Urteil des BVerwG vom 07.09.2005

Aufschiebende Wirkung, Unmittelbare Anwendbarkeit, Europäischer Gerichtshof, Hauptsache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 49.05
VGH 12 A 8/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. September 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. J a n n a s c h und die Richterin
am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
beschlossen:
Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
28. Juni 2005 - 12 Q 9/05 - wird nicht geändert.
Der Kläger trägt die Kosten des Abänderungsverfahrens ein-
schließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Abänderungsver-
fahren auf 25 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I.
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat durch Urteil vom 28. Juni
2005 die Klage des Klägers, eines anerkannten Vereins für Umwelt- und Natur-
schutz, gegen den Planfeststellungsbeschluss des Hessischen Ministeriums für Wirt-
schaft, Verkehr und Landesentwicklung vom 26. November 2004 zur Errichtung einer
Werft für das Großraumflugzeug Airbus A 380 am Verkehrsflughafen Frankfurt/Main
im Wesentlichen abgewiesen und die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen. Mit
Beschluss vom selben Tage (12 Q 9/05) hat der Verwaltungsgerichtshof den Antrag
des Klägers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den genannten Plan-
feststellungsbeschluss anzuordnen, abgelehnt. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom
28. Juli 2005 beim Verwaltungsgerichtshof bereits vor Zustellung der schriftlichen
Urteilsgründe Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Er hat
gebeten, dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde noch vor dem
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1. September 2005 vorzulegen, damit das Revisionsgericht die Möglichkeit erhalte,
gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Am 1. September 2005 wolle der Beigeladene mit der im Planfeststellungsbeschluss
zugelassenen Rodung des Waldes auf der für den Bau der Halle vorgesehenen Flä-
che beginnen. Der Verwaltungsgerichtshof hat der Beschwerde durch Beschluss vom
2. August 2005 nicht abgeholfen. Das Urteil wurde dem Kläger am 11. August 2005
zugestellt. Der Senat hat dem Kläger Gelegenheit gegeben, bis 29. August 2005 zur
Frage einer Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO weiter vorzutragen. Die
Beigeladene hat auf Anregung des Senats erklärt, mit den Rodungsarbeiten nicht vor
dem 12. September 2005 zu beginnen.
II.
Der Senat macht von seiner Befugnis, den Beschluss des Verwaltungs-
gerichtshofs vom 28. Juni 2005 - 12 Q 9/05 - von Amts wegen zu ändern, keinen
Gebrauch.
1. Die prozessualen Voraussetzungen für eine Entscheidung nach § 80
Abs. 7 Satz 1 VwGO liegen vor. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht der Haupt-
sache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder auf-
heben. Der Senat ist durch den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom
2. August 2005, der Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision
nicht abzuhelfen, Gericht der Hauptsache geworden (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom
11. Mai 1962 - BVerwG 5 B 76.61 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 32, vom 24. März
1994 - BVerwG 1 B 134.93 - InfAuslR 1994, 395 und vom 14. November 2002
- BVerwG 4 VR 13.02 - nicht veröffentlicht). Die Entscheidung des Verwaltungsge-
richtshofs über die Nichtabhilfe war zwar verfrüht. Denn das Ausgangsgericht hat
über alle geltend gemachten Revisionszulassungsgründe in eigener Verantwortung
und - für den Fall der Revisionszulassung - mit bindender Wirkung für das Revisions-
gericht (§ 132 Abs. 3 VwGO) zu entscheiden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. Juli
1997 - BVerwG 9 B 552.97 - NVwZ 1997, 1209 <1210>). Eine solche Entscheidung
war am 2. August 2005 nicht möglich, denn die Frist für die Begründung der Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision war mangels Zustellung des voll-
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ständigen Urteils noch nicht einmal in Lauf gesetzt (§ 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO) und
der Kläger hatte sich ausdrücklich vorbehalten, seine Beschwerdebegründung zu
ergänzen. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts als Gericht der Haupt-
sache wird jedoch auch durch einen verfrühten Nichtabhilfebeschluss begründet (vgl.
