senats vom 8. März 2006 - BVerwG 4 B 75.05
I. VG Lüneburg vom 22.05.2003 - Az.: VG 2 A 18/01 -
II. OVG Lüneburg vom 01.09.2005 - Az.: OVG 1 LC 107/05 -