Urteil des BVerwG vom 19.08.2003

Treu Und Glauben, Rechtliches Gehör, Grundstück, Abrede

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 71.03
OVG 10 A 3054/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. August 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a und G a t z
beschlossen:
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Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in
dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 10. April 2003 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen als Gesamtschuldner die Kosten des Beschwerde-
verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beige-
ladenen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren
auf 7 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus dem Be-
schwerdevorbringen ergibt sich nicht, dass die Revision wegen eines Verfahrensfehlers zu-
zulassen ist.
Die Beschwerde sieht in der Ablehnung der Vertagungsanträge der Kläger und ihrer Pro-
zessbevollmächtigten zu Unrecht eine - den gesamten Prozessstoff erfassende (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 2. November 1998 - BVerwG 8 B 162.98 - Buchholz 310 § 108
VwGO Nr. 285) - Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 108 Abs. 2
VwGO). Das Berufungsgericht musste den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht verle-
gen, um den urlaubsbedingt abwesenden Klägern Gelegenheit zu geben, noch weitere Tat-
sachen zu ermitteln und ihre Sicht der Dinge persönlich vorzutragen. Die Kläger haben nicht
in Abrede gestellt, dass die nach Süden verspringende Giebelwand ihres Wohnhauses nur
einen Abstand von ca. 2,50 m zu der Grenze zum Grundstück der Beigeladenen einhält und
mangels Privilegierung nach § 6 Abs. 7 BauO NRW den gesetzlich vorgeschriebenen
Grenzabstand unterschreitet. Die Vertagung der Berufungsverhandlung erschien ihnen er-
forderlich, um durch Einsichtnahme in ihre Bauakte und Rücksprache mit ihrem damaligen
Architekten die Umstände des Gesetzesverstoßes zu klären. Darauf kam es nach der mate-
riellrechtlichen Auffassung der Vorinstanz, auf die unabhängig von ihrer Richtigkeit abzustel-
len ist (BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 1996 - BVerwG 11 B 150.95 - Buchholz 424.5
GrdstVG Nr. 1), indessen nicht an. Für das Berufungsgericht stand der entscheidungserheb-
liche Sachverhalt fest. Zu erörtern war aus seiner Sicht in der mündlichen Verhandlung ne-
ben anderen die Rechtsfrage, ob der Grad der Beeinträchtigungen miteinander vergleichbar
ist, die durch die beiderseitige Verletzung der Abstandflächenvorschriften durch die Kläger
und der Beigeladenen für das jeweils andere Grundstück hervorgerufen werden. Die Teil-
nahme der in der mündlichen Verhandlung anwaltlich vertretenen Kläger am Rechtsge-
spräch durfte das Berufungsgericht für entbehrlich halten. Ein bloßes Anwesenheitsinteresse
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einer Partei wird durch ihr Recht auf rechtliches Gehör nicht geschützt (BVerwG, Beschluss
vom 31. Mai 1990 - BVerwG 7 CB 31.89 - Buchholz 11 Art. 140 GG Nr. 45).
Die Aufklärungsrüge geht ebenfalls fehl. Zu Unrecht hält die Beschwerde dem Berufungsge-
richt vor, entgegen § 86 Abs. 1 VwGO nicht ermittelt zu haben, wie es zu dem unbewussten
Abstandsflächenverstoß der Kläger gekommen sei, mit welcher Rücksichtslosigkeit sich der
Ehemann der Beigeladenen über geltendes Baurecht hinweggesetzt habe und welche An-
strengungen die Kläger zwischen 1989 und 1993 unternommen hätten, um dessen gesetz-
widrigem Verhalten Einhalt zu gebieten. Das Berufungsgericht hat seinen Befund, der
Grundsatz von Treu und Glauben schließe die Geltendmachung nachbarlicher Abwehrrechte
durch die Kläger aus, darauf gestützt, dass die wechselseitigen Abstandsflächenverstöße
nach den örtlichen Gegebenheiten miteinander vergleichbar seien. Die Frage des jeweiligen
Verschuldens an der Bauwichunterschreitung war für die Vorinstanz ebenso wenig entschei-
dungserheblich wie die Qualität des Nachbarschaftsverhältnisses zwischen den Klägern und
der Beigeladenen. An diesem materiellrechtlichen Standpunkt übt die Beschwerde Kritik und
kleidet sie fälschlich in das Gewand einer Verfahrensrüge.
Die Zulassung der Revision ist ferner deshalb ausgeschlossen, weil das angefochtene Urteil
nicht auf dem behaupteten Aufklärungsmangel beruht. Selbst wenn das Berufungsgericht
nach der von der Beschwerde vermissten Tatsachenermittlung nicht mehr angenommen
hätte, dass der Anspruch der Kläger auf das beantragte Einschreiten gegen die Beigeladene
an dem Grundsatz von Treu und Glauben scheitern müsse, hätte es die Berufung zurück-
gewiesen; denn es hat den Anspruch aus zwei weiteren Gründen verneint: Der Beklagte
dürfe der Beigeladenen den Rückbau des Schwimmbadanbaus schon deshalb nicht aufge-
ben, weil dieser durch die Baugenehmigung vom 4. März 1994 legalisiert sei, und außerdem
sei der Beklagte in pflichtgemäßer Ausübung des ihm etwa eröffneten Ermessens nicht zum
Einschreiten verpflichtet, weil das Ermessen nicht in diesem Sinne auf Null reduziert sei. Da
diese Gründe die Berufungsentscheidung selbständig tragen, könnte die Revision nur zuge-
lassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Zulassungsgrund aufge-
zeigt wird und vorliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 1994 - BVerwG 11 PKH
28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4). Daran fehlt es.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2, § 162 Abs. 3 VwGO und die
Streitwertfestsetzung auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Paetow Halama Gatz