BVerwG, Beschlüsse vom 11. Mai 1962, a.a.O. und vom 2. Juli 1982 - BVerwG 1 CB
14.82 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 125, jeweils zu einer Nichtabhilfeentscheidung
auf eine formfehlerhafte Beschwerde). Das gilt jedenfalls, wenn das Ausgangsgericht
nicht willkürlich vor Ablauf der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist über
die Nichtabhilfe entschieden hat, denn dann wäre der Anspruch der Beteiligten aus
Art. 101 Abs. 1 GG auf den gesetzlichen Richter verletzt (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 10. Juni 2005 - 1 BvR 2790/04 - EuGRZ 2005, 1233; BVerfGE 29, 45 <49>;
BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 1984 - BVerwG 4 B 191.83 - BVerwGE 69, 30
<36>). Der Nichtabhilfebeschluss des Verwaltungsgerichtshofs ist nicht willkürlich.
Der Kläger hatte den aus seiner Sicht wesentlichen Grund für die Zulassung der Re-
vision - die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs
über den gemeinschaftsrechtlich gebotenen Schutz für ein gemeldetes, aber noch
nicht in die Gemeinschaftsliste aufgenommenes FFH-Gebiet - geltend gemacht; in-
soweit konnte der Verwaltungsgerichtshof über die Abhilfe bzw. Nichtabhilfe ent-
scheiden. Hinzu kommt, dass der Kläger ausdrücklich beantragt hatte, unverzüglich
über die Abhilfe zu entscheiden und gegebenenfalls die Beschwerde dem Bundes-
verwaltungsgericht vorzulegen. Weitere Zulassungsgründe sind - ungeachtet der Zu-
ständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts als Gericht der Hauptsache - gemäß
§ 133 Abs. 3 Satz 2 VwGO beim Verwaltungsgerichtshof einzureichen, damit dieser
gemäß § 133 Abs. 5 Satz 1 VwGO auch insoweit über die Abhilfe befinden kann (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 24. Juli 1997, a.a.O.).
2. Das Gericht der Hauptsache hat gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO
unabhängig von etwaigen Anträgen oder Anregungen der Beteiligten auf der Grund-
lage seiner Rechtserkenntnis über die Anordnung oder Wiederherstellung der auf-
schiebenden Wirkung der Klage zu entscheiden; es gelten insoweit die gleichen
Grundsätze wie für eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. BVerwG, Be-
schlüsse vom 11. Juni 1992 - BVerwG 4 ER 302.92 u.a. - juris Rn. 18 und vom
21. Juli 1994 - BVerwG 4 VR 1.94 - BVerwGE 96, 239 <240>). Die Entscheidung
nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO ist keine Rechtsmittelentscheidung gegen die in der
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Vorinstanz im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes getroffene Entscheidung
(vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. Juli 1988 - BVerwG 7 C 88.87 - BVerwGE 80, 16
<17>).
Hier überwiegt das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Vollzie-
hung des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses das vom Kläger vertretene
Interesse, die Schaffung vollendeter Tatsachen durch Rodung des Waldes vor einer
endgültigen Entscheidung in der Hauptsache zu verhindern. Denn das klageabwei-
sende Urteil des Verwaltungsgerichtshofs wird voraussichtlich Bestand haben. Die
bisherige Begründung der Beschwerde würde die Zulassung der Revision nicht
rechtfertigen. Es drängt sich auch nicht auf, dass die Revision aus anderen, bisher
nicht vorgebrachten Gründen zuzulassen und der Klage im Ergebnis stattzugeben
sein könnte. Unter diesen Umständen hat es bei dem in § 10 Abs. 6 Satz 1 LuftVG
angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage, der
auf gesetzgeberischer Ebene zur beschleunigten Umsetzung luftrechtlicher Pla-
nungsentscheidungen beitragen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005
- BVerwG 4 VR 1005.04 - NVwZ 2005, 689), zu bleiben.
