Urteil des BVerwG vom 10.04.2012

Offene Bauweise, Gebäude, Einheit, Grenzabstand

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 42.11
OVG 10 A 1224/09
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 10. April 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerden der Beklagten und des Beigeladenen
gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des
Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-
Westfalen vom 16. August 2011 werden zurückgewiesen.
Die Beklagte und der Beigeladene tragen die Kosten des
Beschwerdeverfahrens je zur Hälfte. Die außergerichtli-
chen Kosten des Beigeladenen sind nicht erstattungsfä-
hig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützten
Beschwerden der Beklagten und des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung
der Revision bleiben ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die von den Beschwerden geltend gemachte
rechtsgrundsätzliche Bedeutung.
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1.1 Die Beklagte bezeichnet folgende Frage als rechtsgrundsätzlich klärungs-
bedürftig:
Vermittelt § 22 Abs. 2 BauNVO auch im unbeplanten In-
nenbereich direkten Drittschutz oder ist ausschließlich
§ 34 Abs. 1 BauGB und das in dem Tatbestandsmerkmal
des „Einfügens“ enthaltene Rücksichtnahmegebot alleini-
ger Prüfungsmaßstab, wenn es bei Doppelhäusern um
das qualitative Kriterium des wechselseitig verträglichen
und abgestimmten Aneinanderbauens geht?
Der Beigeladene macht mit seiner zweiten Frage auf Seite 6 der Beschwerde-
begründung einen inhaltlich entsprechenden Klärungsbedarf geltend.
Die aufgeworfene Frage würde sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die angefochtene Baugenehmigung nicht des-
halb aufgehoben, weil das Vorhaben wegen eines Verstoßes gegen § 22 Abs. 2
BauNVO oder § 34 Abs. 1 BauGB bauplanungsrechtlich unzulässig sei; ob die
bisherige Wohnsituation auf dem Grundstück des Klägers durch die Erweite-
rung des Nachbarwohnhauses im Sinne des bauplanungsrechtlichen Rück-
sichtnahmegebots unzuträglich verändert worden sei, hat es ausdrücklich offen
gelassen. Es hat der Anfechtungsklage stattgegeben, weil die Baugenehmigung
zu Lasten des Klägers gegen die Nachbarschutz vermittelnden Vorschriften des
§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BauO NRW verstoße (UA S. 9). Die nördliche
Giebelwand des geänderten Wohnhauses des Beigeladenen sei ohne Einhal-
tung einer Abstandsfläche grenzständig zum Grundstück des Klägers errichtet.
Nach dem Privilegierungstatbestand des § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b) BauO
NRW sei innerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen eine Abstandsfläche
nicht erforderlich gegenüber Grundstücksgrenzen, gegenüber denen nach pla-
nungsrechtlichen Vorschriften ohne Grenzabstand gebaut werden dürfe, wenn
gesichert sei, dass auf dem Nachbargrundstück ohne Grenzabstand gebaut
werde. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil das geänderte Wohn-
haus mit Blick auf die Regelung in § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO einen Grenzab-
stand einhalten müsse. Bauplanungsrechtlich könnten in dem hier gegebenen
unbeplanten Innenbereich (§ 34 Abs. 1 BauGB), der maßgeblich durch die vor-
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handene offene Bauweise geprägt sei, nach § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO die
Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder
Hausgruppen errichtet werden. § 22 Abs. 2 BauNVO stelle eine die offene
Bauweise modifizierende drittschützende Norm dar. Danach dürfe ein Doppel-
haus ausnahmsweise auf zwei Grundstücken ohne seitlichen Grenzabstand
errichtet werden, sofern die Haushälften oder Häuser in „wechselseitig verträg-
licher und abgestimmter Weise“ aneinandergebaut würden (Urteil vom 24. Feb-
ruar 2000 - BVerwG 4 C 12.98 - BVerwGE 110, 355 <359>). Dieser für die fest-
gesetzte Doppelhausbebauung entwickelte Drittschutz beanspruche auch für
den unbeplanten Innenbereich Geltung, weil die wechselseitigen Rechte und
Pflichten der Doppelhausnachbarn unabhängig davon bestünden, ob ihr Dop-
pelhaus in einem mittels Bebauungsplan überplanten Bereich oder in einem
unbeplanten Innenbereich liege (UA S. 10 f.). Einen Rechtssatz des Inhalts,
