Urteil des BVerwG vom 12.02.2009

Gemeinde, Abgrenzung, Bestätigung, Konzept

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 5.09
OVG 10 A 1512/07
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Februar 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. November 2008
wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 60 075 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte
Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Daher kann offen bleiben, ob dem Antrag auf
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattzugeben wäre.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
1.1 Die Beschwerde hält für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig,
welche Bedeutung einem von der Gemeindevertretung
beschlossenen städtebaulichen Konzept zukommt, insbe-
sondere ob einem solchen Konzept bei der räumlichen
Abgrenzung eines zentralen Versorgungsbereichs präjudi-
zierende Wirkung zukommt (Frage 1) und
welche Prüfungskompetenz Verwaltungsgerichte über von
einer Gemeindevertretung beschlossene städtebauliche
Konzepte ausüben dürfen (Frage 2).
Diese Fragen bedürfen, soweit sie entscheidungserheblich wären, nicht der
Klärung in einem Revisionsverfahren.
Das Oberverwaltungsgericht hat den Beklagten verpflichtet, der Klägerin den
beantragten bauplanungsrechtlichen Vorbescheid für die Erweiterung ihres Le-
bensmittelmarktes mit 958 m² Verkaufsfläche um eine zusätzliche Verkaufsflä-
che von 534,71 m² zu erteilen, weil das Vorhaben die Voraussetzungen des
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§ 34 Abs. 1 BauGB erfülle und ihm § 34 Abs. 3 BauGB nicht entgegenstehe
(UA S. 11). Schädliche Auswirkungen auf den zentralen Versorgungsbereich
Wickrath-Mitte seien schon deshalb nicht zu erwarten, weil das Vorhaben-
grundstück diesem Versorgungsbereich noch zuzurechnen sei (UA S. 14). Die
räumliche Abgrenzung eines zentralen Versorgungsbereiches unterliege der
vollen gerichtlichen Kontrolle und richte sich nach den tatsächlich vorhandenen
Gegebenheiten (UA S. 16). Insgesamt betrachtet erstrecke sich der zentrale
Versorgungsbereich Wickrath-Mitte ohne wesentliche Unterbrechungen mit ei-
ner breiten Palette von Einzelhandels- und Dienstleistungsangeboten von der
Poststraße über die Quadtstraße und den Wickrather Markt entlang der Be-
ckrather Straße bis zum Aldi-Markt. Die im Nahversorgungs- und Zentrenkon-
zept dargestellte Zäsur zwischen dem B-Zentrum Wickrath-Mitte und dem „nicht
zentralen Versorgungsstandort Lederfabrik Wickrath“ mit einem Abstand von
lediglich 50 m finde in der Örtlichkeit keine Bestätigung. Vielmehr bestehe durch
die vorhandenen Nutzungen eine unmittelbare Verknüpfung (UA S. 19).
Das Oberverwaltungsgericht hat mithin nicht in Abrede gestellt, dass sich in
Wickrath-Mitte ein zentraler Versorgungsbereich befindet. Die in der Literatur
umstrittene Frage, ob ein räumlich abgrenzbarer Bereich des Gemeindegebiets
auch dann ein zentraler Versorgungsbereich im Sinne des § 34 Abs. 3 BauGB
sein kann, wenn er aufgrund der bislang vorhandenen Einzelhandelsnutzungen,
Dienstleistungs- und gastronomischen Angebote eine Versorgungsfunktion über
den unmittelbaren Nahbereich hinaus nicht oder nur eingeschränkt erfüllen
kann, die Gemeinde aber in einem städtebaulichen Entwicklungskonzept
gemäß § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB beschlossen hat, diesen Bereich zu einem
zentralen Versorgungsbereich weiterzuentwickeln und aufzuwerten (bejahend:
Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 34 Rn. 85; Krautzberger, in:
Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 10. Aufl. 2007, § 34 Rn. 55; Rieger, in:
Schrödter, BauGB, 7. Aufl. 2006 § 34 Rn. 74; a.A.: Bracher, in: Gelzer/
Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 7. Aufl. 2004, Rn. 2068; Dürr, in: Brügel-
mann, BauGB, § 34 Rn. 106e), würde sich mithin in einem Revisionsverfahren
nicht stellen. Im vorliegenden Verfahren geht es allein um die Frage, ob und
inwieweit die Gemeinde einen tatsächlich vorhandenen zentralen Versorgungs-
bereich durch ein städtebauliches Entwicklungskonzept mit Wirkung für § 34
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Abs. 3 BauGB räumlich eingrenzen kann. Dass informelle Planungen die aus
den tatsächlichen Gegebenheiten ableitbaren Schlussfolgerungen bestätigen
und ggf. präzisieren können, hat das Oberverwaltungsgericht nicht in Frage
gestellt (UA S. 16). Entscheidungserheblich ist mithin lediglich, ob eine Ge-
meinde einen vorhandenen zentralen Versorgungsbereich eingrenzen kann,
auch wenn die von ihr gezogene Grenze in der Örtlichkeit keine Bestätigung
findet und dadurch Grundstücke von dem zentralen Versorgungsbereich abge-
trennt werden, die mit diesem durch die vorhandenen Nutzungen unmittelbar
verknüpft sind. Denn an die tatsächlichen Feststellungen zu den örtlichen Ge-
gebenheiten und ihre tatrichterliche Würdigung ist der Senat gemäß § 137
Abs. 2 VwGO gebunden.