Der Kläger macht in erster Linie geltend, dass das angefochtene Urteil
auf einem Verfahrensfehler beruhe (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Der Verwaltungsge-
richtshof habe das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 94 VwGO bis zu
einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über den Vorlagebeschluss des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. April 2005 - 8 A 02.40040 u.a. (juris) -
aussetzen müssen. Die in diesem Beschluss dem Europäischen Gerichtshof als dem
insoweit zuständigen gesetzlichen Richter vorgelegte Frage sei auch hier entschei-
dungserheblich, nämlich die Frage, welches Schutzregime Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
92/43/EWG des Rates zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildle-
benden Tiere und Pflanzen vom 21. Mai 1992 (ABl EG Nr. L 206 S. 7 - FFH-RL) in
Verbindung mit der sechsten Begründungserwägung dieser Richtlinie unter Berück-
sichtigung des Frustrationsverbotes gemäß Art. 10 Abs. 2 EGV im Anschluss an das
Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Januar 2005 - C-117/03 - (NVwZ
2005, 311) für solche Gebiete verlange, die als Gebiete von gemeinschaftlicher Be-
deutung bestimmt werden können, bevor sie in die von der Kommission der Europäi-
schen Gemeinschaft nach dem Verfahren des Art. 21 der Richtlinie festgelegte Liste
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der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung aufgenommen worden sind. Darüber
hinaus müsse die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zugelassen werden, denn die genannte Frage bedürfe
der Klärung in einem Revisionsverfahren.
Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Der
Verwaltungsgerichtshof war nicht verpflichtet, das Verfahren im Hinblick auf den Vor-
lagebeschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 19. April 2005 auszu-
setzen. Soweit sich die genannte Frage in dem erstrebten Revisionsverfahren stellen
würde, kann sie auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs und des Bundesverwaltungsgerichts ohne Durchführung eines Revisionsverfah-
rens und ohne eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs eindeutig im
Sinne des angefochtenen Urteils beantwortet werden.
Um auf der sicheren Seite zu stehen, ist die Planfeststellungsbehörde im
vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass das aufgrund seiner Ausstattung mit
nichtprioritären Lebensräumen und Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse nach
Anhang I und II der FFH-RL gemeldete Gebiet in die Gemeinschaftsliste aufgenom-
men wird; sie hat den Plan für die Errichtung der A 380-Werft an dem Schutzstan-
dard des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL (§ 20 d HENatG, § 34 BNatSchG) gemessen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Entscheidung der Planfeststellungsbehörde ü-
berprüft und bestätigt, dass die Voraussetzungen für eine Ausnahmeentscheidung
nach Art. 6 Abs. 4 Unterabsatz 1 FFH-RL bzw. § 20 d Abs. 3 HENatG vorliegen. Zu
entscheiden wäre in einem Revisionsverfahren mithin nur, ob die hier erfolgte Prü-
fung am Maßstab des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL dem gemeinschaftsrechtlich gebo-
tenen Schutzstandard für gemeldete, aber noch nicht in die Gemeinschaftsliste auf-
genommene Gebiete genügt. Dass diese Frage - wie in dem angefochtenen Urteil
geschehen - zu bejahen ist, unterliegt nach dem Urteil des Europäischen Gerichts-
hofs vom 13. Januar 2005 - C-117/03 - keinem vernünftigen, zur Einholung einer Vo-
rabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs verpflichtenden (vgl. EuGH, Urteil
vom 6. Oktober 1982 - Rs. 283/81 - Slg. 1982 S. 3415 ff. Rn. 16) Zweifel.
An dieser Erkenntnis ändert auch der Vorlagebeschluss des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 19. April 2005 nichts. Denn ihm liegt ein anderer Sach-
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verhalt zugrunde als derjenige, über den im vorliegenden Verfahren zu entscheiden
ist. Für den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bestand keine Veranlassung, zu der
im vorliegenden Verfahren zu beantwortenden Frage eine Vorabentscheidung des
Europäischen Gerichtshofs einzuholen. In dem im dortigen Verfahren angefochtenen
Planfeststellungsbeschluss wurde - anders als hier - weder eine Prüfung am Maß-
stab des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL vorgenommen noch wurden sonstige Schutz-
maßnahmen für die betroffenen Gebiete untersucht. Die Planfeststellungsbehörde
hatte keine Anhaltspunkte dafür gesehen, dass die Erhaltungsziele potenzieller
Schutzgebiete im Sinne der FFH-RL nachhaltig und erheblich beeinträchtigt würden
(vgl. BayVGH, Beschluss vom 19. April 2005 - 8 A 02.40040 - BA S. 6). Die von dem
Plan betroffenen Gebiete wurden erst nach der Feststellung des Plans der Kommis-
sion gemeldet (vgl. a.a.O., BA S. 6). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof konnte
- anders als die Planfeststellungsbehörde - nicht ausschließen, dass die Planung zu
erheblichen Beeinträchtigungen eines prioritären Lebensraumtyps führen werde (vgl.
