Urteil des BVerwG vom 16.03.2010

Treu Und Glauben, Rechtliches Gehör, Ausnahme, Antenne

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 5.10
OVG 1 LC 236/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. März 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 10. November 2009 wird zurück-
gewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens
mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beige-
ladenen, die diese selbst trägt.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die baurechtliche Genehmigung der Errichtung
einer Basisstation für das UMTS-Netz, bestehend aus einem etwa 9,60 m ho-
hen Antennenträger und drei bis zu 2,50 m hohen Technikschränken, auf dem
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Dach eines während des zweiten Weltkriegs errichteten Zivilschutzbunkers. Im
Erdgeschoss des Bunkers üben mit Baugenehmigung aus dem Jahr 1983 Mu-
sikgruppen. Die beiden Obergeschosse werden mit Genehmigung aus dem
Jahr 1991 als Verwaltungs- und Röntgenarchiv eines Krankenhauses genutzt.
Das Verwaltungsgericht gab der Klage statt, weil die streitige Anlage gegen
nachbarschützende Grenzabstandsvorschriften verstoße. Gegenstand der Be-
urteilung sei nicht die genehmigte Anlage allein, sondern der Bunker mit Tech-
nikraum und Antennenmast. Auf die Berufungen der Beklagten und der Beige-
ladenen hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts
geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die ab-
standsrechtliche Zulässigkeit der Antenne beurteile sich isoliert und nicht als
Gesamtheit mit dem darunter stehenden Bunkergebäude (UA S. 9). Der Hin-
weis des Klägers, der Bunker habe seine Funktion und damit seinen Bestands-
schutz verloren, ändere daran nichts. Mit Genehmigungen aus den Jahren 1983
und 1991 seien Nutzungen aufgenommen worden, die seine Substanz
vollständig umfassten. Diese Genehmigungen seien (auch vom Kläger) nicht
angegriffen worden und damit bestandskräftig (UA S. 15). Auch der Gebietser-
haltungsanspruch berechtige den Kläger nicht zur Abwehr des streitigen Vor-
habens (UA S. 21 ff.). Selbst wenn die maßgebliche Umgebung als reines
Wohngebiet einzustufen wäre, könnten fernmeldetechnische Nebenanlagen
dort gemäß § 14 Abs. 2 BauNVO 1990 als Ausnahme zugelassen werden. Nur
ergänzend sei daher auszuführen, dass die Schutzwürdigkeit des klägerischen
Grundstücks nach neuerlicher Überlegung geringer ausfalle, als von den Betei-
ligten und dem Senat im Eilverfahren angenommen. Die Situation des klägeri-
schen Grundstücks werde ganz wesentlich von einer Grundschule mitbestimmt.
Diese habe eine Funktion und eine Größe, die in einem reinen Wohngebiet
nicht erfüllt werden dürfte. Dies habe zur Folge, dass die nach § 34 BauGB
maßgebliche Umgebung als allgemeines Wohngebiet einzustufen und der
Schutzanspruch des Klägers dementsprechend herabgesetzt sei.
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II
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerde beimisst.
1.1 Als rechtsgrundsätzlich bezeichnet der Kläger folgende Frage:
Wie ist ein funktionslos gewordener Zivilschutzbunker des
Zweiten Weltkriegs, der für seinen besonderen Zweck und
seine Funktion im Rahmen seiner Landesverteidigung nur
mittels Dispens genehmigt werden konnte, bezüglich we-
sentlicher Änderungen oder Erweiterungen der Bausub-
stanz baurechtlich zu bewerten?
Mit dieser Frage möchte der Kläger geklärt wissen, ob die Rechtsauffassung
des Oberverwaltungsgerichts, dass die Antenne abstandsrechtlich isoliert und
nicht als Gesamtheit mit dem Zivilschutzbunker zu beurteilen sei, zutrifft. Maß-
gebend hierfür ist das dem irrevisiblen Landesrecht angehörende niedersächsi-
sche Grenzabstandsrecht. Fragen zur Auslegung und Anwendung von Landes-
recht sind in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO).
1.2 Die Frage,
ob eine Baugenehmigung, die nachbarliche Belange be-
rührt und dennoch ohne Kenntnis der Nachbarn erteilt
wurde und deren Ausnutzung für die Nachbarn vollkom-
men unmerklich geschieht, diesen Nachbarn bei einem
Änderungsvorhaben zu deren Nachteil mit Erfolg vor-
gehalten werden kann,
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das Oberverwal-
tungsgericht hat nicht festgestellt, dass die Nutzung des Bunkers durch Musik-
gruppen und als Verwaltungs- und Röntgenarchiv eines Krankenhauses für die
Nachbarn unmerklich geschehen ist. Dass ihm die Nutzung des Bunkers durch
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Musikgruppen bekannt gewesen sei, hat der Kläger in der Beschwerdebegrün-
dung selbst nicht bestritten.
