Urteil des BVerwG vom 07.02.2011

Vernehmung Von Zeugen, Gewissheit, Kritik, Beweisantrag

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 48.10
OVG 8 A 4062/04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Februar 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. Juli 2010 wird zu-
rückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 62 475 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.
Die Beschwerde wirft die Frage auf:
Besteht im Rahmen der Prüfung der FFH-Verträglichkeit
eines Projekts eine Vermutung dafür, dass ein durch das
beantragte Vorhaben verursachtes Risiko einer erhöhten
Sterblichkeit von Tieren, die dem Schutzziel eines Natura-
2000-Gebietes unterfallen, eine Verschlechterung des Er-
haltungszustandes darstellt und damit als erhebliche Be-
einträchtigung im Sinne des § 34 Abs. 2 BNatSchG anzu-
sehen ist?
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Umgekehrt formuliert:
Hat der Vorhabenträger im Rahmen der Prüfung nach
§ 34 Abs. 2 BNatSchG nachzuweisen, dass sich das Risi-
ko einer erhöhten Sterblichkeit nur bei einigen wenigen
Einzelexemplaren der von dem Schutzzweck des FFH-
Gebiets erfassten Tierarten realisiert?
Soweit diese Fragen verallgemeinerungsfähig sind und sich nicht - ungeachtet
der allgemein gehaltenen Formulierung - als Kritik an der Rechtsanwendung im
Einzelfall erweisen, fehlt es an der Darlegung des behaupteten Klärungsbe-
darfs. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass es im vorliegenden Fall einer Wei-
terentwicklung der vom Oberverwaltungsgericht herangezogenen Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts bedürfte.
Das Oberverwaltungsgericht hat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts den Rechtssatz zugrunde gelegt, dass für den
Gang und das Ergebnis der Verträglichkeitsprüfung der Sache nach eine Be-
weisregel des Inhalts gilt, dass die Behörde ein Vorhaben ohne Rückgriff auf
Art. 6 Abs. 4 FFH-RL nur dann zulassen darf, wenn sie zuvor Gewissheit dar-
über erlangt hat, dass dieses sich nicht nachteilig auf das Gebiet als solches
auswirkt. Die zu fordernde Gewissheit liege nur dann vor, wenn aus wissen-
schaftlicher Sicht kein vernünftiger Zweifel daran bestehe, dass solche Auswir-
kungen nicht auftreten werden (UA S. 30). Der Gegenbeweis misslinge zum
einen, wenn die Risikoanalyse, -prognose und -bewertung nicht den besten
Stand der Wissenschaft berücksichtige, zum anderen aber auch dann, wenn die
einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse derzeit objektiv nicht aus-
reichten, jeden vernünftigen Zweifel auszuschließen, dass erhebliche Beein-
trächtigungen vermieden werden (UA S. 31). Es hat - wenn auch im Zusam-
menhang mit Ausführungen zur Wirksamkeit von Schutz- und/oder Kompensa-
tionsmaßnahmen - ebenfalls in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts dargelegt, dass es Sache des Vorhabenträgers sei,
diesen Nachweis zu erbringen (UA S. 31 f.). Dass sich über diese Grundsätze
hinaus klärungsbedürftige Rechtsfragen stellen könnten, zeigt die Beschwerde
nicht auf.
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Soweit die Beschwerde moniert, in der Praxis sei der Beweis, dass möglicher-
weise eintretende Todesfälle bei geschützten Tierarten nicht deren günstigen
Erhaltungszustand berührten, sondern sich im Ergebnis auf Einzelfälle be-
schränkten, so gut wie nie zu führen, missversteht sie - wie auch der von ihr
verwendete Begriff „Vermutung“ es nahelegt - möglicherweise das Oberverwal-
tungsgericht. Das Oberverwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass die
Kläger die vom Sachverständigen nachvollziehbar begründete Besorgnis einer
erhöhten Wintermortalität nicht mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen entgegengetreten seien und eine Beeinträchtigung des Europäischen Vo-
gelschutzgebiets „Unterer Niederrhein“ in seiner Funktion als Schlaf- und Nah-
rungshabitat der arktischen Gänse nach dem derzeitigen Forschungsstand mit-
hin nicht mit der erforderlichen Gewissheit ausgeschlossen werden könne (UA
S. 37). Es stützt sich dabei nicht etwa auf eine „Vermutung“, sondern wendet
den Rechtssatz, dass der Gegenbeweis misslingt, wenn die einschlägigen wis-
senschaftlichen Erkenntnisse derzeit objektiv nicht ausreichten, jeden vernünf-
tigen Zweifel auszuschließen auf den Einzelfall an. Ob ein Projekt zu einer er-
heblichen Beeinträchtigung eines FFH- oder Vogelschutzgebietes führen kann,
erfordert zum einen eine Einzelfallbeurteilung, die zum anderen wesentlich von
naturschutzfachlichen Feststellungen und Bewertungen abhängt (Urteile vom
12. März 2008 - BVerwG 9 A 3.06 - BVerwGE 130, 299 Rn. 68 und vom
17. Januar 2007 - BVerwG 9 A 20.05 - BVerwGE 128, 1 Rn. 43). Wenn ein
Tatsachengericht in diesem Zusammenhang bei seiner Begründung fachwis-
senschaftliche Erfahrungssätze heranzieht, stellt es nicht zugleich Rechts-
grundsätze auf, die einer revisionsgerichtlichen Klärung zugänglich gemacht
werden könnten. Im Übrigen wäre die Frage wohl kaum in verallgemeinerungs-
fähiger Weise für sämtliche Tierarten, Gebiete und Erhaltungsziele zu beant-
worten.