a.a.O., BA S. 11). Im dortigen Verfahren geht es mithin um die Frage, ob auch ein
weniger strenger Schutzstandard als der des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL den ge-
meinschaftsrechtlichen Anforderungen genügen kann.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 13. Januar 2005
- a.a.O. - Art. 4 Abs. 5 der FFH-RL dahin ausgelegt, dass die in Art. 6 Absätze 2 bis 4
der Richtlinie vorgesehenen Schutzmaßnahmen nur für die Gebiete getroffen werden
müssen, die nach Art. 4 Abs. 2 Unterabsatz 3 der Richtlinie in die von der Kommissi-
on nach dem Verfahren des Art. 21 der Richtlinie festgelegte Liste aufgenommen
worden sind. Er hat mithin - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats
(vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Mai 1998 - BVerwG 4 A 9.97 - BVerwGE 107, 1
<22 ff.>, vom 27. Januar 2000 - BVerwG 4 C 2.99 - BVerwGE 110, 302 <308 f.>,
vom 27. Oktober 2000 - BVerwG 4 A 18.99 - BVerwGE 112, 140 <156 f.> und vom
17. Mai 2002 - BVerwG 4 A 28.01 - BVerwGE 116, 254 <257 ff.>) - eine unmittelbare
Anwendbarkeit der Richtlinie vor Aufnahme eines Gebiets in die Gemeinschaftsliste
verneint. Er hat weiter entschieden, dass die Mitgliedstaaten in Bezug auf gemeldete
Gebiete, insbesondere solche, die prioritäre Lebensraumtypen oder prioritäre Arten
beherbergen, nach der Richtlinie verpflichtet sind, Schutzmaßnahmen zu ergreifen,
die im Hinblick auf das mit der Richtlinie verfolgte Erhaltungsziel geeignet sind, die
erhebliche ökologische Bedeutung, die diesen Gebieten auf nationaler Ebene zu-
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kommt, zu wahren. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass ohne einen angemesse-
nen Schutz dieser Gebiete vom Zeitpunkt der Meldung an die Verwirklichung der u.a.
in der sechsten Begründungserwägung und in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie genannten
Ziele der Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und
Pflanzen gefährdet seien (Rn. 27 der Entscheidung). Einen derartigen "angemesse-
nen Schutz" haben der angefochtene Planfeststellungsbeschluss und ihn bestätigend
das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs dem in Rede stehenden Meldegebiet zu-
kommen lassen.
Welche Anforderungen an einen angemessenen Schutz im Einzelnen
zu stellen sind, braucht hier nicht abschließend geklärt zu werden. Bei Vorhaben der
vorliegenden Art (Infrastrukturvorhaben) stellt jedenfalls die Anlegung der materiell-
rechtlichen Maßstäbe des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL in aller Regel - und so auch
hier - eine Schutzmaßnahme dar, die im Hinblick auf das mit der Richtlinie verfolgte
Erhaltungsziel geeignet ist, die erhebliche ökologische Bedeutung des Gebiets zu
wahren. Es ist nicht, wie der Kläger in Anschluss an Gellermann (NuR 2005, 433
<435 f.>; ebenso Nebelsieck, NordÖR 2005, 235 <237 f.>) meint, geboten, bis zur
Entscheidung der Kommission über die Aufnahme des Gebiets in die Gemeinschafts-
liste jedwede Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der
Arten sowie Störungen von Arten, für die die Gebiete ausgewiesen worden sind, oh-
ne die Möglichkeit einer Ausnahmeentscheidung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-RL zu ver-
meiden. Auch nach Aufnahme eines Gebiets in die Gemeinschaftsliste wird das all-
gemeine Verschlechterungsverbot (vgl. Art. 6 Abs. 2 FFH-RL) für Pläne und Projekte
durch einen Ausnahmevorbehalt (Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL) durchbrochen. Ein
Grund, ein gemeldetes FFH-Gebiet stärker vor als nach der Aufnahme in die Ge-
meinschaftsliste zu schützen, ist nicht ersichtlich. Der insoweit allein in Betracht