Im Übrigen ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz und aus der bisherigen
Rechtsprechung des Senats, dass, wenn eine Baugenehmigung dem Nachbarn
nicht bekanntgegeben worden ist, gemäß § 70 i.V.m. § 58 VwGO auch die Frist
zur Einlegung eines Widerspruchs nicht zu laufen beginnt; auch in derartigen
Fällen kann die Anfechtungsbefugnis des Nachbarn aber nach den Grundsät-
zen von Treu und Glauben verwirkt sein (Urteil vom 25. Januar 1974 - BVerwG
4 C 2.72 - BVerwGE 44, 294 und Beschluss vom 28. August 1987 - BVerwG
4 N 3.86 - BVerwGE 78, 85). Ob letzteres der Fall ist, hängt maßgebend von
den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab (Beschluss vom 28. August 1987
a.a.O. S. 90).
1.3 Aus den bereits dargelegten Gründen (1.2) rechtfertigt auch die Frage,
wie weit die Pflichten eines Bürgers zum anlasslosen und
präventiven Angriff auf „heimliche“ Baugenehmigungen in
seiner Nachbarschaft reichen, wenn er von den Genehmi-
gungen und ihrer Ausnutzung keine Kenntnis erhält, die
Existenz dieser Genehmigungen ihm jedoch zu einem
späteren Zeitpunkt zu seinem Nachteil vorgehalten wer-
den könnten,
nicht die Zulassung der Revision. Im Übrigen hatte der Kläger spätestens auf-
grund der entsprechenden Feststellungen im Urteil des Verwaltungsgerichts
vom 27. September 2005 Kenntnis von den Genehmigungen der zivilen Nut-
zungen des Bunkers. Widerspruch gegen die Genehmigungen hat er nach den
Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts auch danach nicht erhoben.
2. Die Zulassungsgründe im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, die der Klä-
ger geltend macht, liegen ebenfalls nicht vor. Eine Divergenz im Sinne dieser
Vorschrift ist nur gegeben, wenn die Vorinstanz mit einem die angefochtene
Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz einem in der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in An-
wendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328).
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2.1 Der Kläger macht geltend, das Oberverwaltungsgericht widerspreche mit
seiner Auffassung, die ohne Prüfung der Kubatur des Bunkers erteilten Ge-
nehmigungen aus den Jahren 1983 und 1991 hätten eine „vollständige Legali-
sierung“ bewirkt, mehreren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur
baurechtlichen Beurteilung von Nutzungsänderungen nach § 34 BauGB.
Insoweit verkennt der Kläger, dass sich die Ausführungen des Oberverwal-
tungsgerichts zur Legalisierungswirkung der Genehmigungen nicht auf § 34
BauGB, sondern auf das niedersächsische Grenzabstandsrecht und damit auf
irrevisibles Landesrecht beziehen (vgl. UA S. 14). Schon deshalb liegt eine Di-
vergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht vor. Unabhängig davon
bezeichnet der Kläger keinen abstrakten Rechtssatz, mit dem das Oberverwal-
tungsgericht von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts abgewi-
chen sein könnte; er wendet sich vielmehr gegen Ausführungen zu Inhalt und
Reichweite der im vorliegenden Streitfall erteilten Genehmigungen.
2.2 Eine Divergenz zum Vorhabenbegriff im Sinne des § 29 BauGB liegt eben-
falls nicht vor. Einen Rechtssatz zur Auslegung des § 29 BauGB hat das Ober-
verwaltungsgericht nicht aufgestellt. Wie bereits dargelegt, hat es die baurecht-
liche Beurteilung lediglich im Hinblick auf die landesrechtlichen Grenzabstands-
vorschriften auf die neu hinzutretende Sendeanlage beschränkt.
Die im Rahmen der Divergenzrüge als rechtsgrundsätzlich bezeichnete Frage,
ob ein materiell-illegales Gebäude ohne erneute baurecht-
liche Prüfung einem neuen Nutzungszweck zugeführt
werden darf,
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn das Oberverwal-
tungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Baugenehmigungen aus den
Jahren 1983 und 1991 bestandskräftig geworden seien (UA S. 15).
