Urteil des BVerwG vom 14.10.2014

Treu Und Glauben, Verfügung, Hinweispflicht, Verwirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 51.14
OVG 7 A 2057/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Oktober 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Decker und Dr. Külpmann
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 2014 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten
selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 7 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung
einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Be-
schwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen
und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1
VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine
bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungs-
bedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu
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erwarten ist (stRspr, so bereits Beschluss vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B
78.61 - BVerwGE 13, 90 <91>; siehe auch Beschluss vom 1. Februar 2011
- BVerwG 7 B 45.10 - juris Rn. 15). Daran fehlt es hier.
Bei verständiger Würdigung strebt die Beschwerde die Klärung von Rechtsfra-
gen an, die sich bei der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben
stellen könnten. In Bezug auf die Anwendung dieses Grundsatzes durch das
Oberverwaltungsgericht im Rahmen des Abstandsflächenrechts wären sie je-
doch in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, denn das
bauordnungsrechtliche Abstandsflächenrecht gehört dem irrevisiblen Landes-
recht an (vgl. § 137 Abs. 1, § 173 VwGO, § 560 ZPO). Zwar gilt der Grundsatz
von Treu und Glauben in der gesamten Rechtsordnung (vgl. Beschlüsse vom
13. August 1996 - BVerwG 4 B 135.96 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz
Nr. 135 und vom 11. Februar 1997 - BVerwG 4 B 10.97 - Buchholz 406.19
Nachbarschutz Nr. 144). Das ändert aber nichts an der Zuordnung dieses
Grundsatzes zu der jeweils maßgebenden Rechtsmaterie und damit an der
Einordnung, ob revisibles oder irrevisibles Recht berührt ist (vgl. Urteil vom
7. November 1997 - BVerwG 4 C 7.97 - Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 316 =
NVwZ 1998, 735). Das Oberverwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass
das Vorhaben der Beigeladenen zwar gegen nachbarschützendes Abstandsflä-
chenrecht verstoße, der Kläger sich aber auf diesen Verstoß nach dem Grund-
satz von Treu und Glauben nicht berufen könne (UA S. 7, 11 ff.). Damit betrifft
der Grundsatz von Treu und Glauben hier das landesgesetzliche Abstandsflä-
chenrecht und ergänzt dieses nach Maßgabe ungeschriebenen Rechts, womit
er insoweit die Irrevisibilität des Landesbauordnungsrechts teilt (vgl. Beschluss
vom 19. September 2000 - BVerwG 4 B 65.00 - Buchholz 310 § 137 Abs. 1
VwGO Nr. 15 - juris Rn. 3 m.w.N.).
Soweit die Beschwerde auf eine Verletzung des § 30 BauGB verweist, wären
Fragen zum Grundsatz von Treu und Glauben in einem Revisionsverfahren
nicht klärungsbedürftig. Denn das Berufungsgericht hat einen Verstoß gegen
nachbarschützendes Bauplanungsrecht verneint, weil es das Vorhaben der
Beigeladenen als nicht rücksichtslos gegenüber dem Kläger eingestuft hat und
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nicht, weil sich der Kläger auf eine etwaige Rechtsverletzung nach den Grund-
sätzen von Treu und Glauben nicht berufen könnte (UA S. 16).
2. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Der Kläger
legt nicht dar, dass das angefochtene Urteil von Entscheidungen des Bundes-
verwaltungsgerichts abweicht.
Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz ist gemäß § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten,
die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit
dem die Vorinstanz u.a. einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-
gerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift wider-
sprochen hat (Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buch-
holz 310 § 133 VwGO Nr. 26 und vom 13. Juli 1999 - BVerwG 8 B
166.99 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9). Daran fehlt es hier in
Bezug auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. April 2002
- BVerwG 4 B 8.02 - (Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 164 = BauR 2003,
1031) bereits deshalb, weil die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts
in dem genannten Beschluss zur Verwirkung von nachbarlichen Abwehrrechten
ausweislich der Begründung nicht entscheidungstragend waren (vgl. a.a.O. -
juris Rn. 10: „Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an,…“); es han-
delt sich vielmehr um ein „obiter dictum“. Auf eine Divergenz gegenüber einem
„obiter dictum“ kann eine Abweichungsrüge nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht gestützt werden.
