Urteil des BVerwG vom 22.11.2007

Rechtliches Gehör, Verfahrensmangel, Meinung, DDR

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 56.07
OVG 1 KO 471/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. November 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Thüringer Oberverwal-
tungsgerichts vom 29. Mai 2007 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 30 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen
nicht vor.
1.1 Die Klägerin macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe ihren An-
spruch auf rechtliches Gehör verletzt, weil es ohne vorherigen Hinweis und da-
mit überraschend auf der Grundlage der Beschlussvorlage für den Überlei-
tungsbeschluss der Stadtverordneten davon ausgegangen sei, dass seinerzeit
auch die aus der Planzeichnung nicht ersichtliche Art der Bebauung themati-
siert worden sei und dass den Stadtverordneten nicht habe verborgen bleiben
können, dass es ergänzende textliche Festsetzungen geben musste.
Eine gerichtliche Entscheidung stellt sich lediglich dann als unzulässiges Über-
raschungsurteil dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtli-
chen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung
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macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher insbesonde-
re der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht
zu rechnen brauchte (Beschluss vom 14. Mai 2007 - BVerwG 4 B 9.07 - juris
Rn. 7 - stRspr). Ein Überraschungsurteil liegt danach unter anderem vor, wenn
die das angefochtene Urteil tragende Erwägung weder im gerichtlichen Verfah-
ren noch im früheren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren erkennbar themati-
siert worden war. Um dies auszuschließen, sind in der mündlichen Verhandlung
die maßgebenden Rechtsfragen zu erörtern. Das erfordert allerdings nicht, dass
das Gericht den Beteiligten bereits die möglichen Entscheidungsgrundlagen
darlegt. Ist ein Beteiligter - wie hier gemäß § 67 Abs. 1 VwGO - anwaltlich
vertreten, darf ein Berufungsgericht grundsätzlich davon ausgehen, dass sich
sein Prozessbevollmächtigter mit der maßgeblichen Sach- und Rechtslage hin-
reichend vertraut gemacht hat.
Das Oberverwaltungsgericht hatte in der mündlichen Verhandlung - wie die
Klägerin selbst vorträgt - zu erkennen gegeben, dass es sich zur Wirksamkeit
zur Überleitung des Bebauungsplans eine abschließende Meinung noch nicht
gebildet hatte. Über die Frage, ob der Umstand, dass den Stadtverordneten im
Zeitpunkt des Überleitungsbeschlusses nur die damals aufgefundene Plan-
zeichnung, nicht aber die ergänzenden textlichen Festsetzungen vorlagen, die
Überleitung unwirksam mache, hatten die Beteiligten im Verfahren gestritten.
Dass das Oberverwaltungsgericht zur Beantwortung dieser Frage den Verwal-
tungsvorgang zur Überleitung „alter“ Bebauungspläne, den es ausdrücklich zum
Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hatte, heranziehen und die
darin enthaltene Beschlussvorlage auswerten würde, lag nahe. Ebenso wenig
konnte die Klägerin davon überrascht sein, dass das Oberverwaltungsgericht
aus der Aussage in der Beschlussvorlage über die Vereinbarkeit des Bebau-
ungsplans mit der im Flächennutzungsplan vorgesehenen geordneten städte-
baulichen Entwicklung den Schluss gezogen hat, dass auch die aus der Plan-
zeichnung nicht ersichtliche Art der baulichen Nutzung thematisiert worden sein
müsse, weil der Art der Bebauung wesentliche Bedeutung für die städtebauli-
che Entwicklung zugekommen sei. Auch diese Schlussfolgerung lag nicht fern.
Schließlich konnte die Klägerin nicht dadurch überrascht sein, dass das Ober-
verwaltungsgericht an die Überleitung eines vorhandenen Bebauungsplans
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nicht dieselben Anforderungen wie an einen erstmaligen Satzungsbeschluss
gestellt hat. Dass die ergänzenden textlichen Festsetzungen den Stadtverord-
neten zur Zeit des Überleitungsbeschlusses nicht vorlagen, hatten im Verfahren
weder die Beklagte noch der Vertreter des öffentlichen Interesses als schädlich
angesehen.
