Urteil des BVerwG vom 10.10.2005

Sanierung, Rücknahme, Rechtswidrigkeit, Eigentum

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 60.05
VGH 5 S 2372/03
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. Oktober 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. J a n n a s c h und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg vom 29. Juli 2005 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 30 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte
Beschwerde hat keinen Erfolg.
Die Darlegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichter-
lich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage
des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über
den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (vgl. BVerwG, Beschluss
vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328). Diesen Anforderun-
gen genügt die Beschwerde nicht. Sie lässt es bereits an der Formulierung einer klä-
rungsbedürftigen Rechtsfrage fehlen. Auch die Rechtsfragen, die in der Beschwer-
debegründung jedenfalls thematisiert werden, würden die Zulassung der Revision
nicht rechtfertigen.
1. Der Verwaltungsgerichtshof ist in dem angefochtenen Urteil davon
ausgegangen, dass die planungsrechtliche Zulässigkeit des umstrittenen (Neubau)-
Vorhabens nicht bereits aufgrund des erteilten Vorbescheids feststehe, weil der Vor-
bescheid nur die Sanierung, nicht die Neuerrichtung des Gebäudes betroffen habe
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(vgl. UA S. 15). Die Beschwerde macht geltend, dass das errichtete Gebäude bezüg-
lich der überbauten Grundstücksfläche, der Gestaltung und der Kubatur "identisch"
mit dem durch den Bauvorbescheid genehmigten Gebäude sei. Sie meint, dass es
unter diesen Voraussetzungen bodenrechtlich keine Rolle spiele, ob ein Gebäude
saniert oder im Wesentlichen neu errichtet werde. Das trifft nicht zu. Dass die Sanie-
rung, die keine Änderung einer baulichen Anlage im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB
darstellt, und die Neuerrichtung eines Gebäudes bodenrechtlich keine identischen
Vorhaben sind, ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz.
Gemäß § 29 Abs. 1 BauGB gelten die §§ 30 bis 37 BauGB für Vorhaben,
die u.a. die Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von baulichen Anlagen
zum Inhalt haben. Nicht jede Instandsetzung oder Sanierung eines Gebäudes ist mit
dessen Änderung im Rechtssinne verbunden. Eine Änderung im Sinne des § 29
BauGB liegt nur vor, wenn ein vorhandenes Gebäude in städtebaulich relevanter
Weise baulich umgestaltet wird. Davon ist auszugehen, wenn die Baumaßnahme mit
einer Erhöhung des Nutzungsmaßes verbunden ist. Aber auch in Fällen, in denen
das Erscheinungsbild unangetastet bleibt und das Bauvolumen nicht erweitert wird,
können an der Anlage vorgenommene Bauarbeiten das Merkmal einer Änderung
aufweisen. Denn nach dem Wortsinn des § 29 BauGB reicht es aus, dass eine Anla-
ge nach baulichen Maßnahmen als eine andere erscheint als vorher. Der Senat stellt
in diesem Zusammenhang maßgeblich auf Art und Umfang der Baumaßnahmen ab.
Eingriffe in die vorhandene Bausubstanz qualifiziert er als Änderung im Sinne des
§ 29 BauGB, wenn das Bauwerk dadurch seiner ursprünglichen Identität beraubt
wird. Ein solcher Identitätsverlust tritt nach der Rechtsprechung des Senats nicht nur
ein, wenn der Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, dass er die Stand-
festigkeit des gesamten Bauwerk berührt und eine statische Nachberechnung erfor-
derlich macht, sondern erst recht, wenn die Bausubstanz ausgetauscht wird oder die
Baumaßnahmen sonst praktisch einer Neuerrichtung gleichkommen (vgl. BVerwG,
Urteil vom 14. April 2000 - BVerwG 4 C 5.99 - Buchholz 406.11 § 35 BauGB Nr. 342
= NVwZ 2000, 1048 m.w.N.). Ob die Sanierung eines Gebäudes, deren grundsätzli-
che Zulässigkeit in einem Vorbescheid festgestellt ist, gemessen hieran bereits eine
Änderung einer baulichen Anlage im Sinne von § 29 Abs. 1 BauGB darstellt, weil sie
einer Neuerrichtung gleichkommt, bedarf der tatrichterlichen Würdigung im jeweiligen
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Einzelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 1994 - BVerwG 4 B 48.94 - Buchholz
406.11 § 35 BauGB Nr. 302 = BauR 1994, 738).