Die behauptete Divergenz zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
28. August 1987 - BVerwG 4 N 3.86 - (BVerwGE 78, 85 = Buchholz 406.19
Nachbarschutz Nr. 74) wird von der Beschwerde nicht den Anforderungen des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend nachvollziehbar dargelegt.
3. Schließlich ist auch ein Verfahrensfehler nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht
substantiiert dargetan.
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a) Soweit die Beschwerde einen Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108
Abs. 2 i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) behauptet, genügt sie den Darlegungserfor-
dernissen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) nicht, denn insofern wendet sie sich in
der Art einer Berufungsbegründung nur gegen die materiell-rechtliche Auffas-
sung des Oberverwaltungsgerichts zum nachbarlichen Abwehranspruch. Im
Übrigen legt die Beschwerde nicht dar, was sie bei ausreichender Gehörs-
gewährung noch vorgetragen hätte und inwiefern der weitere Vortrag zur Klä-
rung des geltend gemachten Anspruchs geeignet gewesen wäre (siehe hierzu
etwa Beschlüsse vom 31. Juli 1985 - BVerwG 9 B 71.85 - Buchholz 310 § 98
VwGO Nr. 28 = juris Rn. 6 m.w.N., vom 19. März 1991 - BVerwG 9 B 56.91 -
Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 25 = juris Rn. 7, vom 19. August 1997 - BVerwG
7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 = juris Rn. 4, vom
22. April 1999 - BVerwG 9 B 188.99 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 44
= juris Rn. 3, vom 28. Januar 2003 - BVerwG 4 B 4.03 - Buchholz 310 § 86
Abs. 2 VwGO Nr. 53 = juris Rn. 4 und vom 28. März 2013 - BVerwG 4 B 15.12 -
BauR 2013, 1248 Rn. 14).
b) Mit der weiteren Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe seine aus § 86
Abs. 3 VwGO folgenden Hinweispflichten verletzt, weil zu keinem Zeitpunkt des
Verfahrens die Beurteilung der klägerischen Dachgaube als sog. privilegierte
Dachgaube in Frage gestanden habe, wird ein Verfahrensfehler ebenfalls nicht
schlüssig aufgezeigt. Die Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewäh-
rung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die
Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (Urteil vom 11. November
1970 - BVerwG 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.>; Beschluss vom 4. Juli
2007 - BVerwG 7 B 18.07 - juris Rn. 5). Ein hiergegen verstoßendes Verhalten
des Gerichts liegt aber nur vor, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtli-
chen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung ge-
macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit welcher der
unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu
rechnen brauchte.
Ausweislich der Akten des Oberverwaltungsgerichts wurden alle Beteiligten mit
Verfügung vom 5. Juni 2014 (Bl. 204 d. GA) auf den Beschluss des Oberver-
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waltungsgerichts vom 12. Februar 2010 - 7 B 1840/09 - (Berufung auf Ab-
standsrechtsverletzung des Nachbarn als unzulässige Rechtsausübung bei ei-
genem Verstoß gegen Abstandsflächenrecht) hingewiesen. Damit ist den Erfor-
dernissen des § 86 Abs. 3 VwGO genügt, zumal sich die Beteiligten im weiteren
Verlauf des Verfahrens zu diesem Problem geäußert haben. Im Übrigen legt die
Beschwerde auch insofern nicht dar, was sie auf den von ihr vermissten Hin-
weis noch vorgetragen hätte.
4. Einen Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils
kennt § 132 Abs. 2 VwGO nicht.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die
Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52
Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Decker
Dr. Külpmann
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