dass die Zulässigkeit einer Grenzbebauung bauplanungsrechtlich auch im un-
beplanten Innenbereich nach § 22 Abs. 2 BauNVO zu beurteilen sei und dass
diese Vorschrift insoweit direkten Drittschutz vermittele, hat das Oberverwal-
tungsgericht damit jedenfalls im vorliegenden Verfahren nicht aufgestellt. In an-
deren Verfahren hat es zwar die Auffassung vertreten, dass der Doppelhaus-
nachbar im unbeplanten Innenbereich auch nach § 34 Abs. 1 BauGB ein Ab-
wehrrecht gegen die Zulassung eines Vorhabens habe, durch das ein beste-
hendes Doppelhaus seine Eigenschaft als Doppelhaus im Rechtssinne verliere
(OVG Münster, Urteil vom 28. Februar 2012 - 7 A 2444/09 - juris; Beschluss
vom 23. Juli 2007 - 10 B 1090/07 - juris). Ob diese unter den Verwaltungsge-
richten streitige Auffassung mit Bundesrecht vereinbar ist, kann hier jedoch
nicht entschieden werden. Denn im vorliegenden Verfahren hat das Oberver-
waltungsgericht lediglich für die landesrechtlich zu beurteilende Einhaltung der
Abstandsflächen auch im unbeplanten Innenbereich auf die Maßstäbe des § 22
Abs. 2 BauNVO zurückgegriffen. Der dem Kläger zuerkannte Drittschutz hat
seine Grundlage deshalb ebenfalls im Landesabstandsflächenrecht. Wäre das
Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass § 6 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b)
BauO NRW die bauplanungsrechtlichen Vorschriften über die Bauweise im un-
beplanten Innenbereich (§ 34 Abs. 1 BauGB) und im Geltungsbereich eines
Bebauungsplans (§ 22 BauNVO) als vorgegeben hinnimmt, hätte es, wenn es
einen Verstoß gegen das Landesabstandsflächenrecht unter Bezugnahme auf
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die genannten planungsrechtlichen Vorschriften feststellt, auch die baupla-
nungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens verneinen müssen; das hat es
- wie dargelegt - nicht getan.
1.2 Die Beklagte wirft zudem folgende Frage auf:
Hebt ein nicht grenzständiger Anbau an einer Doppel-
haushälfte, die in vertikaler und horizontaler Richtung zu
100 % (spiegelbildlicher Anbau) grenzständig an die ande-
re Doppelhaushälfte angebaut ist, die bauliche Einheit
eines Doppelhauses auf und lässt damit den grundsätzlich
bauplanungsrechtlich grenzständig zulässigen und wech-
selseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände entfallen?
Der Beigeladene macht mit seiner ersten Frage auf Seite 6 der Beschwerdebe-
gründung einen inhaltlich entsprechenden Klärungsbedarf geltend.
Soweit es um den Begriff des Doppelhauses geht, dürfte § 6 Abs. 1 BauO NRW
in der Auslegung des Oberverwaltungsgerichts an die bundesrechtliche Vor-
schrift des § 22 Abs. 2 BauNVO anknüpfen und das Bundesrecht insoweit als
vorgegeben hinnehmen (vgl. Urteil vom 7. Juni 2006 - BVerwG 4 C 7.05 -
BRS 70 Nr. 84 S. 449 f.). Die aufgeworfene Frage wäre hiernach revisibel. Dass
auch ein nicht grenzständiger Anbau an eine Doppelhaushälfte dazu führen
kann, dass der geänderte Gesamtbaukörper kein Doppelhaus im Sinne von
§ 22 Abs. 2 BauNVO mehr ist, bedarf aber nicht der Bestätigung in einem Revi-
sionsverfahren. Die Voraussetzungen, unter denen ein solcher Anbau die bis-
herige bauliche Einheit des Doppelhauses aufhebt, sind einer über die bisherige
Rechtsprechung hinausgehenden grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass ein Doppelhaus im Sinne
der bauplanungsrechtlichen Vorschriften über die Bauweise nur dann entsteht,
wenn zwei Gebäude derart zusammengebaut werden, dass sie einen Gesamt-
baukörper bilden (Urteil vom 24. Februar 2000 a.a.O. S. 358). Damit allein ist
jedoch der bauplanungsrechtliche Begriff des Doppelhauses noch nicht erfüllt.
Er verlangt ferner, dass die beiden „Haushälften“ in wechselseitig verträglicher
und abgestimmter Weise aneinander gebaut werden. Insoweit enthält das Er-
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fordernis einer baulichen Einheit nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein
qualitatives Element. In dem System der offenen Bauweise, das durch seitliche
Grenzabstände zu den benachbarten Grundstücken gekennzeichnet ist, ordnet
sich ein aus zwei Gebäuden zusammengefügter Baukörper nur ein und kann
somit als Doppelhaus gelten, wenn das Abstandsgebot an der gemeinsamen
Grundstücksgrenze auf der Grundlage der Gegenseitigkeit überwunden wird.