2. Auch die Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe das rechtliche Gehör ver-
letzt, greift nicht durch. Das Oberverwaltungsgericht hat in der mündlichen Ver-
handlung den Sachverständigen Dr. W. vernommen, der in seinem mündlichen
Gutachten sich seine bereits zuvor abgegebene fachliche Stellungnahme zu
Eigen gemacht und diese ergänzend erläutert hat (UA S. 45 f.). Im Hinblick da-
rauf hat das Oberverwaltungsgericht den hilfsweise gestellten Beweisantrag, zu
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bestimmten Fragen (Sitzungsniederschrift S. 5 f.) ein Sachverständigengutach-
ten einzuholen, abgelehnt und dies im Urteil näher begründet (UA S. 45 f.).
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt ein
Gericht seine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) grund-
sätzlich dann nicht, wenn es von einer sich nicht aufdrängenden Beweiserhe-
bung absieht, die ein Beteiligter lediglich hilfsweise (Beschluss vom 10. Juni
1999 - BVerwG 9 B 81.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 302) beantragt
hat. Die ordnungsgemäße Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht, die die
Beschwerde der Sache nach mit ihrer Gehörsrüge geltend macht, setzt voraus,
dass unter Auseinandersetzung mit dem Prozessgeschehen und der Begrün-
dung der vorinstanzlichen Entscheidung schlüssig aufgezeigt wird, dass sich
dem Gericht auch ohne unbedingten Beweisantrag auf der Grundlage seiner
Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltsermittlung hätte aufdrängen müs-
sen. Daran fehlt es hier. Das Tatsachengericht darf grundsätzlich nach seinem
tatrichterlichen Ermessen entscheiden, ob es zusätzliche Sachverständigen-
gutachten einholt (stRspr; vgl. Beschluss vom 13. März 1992 - BVerwG 4 B
39.92 - NVwZ 1993, 268). Ein Verfahrensmangel liegt nur dann vor, wenn sich
die Einholung eines weiteren Gutachtens wegen fehlender Eignung der vorlie-
genden Gutachten hätte aufdrängen müssen. Gutachten und fachtechnische
Stellungnahmen sind nur dann ungeeignet, wenn sie grobe, offen erkennbare
Mängel oder unlösbare Widersprüche aufweisen, wenn sie von unzutreffenden
sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sach-
kunde oder der Unparteilichkeit des Gutachters besteht. Diese Maßstäbe hat
das Oberverwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt (UA S. 46 f.).
Die Entscheidungen, auf die sich die Beschwerde bezieht (Urteil vom 16. März
1984 - BVerwG 4 C 52.80 - NJW 1984, 2962 = Buchholz 303 § 418 ZPO Nr. 3
und Beschluss vom 22. September 1992 - BVerwG 7 B 40.92 - NVwZ 1993,
377 = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 5 GG Nr. 71), betreffen demgegenüber die Ab-
lehnung der Vernehmung von Zeugen; insoweit gelten andere Maßstäbe. So-
weit die Beschwerde zur Begründung (S. 10 f. der Beschwerdebegründung)
vorträgt, das Gericht habe die Aussagen des Sachverständigen Dr. W. unrichtig
gewürdigt, äußert sie lediglich Kritik an der tatrichterlichen Beweiswürdigung
und Überzeugungsbildung; dies kann nicht als Verfahrensfehler gerügt werden.
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3. Auch der weitere Einwand der Kläger, ein Gericht sei gehalten, ein weiteres
Gutachten einzuholen, wenn Zweifel an der Unparteilichkeit des Gutachters
bestehen, verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg.
Derartige Zweifel sind nicht schon dann begründet, wenn der Gutachter als Be-
diensteter demselben Rechtsträger wie die am Rechtsstreit beteiligte Behörde
angehört. Vielmehr ist es grundsätzlich unbedenklich, wenn sich die nach dem
Bundesimmissionsschutzgesetz für das Genehmigungsverfahren zuständige
Behörde für die Frage nach den Auswirkungen eines Vorhabens - hier auf die
Natur - der Sachkunde der maßgeblichen Fachbehörden bedient. Die Abgabe
derartiger Stellungnahmen im Verwaltungsverfahren führt nicht zum Ausschluss
oder der Befangenheit der Bediensteten, die die Stellungnahmen abgegeben
haben (Beschluss vom 30. Dezember 1997 - BVerwG 11 B 3.97 - Buchholz
451.171 § 6 AtG Nr. 1 S. 5 f. m.w.N.; vgl. auch Urteil vom 9. Juni 2010
- BVerwG 9 A 20.08 - NuR 2010, 870 Rn. 151). Ein Ablehnungsgrund besteht
nur dann, wenn in der vernommenen Amtsperson individuelle Umstände vorlie-
gen, die bei einem außerhalb der Behörde stehenden Sachverständigen Anlass
zur Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit geben würden. Derartige
Gründe haben die Kläger jedoch weder im Verfahren vor dem Oberverwal-
tungsgericht noch mit der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen. Anträge
nach § 98 VwGO i.V.m. § 406 Abs. 2 Satz 1 oder 2 ZPO sind nicht gestellt wor-
den.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO ab, da sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizu-
tragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO, die
Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
Dr. Bumke
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