kommende Anreiz- bzw. Sanktionsgedanke, den der EuGH zur Rechtfertigung der
Dualität der Schutzregelungen nach Art. 4 Abs. 4 Satz 1 der Richtlinie 79/409/EWG
des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten
(ABl EG Nr. L 103 S. 1 - VSR) für faktische Vogelschutzgebiete einerseits und nach
Art. 7 der FFH-RL für zu besonderen Schutzgebieten erklärte Vogelschutzgebiete
andererseits herangezogen hat (vgl. EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2000 - Rs. C-
374/98 - Slg. 2000, I-10799 Rn. 51 ff. - Basses Corbières), kann, jedenfalls wenn der
Mitgliedstaat das Gebiet als FFH-Gebiet gemeldet hat, ein absolutes Verschlechte-
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rungsverbot nicht rechtfertigen. Wenn der Mitgliedstaat seiner Meldeverpflichtung in
Bezug auf ein bestimmtes Gebiet nachgekommen ist, bedarf es eines hierauf gerich-
teten Anreizes nicht mehr. Wann die Kommission über die Aufnahme des Gebiets in
die Liste entscheidet, hängt nicht allein vom Mitgliedstaat und der Vollständigkeit sei-
ner Meldungen im Übrigen, sondern auch vom Meldeverhalten anderer Mitgliedstaa-
ten und vor allem von der Kommission selbst ab. Der Mitgliedstaat zieht, wenn er das
Vorhaben an dem Schutzstandard des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL misst, aus der
verspäteten Meldung des Gebiets auch keinen Vorteil. Die Entscheidung des Ge-
richtshofs vom 13. Januar 2005 enthält im Übrigen weder eine Bezugnahme auf sei-
ne Rechtsprechung zu den Vogelschutzgebieten noch einen sonstigen Hinweis dar-
auf, dass ein absolutes Verschlechterungsverbots gemeinschaftsrechtlich geboten
sein könnte.
Die hilfsweise geltend gemachten weiteren Gründe für die Zulassung
der Revision liegen entweder nicht vor oder sind nicht in der nach § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO erforderlichen Weise dargelegt. Insoweit bleibt die Begründung dem
Beschluss über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision vorbehalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3
VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Paetow Dr. Jannasch Dr. Philipp
Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Verwaltungsprozessrecht
Fachpresse: ja
Luftverkehrsrecht
Naturschutzrecht
Rechtsquellen:
VwGO
§ 80 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 7 Satz 1, § 133 Abs. 3 Satz 2,
§ 133 Abs. 5 Satz 1
LuftVG
§ 10 Abs. 6 Satz 1
BNatSchG
§ 34
HENatG
§ 20 d
FFH-RL
Art. 4 Abs. 5, Art. 6 Abs. 2 bis 4, Art. 7
Vogelschutz-RL Art. 4 Abs. 4 Satz 1
Stichworte:
Gericht der Hauptsache; Nichtabhilfebeschluss, verfrühter -; FFH-Gebiet, gemelde-
tes -; Gemeinschaftsliste; Vorabentscheidung; Europäischer Gerichtshof; Schutz-
maßnahmen; angemessener Schutz; Verschlechterungsverbot; Ausnahmeentschei-
dung; Vogelschutzgebiet, faktisches -.
Leitsätze:
Das Bundesverwaltungsgericht wird durch den Beschluss des Oberverwaltungsge-
richts, der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht abzuhelfen, Ge-
richt der Hauptsache im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO. Das gilt auch, wenn
das Oberverwaltungsgericht, ohne gegen das Willkürverbot zu verstoßen, vor Ablauf
der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist über die Nichtabhilfe entschieden
hat.
Bei Infrastrukturvorhaben in einem gemeldeten FFH-Gebiet, über dessen Aufnahme
in die Gemeinschaftsliste die EU-Kommission noch nicht entschieden hat, stellt je-
denfalls die Anlegung der materiellrechtlichen Maßstäbe des Art. 6 Abs. 3 und 4
FFH-RL in aller Regel einen "angemessenen Schutz" im Sinne des Urteils des Euro-
päischen Gerichtshofs vom 13. Januar 2005 - C 117/03 - dar.
Beschluss des 4. Senats vom 7. September 2005 - BVerwG 4 B 49.05