3. Schließlich greifen auch die Verfahrensrügen nicht durch.
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3.1 Der Kläger macht geltend, das Oberverwaltungsgericht habe seine Hin-
weispflicht nach § 86 Abs. 3 VwGO sowie den Anspruch des Klägers auf recht-
liches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, weil es die Be-
teiligten nicht vor der mündlichen Verhandlung auf seine Auffassung hingewie-
sen habe, dass die maßgebliche Umgebung nicht - wie bisher von den Beteilig-
ten und im Eilverfahren auch dem Oberverwaltungsgericht selbst angenom-
men - als reines, sondern als allgemeines Wohngebiet einzustufen sei. Zu ei-
nem solchen Hinweis war das Oberverwaltungsgericht schon deshalb nicht
verpflichtet, weil die Abweisung der Klage auf der Einstufung als allgemeines
Wohngebiet nicht beruht. Das Oberverwaltungsgericht hat einen Gebietserhal-
tungsanspruch auch für den Fall verneint, dass die maßgebliche Umgebung als
reines Wohngebiet einzustufen wäre; dann wäre das streitige Vorhaben nach
§ 14 Abs. 2 BauNVO 1990 im Wege der Ausnahme zu Recht zugelassen wor-
den; auf die Befreiung komme es nicht an (UA S. 28). „Nur ergänzend“ (UA
S. 33), d.h. als weitere selbstständig tragende Erwägung, hat es dargelegt,
dass die Schutzwürdigkeit des klägerischen Grundstücks nach neuerlicher
Überlegung geringer ausfalle, weil die maßgebliche Umgebung wegen einer
dort vorhandenen Grundschule nur als allgemeines Wohngebiet einzustufen sei
(UA S. 33 f.). Da diese ergänzende Erwägung hinweggedacht werden kann,
wäre auch die auf S. 39 der Beschwerdebegründung als rechtsgrundsätzlich
bezeichnete Frage in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich.
3.2 Einen Verfahrensfehler sieht die Beschwerde schließlich darin, dass das
Oberverwaltungsgericht auf der Grundlage einer von der Beigeladenen wäh-
rend des Berufungsverfahrens vorgelegten „Standortanalyse“ den Einwand des
Klägers zurückgewiesen hat, dass ein anderer Standort nördlich der Autobahn
zur Versorgung des Gebiets mit UMTS-Diensten besser geeignet sei (vgl. UA
S. 30). Die Analyse leide unter erheblichen und offenkundigen Mängeln.
Ein Aufklärungsmangel (§ 86 Abs. 1 VwGO) ergibt sich aus diesem Vortrag
nicht. Die Beschwerde legt nicht - wie dies erforderlich wäre (Beschluss vom
19. August 1997 a.a.O.) - dar, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Auf-
klärungsbedarf bestanden hat und welche tatsächlichen Feststellungen bei
Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung getroffen worden wä-
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ren. Der Sache nach rügt sie, dass das Oberverwaltungsgericht ihren Einwän-
den gegen die Verwertbarkeit der Standortanalyse nicht gefolgt ist. Mit Angriffen
gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Berufungsgerichts kann ein
Verfahrensmangel im Sinne § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO nicht begründet werden,
da derartige Fehler in der Regel - und so auch hier - revisionsrechtlich nicht
dem Verfahrensrecht, sondern der materiellen Rechtsanwendung zuzurechnen
wären.
Auch soweit der Kläger eine Verletzung des fairen Verfahrens rügt, weil das
Oberverwaltungsgericht zwar die von der Beigeladenen erst nach Bauantrag-
stellung und Erlass der Baugenehmigung vorgelegte Standortanalyse, nicht
aber das ihm günstige Inkrafttreten der Richtlinie 2009/114/EG berücksichtigt
habe, ist ein Verfahrensfehler nicht schlüssig dargelegt. Bei der Prüfung, ob der
Vorinstanz ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, ist von deren materiellrechtli-
cher Rechtsauffassung auszugehen, selbst wenn diese verfehlt sein sollte (Ur-
teil vom 25. März 1987 - BVerwG 6 C 10.84 - Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 183 S. 4, stRspr). Das Oberverwaltungsgericht war der Rechtsauffassung,
dass dem Bauherrn nachteilige Veränderungen der Sach- und Rechtslage wäh-
rend eines Nachbarstreitverfahrens nicht zu berücksichtigen sind (UA S. 31).
Ausgehend hiervon war die Richtlinie 2009/114/EG nicht berücksichtigungsfä-
hig. Begründete Einwände gegen die Verwertbarkeit der Standortanalyse be-
standen demgegenüber nach seiner Rechtsauffassung nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
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