2. Die Beschwerde thematisiert außerdem die Frage, ob die erleichterte
Zulassung der Neuerrichtung eines gleichartigen Wohngebäudes gemäß § 35 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 BauGB auch dann voraussetzt, dass das vorhandene Gebäude seit län-
gerer Zeit vom Eigentümer selbst genutzt wird, wenn feststeht, dass das Gebäude
seit ca. 50 Jahren im Eigentum der Familie, die die Baumaßnahmen durchführen will,
steht und diese das Gebäude anschließend wieder langfristig nutzten will. Dass die-
se Frage zu bejahen ist, ergibt sich ebenfalls unmittelbar aus dem Gesetz. Nach § 35
Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c BauGB genügt es nicht, dass das vorhandene Gebäu-
de seit längerer Zeit im Eigentum des Bauherrn steht. Der Eigentümer muss das
Wohngebäude über längere Zeit ununterbrochen bis zur Neuerrichtung eines gleich-
artigen Ersatzbaus selbst genutzt haben. Entgegen der Auffassung des Klägers will
§ 35 Abs. 4 Satz 1 BauGB nicht ausschließlich Spekulationen mit sanierungsbedürf-
tigen Gebäuden im Außenbereich verhindern. Vielmehr soll die Erleichterung denje-
nigen zugute kommen, die sich "längere Zeit" mit den beengten Wohnverhältnissen
abgefunden und damit unter Beweis gestellt haben, dass dieses Wohnhaus für sie im
Familienleben eine bedeutende Rolle spielt. Demgegenüber sollte beispielsweise die
Errichtung eines Ersatzbaus für eine Ferien- oder Wochenendhausnutzung nicht er-
leichtert werden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 1988 - BVerwG 4 B 41.88 -
BRS 48 Nr. 71 und vom 25. Juni 2001 - BVerwG 4 B 42.01 - BRS 64 Nr. 106
m.w.N.). Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs hat weder die Eigen-
tümerin des Grundstücks noch der Kläger als deren Sohn das alte Gebäude im Sin-
ne von § 35 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauGB als Wohnung selbst genutzt (vgl. UA S. 18).
3. Der Verwaltungsgerichtshof ist im Anschluss an den Beschluss des
Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Dezember 1984 - BVerwG
Gr. Sen. 1 und 2.84 - (BVerwGE 70, 356) davon ausgegangen, dass die Jahresfrist
erst zu laufen beginnt, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
erkannt hat und ihr die für die Rücknahme außerdem erheblichen Tatsachen voll-
ständig bekannt sind (vgl. UA S. 19). Die Beschwerde kritisiert den Beschluss des
Großen Senats. Sie meint, dass die Frist bereits zu laufen beginnen müsse, wenn
die Behörde die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kennen müsse. Diese
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Rechtsauffassung hat der Große Senat in dem genannten Beschluss ausdrücklich
verworfen; die Jahresfrist sei eine Entscheidungsfrist, die sinnvollerweise erst anlau-
fen könne, wenn der zuständigen Behörde alle für die Rücknahmeentscheidung be-
deutsamen Tatsachen bekannt seien (vgl. BVerwGE 70, 356 <363>). Warum diese
Rechtsprechung überprüfungsbedürftig oder auf einen Fall der vorliegenden Art je-
denfalls nicht anwendbar sein sollte, zeigt die Beschwerde nicht auf.
4. Die Beschwerde rügt schließlich, dass der Verwaltungsgerichtshof die
Ausübung des Rücknahmeermessens nicht beanstandet habe. Sie meint, die Behör-
de habe bei der Ausübung des Ermessens im öffentlichen Interesse berücksichtigen
müssen, dass dem Kläger gemäß § 48 Abs. 3 LVwVfG ein Anspruch auf Ausgleich
seines Vermögensnachteils, den er dadurch erleide, dass er auf den Bestand des
Verwaltungsaktes vertraut habe, soweit sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öf-
fentlichen Interesse schutzwürdig sei, zustehe. Der Verwaltungsgerichtshof nehme
hierzu nicht Stellung. Das trifft nicht zu. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Rüge des
Klägers, dass die Behörde wegen der - auch nicht ermittelten - Höhe eines ihm inso-
weit zustehenden Ausgleichsanspruchs nach § 48 Abs. 3 LVwVfG (auch) im öffentli-
chen Interesse zur Vermeidung einer finanziellen Belastung der öffentlichen Hand
von einer Rücknahme der Baugenehmigung hätte absehen müssen, ausdrücklich
zurückgewiesen. Ob die Behörde einen - zudem antragsabhängigen - Anspruch des
Klägers auf Ausgleich eines Vermögensnachteils überhaupt der Höhe nach
- jedenfalls in der Größenordnung - bereits im Rahmen der Ermessensbetätigung
feststellen müsse, hat der Verwaltungsgerichtshof offen gelassen. Denn vorliegend
habe die Behörde ihre Rücknahmeentscheidung tragend auf die "erhebliche Vorbild-
wirkung des umfangreichen, exponierten Vorhabens in landschaftlich reizvoller Lage"
gestützt (vgl. UA S. 20 f.). Es sei unter Ermessensgesichtspunkten nicht zu bean-
standen, dass die Behörden dem im öffentlichen Interesse liegenden Grundsatz der
Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Vorrang eingeräumt habe gegenüber dem Vertrau-
en des Klägers, dass dieser durch Realisierung des Gebäudes und der aus Gründen
des Naturschutzes geforderten gestalterischen Maßnahmen im "Parkgarten" ins
Werk gesetzt und wofür er erhebliche finanzielle Mittel aufgewandt habe (UA S. 21).
Die Beschwerde zeigt nicht auf, warum die im angefochtenen Urteil offen gelassene
Frage in dem erstrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sein sollte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwert-
festsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1, § 72 Nr. 1 GKG.
Dr. Paetow Dr. Jannasch Dr. Philipp