Urteil des BVerwG vom 30.06.2014

Grundsatz der Unmittelbarkeit, Grundstück, Gebäude, Zahl

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 51.13
OVG 10 A 348/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juni 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsge-
richts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. August
2013 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigela-
denen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 15 000 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
Die allein auf den Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte
Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Verfahrensfehler liegen
nicht vor.
Die Beschwerde macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe seine Pflicht
zur Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 i.V.m. § 128 VwGO) sowie den Grundsatz der
Unmittelbarkeit der Beweiserhebung (§ 96 VwGO) verletzt; der angegriffene Be-
schluss beruhe auf diesen Verfahrensmängeln. Das Berufungsgericht habe die
klägerseits geforderte Beweisaufnahme durch Einnahme eines Augenscheins
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mit der in sich widersprüchlichen Begründung verneint, dass es für die Beurtei-
lung der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme auf die konkreten
Umstände des Einzelfalls ankomme, die klägerseits geforderte Ortsbesichti-
gung aber gleichwohl nicht notwendig sei. Die entscheidungserhebliche Frage
der Rücksichtslosigkeit des streitgegenständlichen Bauvorhabens lasse sich
aber nicht anhand von Höhenlagen, die in der Bauvorlage vermerkt seien, oder
anhand der Baugenehmigungsunterlagen abschließend beurteilen. Einen die
Zulassung der Revision rechtfertigenden Verfahrensfehler legt die Beschwerde
damit nicht dar.
Der Klägerin kann allerdings nicht zum Nachteil gereichen, dass sie eine Be-
weisaufnahme durch Augenscheineinnahme in der Berufungsinstanz nicht be-
antragt hatte (vgl. hierzu Beschluss vom 5. August 1997 - BVerwG 1 B 144.97 -
NJW-RR 1998, 784). Im Rahmen der Anhörung zu der beabsichtigten Ent-
scheidung nach § 130a VwGO hatte sie sich ausdrücklich auf den Standpunkt
gestellt, dass die Entscheidung über eine Verletzung des Rücksichtnahmege-
bots ohne Kenntnis der Örtlichkeit aus ihrer Sicht weder möglich noch vorstell-
bar sei, und dass sie deshalb auch in der Berufungsinstanz die Durchführung
einer mündlichen Verhandlung sowie einer Augenscheineinnahme für erforder-
lich halte. Das Oberverwaltungsgericht hat gleichwohl nach § 130a VwGO ohne
Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Beschluss entschieden.
Damit war der Klägerin die Möglichkeit genommen, die Augenscheineinnahme
förmlich zu beantragen. Hinsichtlich der gerügten Verletzung des § 86 Abs. 1
VwGO ist die Klägerin deshalb so zu stellen, wie sie stehen würde, wenn sie
den schriftsätzlich angekündigten Beweisantrag in einer mündlichen Verhand-
lung gestellt hätte.
Die erhobene Verfahrensrüge ist gleichwohl nicht begründet. Dem Beschwer-
devorbringen ist nicht zu entnehmen, dass das Oberverwaltungsgericht die sei-
tens der Klägerin geforderte Augenscheineinnahme unter Verletzung ihrer
Sachaufklärungspflicht abgelehnt hätte. Auszugehen ist von dem allgemeinen
Grundsatz, dass das Gericht Umfang und Art der Tatsachenermittlung nach
pflichtgemäßem Ermessen bestimmt (Urteil vom 14. November 1991 - BVerwG
4 C 1.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 236 m.w.N.). So hat der Senat
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bereits entschieden, dass auch von den Beteiligten vorgelegte und zu den Ak-
ten genommene Karten, Lagepläne, Fotos und Luftbildaufnahmen im Rahmen
von § 86 Abs. 1 VwGO unbedenklich verwertbar sein können, wenn sie die Ört-
lichkeit in ihren für die gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Merkmalen so
eindeutig ausweisen, dass sich der mit einer Ortsbesichtigung erreichbare
Zweck mit ihrer Hilfe ebenso zuverlässig erfüllen lässt. Ist dies der Fall, bedarf
es unter dem Gesichtspunkt des Untersuchungsgrundsatzes keiner Durchfüh-
rung einer Ortsbesichtigung. Das gilt nur dann nicht, wenn ein Beteiligter gel-
tend macht, dass die Karten oder Lichtbilder in Bezug auf bestimmte, für die
Entscheidung wesentliche Merkmale keine Aussagekraft besitzen, und dies zu-
treffen kann (stRspr; vgl. z.B. Beschluss vom 3. Dezember 2008 - BVerwG
4 BN 26.08 - ZfBR 2009, 277 = BauR 2009, 617 = BRS 73 Nr. 91 Rn. 3