1.2 Einen weiteren Verfahrensmangel sieht die Beschwerde in der Annahme
des Oberverwaltungsgerichts, dass bei der Beschlussfassung der Stadtverord-
neten auch die aus der Planzeichnung des streitgegenständlichen Plans
ersichtliche Art der Bebauung thematisiert worden sei; diese Annahme verstoße
gegen Denk- und Erfahrungssätze. Die allgemeinen Beweiswürdigungs-
grundsätze, zu denen u.a. die gesetzlichen Beweisregeln und die Denkgesetze
gehören, sind regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen
Recht zuzuordnen (Beschlüsse vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 -
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266 und vom 26. Juni 2007 - BVerwG 4 BN
24.07 - juris Rn. 4). Eine Verletzung der Denkgesetze im Rahmen der Tatsa-
chenwürdigung, die ausnahmsweise als Verfahrensmangel in Betracht gezogen
werden könnte, liegt hier nicht vor. Ein Tatsachengericht hat nicht schon dann
gegen die Denkgesetze verstoßen, wenn es nach Meinung des Beschwerde-
führers unrichtige oder fernliegende Schlüsse gezogen hat; ebenso wenig ge-
nügen objektiv nicht überzeugende oder sogar unwahrscheinliche Schlussfolge-
rungen; es muss sich vielmehr um einen aus Gründen der Logik schlechthin
unmöglichen Schluss handeln (Beschluss vom 11. April 2003 - BVerwG 5 B
24.03 - juris Rn. 2). Einen unmöglichen Schluss hat das Oberverwaltungsge-
richt nicht gezogen. Die Beschwerde blendet aus, dass das Oberverwaltungs-
gericht seine Beweiswürdigung nicht allein auf die Planurkunde, sondern auch
auf die Beschlussvorlage für den Überleitungsbeschluss gestützt hat.
1.3 Das Oberverwaltungsgericht ist schließlich nicht - wie die Beschwerde
meint - von einem falschen und unvollständigen Sachverhalt ausgegangen. Es
hat die Umstände bei der Überleitung des Bebauungsplans lediglich anders
gewürdigt als die Klägerin es für richtig hält. Ein Verfahrensmangel liegt darin
nicht.
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2. Die Rechtssache hat auch nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die
Beschwerde beimisst. Die Rechtsfragen, die die Beschwerde formuliert, betref-
fen sämtlich die Auslegung des § 64 Abs. 3 der Bauplanungs- und Zulassungs-
verordnung der ehemaligen DDR vom 20. Juni 1990 (GBl DDR I S. 739 - im
Folgenden BauZVO). Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Re-
publik sind vorkonstitutionelles Recht. Sie sind revisibles Bundesrecht im Sinne
des § 137 Abs. 1 VwGO nur dann und soweit, wie dies Art. 9 EV bestimmt (Be-
schlüsse vom 3. Mai 1996 - BVerwG 4 B 46.96 - Buchholz 11 Art. 14 GG
Nr. 296 und vom 28. August 2007 - BVerwG 8 B 31.07 - juris Rn. 2). Eine sol-
che Bestimmung enthält Art. 9 i.V.m. Anlage II Kap. XIV III Anlage II Kapitel XIV
Abschnitt III EV für die BauZVO nicht. Einen Klärungsbedarf im Hinblick auf die
dem Bundesrecht angehörende Vorschrift des § 246a BauGB in der Fassung
vom 23. September 1990 (BGBl II S. 885) zeigt die Beschwerde nicht auf.
3. Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hat die Klägerin nicht
den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend bezeichnet.
Sie benennt nicht - wie dies erforderlich wäre - einen entscheidungstragenden
abstrakten Rechtssatz, mit dem das Oberverwaltungsgericht von einer Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts oder des Bundesverfassungsge-
richts abgewichen sein könnte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertent-
scheidung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Paetow
Dr. Jannasch
Dr. Philipp
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