Dass die genannte Frage mit dem Oberverwaltungsgericht zu verneinen ist,
ergibt sich ohne Weiteres aus dem Gesetz. Gemäß § 34 Abs. 3 BauGB dürfen
von einem Vorhaben nach Abs. 1 oder 2 keine schädlichen Auswirkungen auf
zentrale Versorgungsbereiche in der Gemeinde oder in anderen Gemeinden zu
erwarten sein. Ist ein Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig, weil es sich in
die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (§ 34 Abs. 1 BauGB), nach der
tatsächlich vorhandenen Stadtstruktur innerhalb eines zentralen Versorgungs-
bereiches liegt und auch auf andere zentrale Versorgungsbereiche keine
schädlichen Auswirkungen hat (§ 34 Abs. 3 BauGB), kann ein städtebauliches
Entwicklungskonzept hieran nichts ändern. Denn ein solches Konzept enthält
- anders als ein Bebauungsplan z.B. mit Festsetzungen auf der Grundlage von
§ 9 Abs. 2a BauGB - keine rechtsverbindlichen Festsetzungen (vgl. § 8 Abs. 1
BauGB). Selbst wenn der Schutz zentraler Versorgungsbereiche ein öffentlicher
Belang sein sollte, der in gewissen Grenzen einer Konkretisierung durch
städtebauliche Entwicklungskonzepte zugänglich ist, wären diese Grenzen je-
denfalls überschritten, wenn die Gemeinde - wie nach den tatsächlichen Fest-
stellungen des Oberverwaltungsgerichts hier - einen vorhandenen zentralen
Versorgungsbereich in einer Weise eingrenzt, die in den tatsächlichen Gege-
benheiten keine Entsprechung findet (vgl. auch Uechtritz, NVwZ 2004, 1025
<1030>; Reichelt, Baurecht 2006, 38 <42>). Jedenfalls ob diese Grenzen über-
schritten sind, haben die Verwaltungsgerichte zu prüfen (Frage 2).
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1.2 Die Frage,
ob wegen einer Beschränkung der Prüfungskompetenz
der Verwaltungsgerichte eine analoge Anwendung des
§ 47 VwGO erforderlich ist,
würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen. Denn nach der Rechts-
auffassung des Oberverwaltungsgerichts kommt dem Einzelhandelskonzept
des Beklagten bei der Abgrenzung des hier in Rede stehenden zentralen Ver-
sorgungsbereichs im Rahmen der Anwendung des § 34 Abs. 3 BauGB keine
bindende Rechtswirkung zu.
2. Die Rüge, das angefochtene Urteil weiche im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2007
- BVerwG 4 C 7.07 - (BVerwGE 129, 307) ab, ist nicht in zulässiger Weise er-
hoben.
Die Beschwerde bezeichnet nicht - wie dies erforderlich wäre (Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - NJW 1997, 3328) - einen die ange-
fochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz, mit dem die Vorin-
stanz einem ebensolchen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts wider-
sprochen haben sollte. Im Übrigen trifft es nicht zu, dass das Oberverwaltungs-
gericht eine unmittelbare Verknüpfung des klägerischen Grundstücks mit dem
im Einzelhandelskonzept dargestellten Versorgungsbereich allein aufgrund von
Dienstleistungsnutzungen bejaht hat. Nach seinen Feststellungen befindet sich
in einer Entfernung von lediglich ca. 60 m von der im Einzelhandelskonzept als
Grenze bezeichneten Kirchstraße ein Takko-Modemarkt (UA S. 18). Unmittel-
bar südlich des Parkplatzes des Modemarktes befinden sich auf der anderen
Seite der Wickrathberger Straße der Gastronomiebetrieb „Brauhaus“ sowie die
Einfahrt zum Parkplatz des Lebensmittelmarktes der Klägerin (UA S. 19).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
Dr. Philipp
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Bauplanungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
BauGB
§ 1 Abs. 6 Nr. 11, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2a, § 34 Abs. 1 und 3
Stichworte:
Großflächiger Einzelhandel; zentraler Versorgungsbereich; schädliche Auswir-
kungen; Verkaufsfläche; städtebauliches Entwicklungskonzept.
Leitsatz:
Die Gemeinde kann einen tatsächlich vorhandenen zentralen Versorgungsbe-
reich durch ein städtebauliches Entwicklungskonzept nicht mit Wirkung für § 34
Abs. 3 BauGB räumlich eingrenzen, wenn die von ihr gezogene Grenze in der
Örtlichkeit keine Bestätigung findet und dadurch Grundstücke von dem zentra-
len Versorgungsbereich abgetrennt werden, die mit diesem durch die vorhan-
denen Nutzungen unmittelbar verknüpft sind.
Beschluss des 4. Senats vom 12. Februar 2009 - BVerwG 4 B 5.09
I.
VG Düsseldorf vom 19.04.2007 - Az.: VG 9 K 6272/06 -
II. OVG Münster vom 06.11.2008 - Az.: OVG 10 A 1512/07 -