m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Nach dem materiell-rechtlichen Standpunkt des Oberverwaltungsgerichts, auf
den bei der Prüfung eines Verfahrensfehlers abzustellen ist, auch wenn er ver-
fehlt sein sollte (Beschluss vom 23. Januar 1996 - BVerwG 11 B 150.95 -
Buchholz 424.5 GrdstVG Nr. 1 = NVwZ-RR 1996, 369), kommt den Festsetzun-
gen des Bebauungsplans, von denen bei der Erteilung der Baugenehmigung
befreit wurde, keine drittschützende Wirkung zu. Einen somit entscheidungser-
heblichen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme hat das Oberverwal-
tungsgericht (BA S. 8 ff.) unter zwei Aspekten geprüft und verneint: Zum einen
sei eine wesentliche Beeinträchtigung des klägerischen Grundstücks wegen
einer unzureichenden Belichtung bzw. einer unzumutbaren (zusätzlichen) Ver-
schattung im Hinblick auf die Lage der Grundstücke und der Baukörper zuei-
nander auszuschließen (BA S. 9). Zum anderen entfalte das geplante Vorhaben
gegenüber dem Nachbargrundstück auch keine erdrückende Wirkung. Es sei
als zweigeschossige Bebauung nebst Staffelgeschoss genehmigt und somit ge-
genüber dem dreigeschossigen Wohnhaus auf dem Grundstück der Klägerin
nicht etwa größer dimensioniert. Die Höhe des geplanten Gebäudes biete be-
zogen auf die Höhe des Gebäudes der Klägerin ebenfalls keine Anhaltspunkte
für eine erdrückende Wirkung; dies gelte auch unter Berücksichtigung des von
der Klägerin vorgetragenen Verlaufs der Geländeoberfläche; die Klägerin ver-
kenne die Höhe der genehmigten Geländeoberfläche des Vorhabengrund-
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stücks, die insoweit maßgeblich sei. Hinzu komme, dass die überbaubare
Grundstücksfläche im Verhältnis zum Grundstück der Klägerin ebenfalls unter-
geordnet sei. Schließlich könne auch wegen der im Verhältnis zum streitigen
Vorhaben leicht versetzten Lage des Wohngebäudes der Klägerin, des großzü-
gigen Zuschnitts ihres Grundstücks und der verbleibenden Freiflächen um das
aufstehende Gebäude, die seine Eigenständigkeit gewährleiste, von einer be-
drängenden Wirkung des Vorhabens keine Rede sein (BA S. 10).
Dass das Oberverwaltungsgericht (BA S. 5) die für seine rechtlichen Schluss-
folgerungen für erforderlich gehaltenen tatsächlichen Feststellungen allein der
angefochtenen Baugenehmigung und den zugehörigen Bauvorlagen entnom-
men hat, ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden. Die für die Frage einer
unzumutbaren (zusätzlichen) Verschattung vom Oberverwaltungsgericht für
maßgeblich gehaltene Lage der Grundstücke und der Baukörper lässt sich dem
in den Bauvorlagen enthaltenen Lageplan ohne Weiteres entnehmen. Die Zahl
der zulässigen Geschosse und die überbaubare Grundstücksfläche, auf die das
Oberverwaltungsgericht bei der Frage einer erdrückenden Wirkung des Vorha-
bens abstellt, sind in der Baugenehmigung geregelt. Gleiches gilt für den in der
Baugenehmigung festgesetzten Verlauf der Geländeoberfläche, die das Ober-
verwaltungsgericht anstelle der tatsächlichen Geländeoberfläche rechtlich für
maßgeblich hält. Die vom Oberverwaltungsgericht festgestellte leicht versetzte
Lage des Wohngebäudes, der großzügige Zuschnitt des klägerischen Grund-
stücks und die verbleibenden Freiflächen, ergeben sich wiederum aus den ein-
gereichten Lageplänen. Inwieweit diese herangezogenen Erkenntnismittel in
Bezug auf bestimmte für die Entscheidung wesentliche Merkmale keine Aussa-
gekraft besitzen sollen oder inwiefern eine Ortsbesichtigung einen darüber hi-
nausgehenden Erkenntnisgewinn bringen soll, legt die Beschwerde nicht kon-
kret dar. Ihr pauschal erhobener Einwand, das Oberverwaltungsgericht verhalte
sich widersprüchlich, wenn es annehme, dass es auf die konkreten Umstände
des Einzelfalls ankomme, die geforderte Ortsbesichtigung aber gleichwohl für
nicht notwendig erachte, hilft ihr nicht weiter. Denn die ihm zugrunde liegende
Vorstellung, dass sich die Umstände des Einzelfalls ausschließlich durch ge-
richtlichen Augenschein ermitteln lassen, geht fehl. Das gilt im vorliegenden Fall
umso mehr, als nach den für den Senat gemäß § 137 Abs. 2 VwGO bindenden
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Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts das verfahrensgegenständliche
Bauvorhaben noch nicht verwirklicht worden ist (BA S. 5).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Petz
Dr. Decker
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