Ein einseitiger Grenzanbau ist in der offenen Bauweise unzulässig (Urteil vom
24. Februar 2000 a.a.O. S. 359). Der Eindruck eines einseitigen Grenzanbaus
kann nicht nur entstehen, wenn - wie in dem durch Urteil vom 24. Februar 2000
entschiedenen Fall - ein Gebäude gegen das andere an der gemeinsamen
Grundstücksgrenze so stark versetzt wird, dass sein vorderer oder rückwärtiger
Versprung den Rahmen einer wechselseitigen Grenzbebauung überschreitet,
sondern auch, wenn ein nicht grenzständiger Anbau wegen seiner Abmessun-
gen die bisherige Doppelhaushälfte so massiv verändert, dass die beiden Ge-
bäude nicht mehr als bauliche Einheit erscheinen (vgl. Beschluss vom 17. Au-
gust 2011 - BVerwG 4 B 25.11 - juris Rn. 5). Ein solcher Fall kann insbesondere
dann gegeben sein, wenn der im Verhältnis zur bisherigen Kubatur massive
Anbau grenznah errichtet wird und - in seiner Wirkung einem grenzständigen
Anbau vergleichbar - die Freiflächen auf dem Grundstück der anderen Doppel-
haushälfte abriegelt. Ob ein nicht grenzständiger Anbau die bisherige bauliche
Einheit zweier Doppelhaushälften aufhebt, hängt maßgebend von den Umstän-
den des Einzelfalls ab. Inwieweit diese Frage über die bisherige, im Rahmen
der nachfolgenden Divergenzrüge näher darzulegende Rechtsprechung hinaus
einer rechtsgrundsätzlichen Klärung zugänglich sein sollte, zeigen die Be-
schwerden nicht auf.
2. Die von beiden Beschwerden geltend gemachte Divergenz zum Urteil des
Senats vom 24. Februar 2000 liegt nicht vor. Das Oberverwaltungsgericht hat
einen dem genannten Senatsurteil widersprechenden Rechtssatz nicht aufge-
stellt.
Im Urteil vom 24. Februar 2000 hat der Senat entschieden, dass bauordnungs-
rechtliche Vorschriften über die Höhe und Breite von Gebäuden, die traufen-
oder giebelständige Anordnung, First-, Sockel- oder Traufhöhen, Farbe und
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Gliederung von Fassaden, der Drempel, Dächer und Dachaufbauten, die der
Abwehr von Verunstaltungen oder der positiven Baugestaltungspflege dienen,
nicht geeignet seien, den bauplanungsrechtlichen Gehalt des „Doppelhauses“
als eine der in der offenen Bauweise zulässigen Hausformen zu erfassen. In
diesem städtebaulichen Regelungszusammenhang beurteile sich die Frage, ob
zwei an der gemeinsamen Grundstücksgrenze errichtete Gebäude (noch) ein
Doppelhaus bilden, allein nach dem Merkmal des wechselseitigen Verzichts auf
seitliche Grenzabstände, mit dem eine spezifisch bauplanerische Gestaltung
des Orts- und Straßenbildes verfolgt werde (Urteil vom 24. Februar 2000 a.a.O.
S. 361).
Entgegen der Auffassung der Beklagten und des Beigeladenen hat der Senat
damit nicht entschieden, dass die Qualifizierung zweier Gebäude als Doppel-
haus allein davon abhänge, in welchem Umfang die beiden Gebäude an der
gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinander gebaut sind. Im damals zu ent-
scheidenden Fall hat der Senat die beiden Gebäude nicht als Doppelhaus quali-
fiziert, weil sie an der gemeinsamen Grundstücksgrenze stark gegeneinander
versetzt waren. Dass zwei Gebäude, die an der gemeinsamen Grundstücks-
grenze vollständig aneinander gebaut sind, stets ein Doppelhaus bilden, also
auch dann, wenn sie mit Blick auf den Baukörper im Übrigen nicht als bauliche
Einheit erscheinen, kann daraus nicht abgeleitet werden.
Die Beklagte und der Beigeladene meinen, das Oberverwaltungsgericht habe
den Begriff des Doppelhauses entgegen der dargelegten Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts mit bauordnungsrechtlichen Merkmalen ausgefüllt.
Sie berufen sich hierfür auf den Rechtssatz des Oberverwaltungsgerichts, ein
Haus, welches Teil eines Doppelhauses sein solle, müsse ein Mindestmaß an
Übereinstimmung mit dem zugehörigen Nachbarhaus aufweisen, indem es zu-
mindest einzelne der ihm Proportionen und Gestalt gebenden baulichen Ele-
mente aufgreife (UA S. 12). Dass das Vorliegen einer baulichen Einheit anhand
bauordnungsrechtlicher Kriterien zu prüfen sei, hat das Oberverwaltungsgericht
damit nicht entschieden. Es hat das Vorliegen einer baulichen Einheit vielmehr
mit Blick auf die von § 22 Abs. 2 BauNVO verfolgten bauplanungsrechtlichen
Ziele der Steuerung der Bebauungsdichte sowie der Gestaltung des Orts- oder
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Stadtbildes geprüft (UA S. 13). Dass diese Ziele keine einheitliche Gestaltung
erfordern, hat es ausdrücklich hervorgehoben. Dementsprechend hat es ledig-
lich ein „Mindestmaß“ an Übereinstimmung zwischen den beiden Gebäuden
verlangt und hierfür, ohne weitere Rechtssätze aufzustellen, im Wesentlichen
auf Aspekte der Kubatur der Gebäude abgestellt (UA S. 13).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1, § 162 Abs. 3
VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1 GKG.
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