Urteil des BVerwG vom 19.02.2014

Augenschein, Gemeinde, Abrede, Entscheidungsformel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 40.13
VGH 9 B 11.2375
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Februar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Külpmann
beschlossen:
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Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in
dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
23. April 2013 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Be-
schwerdeführerin.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf
10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Revisionszulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO
gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Be-
schwerde zumisst.
a) Die Klägerin hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,
ob - obgleich eine organische Siedlungsstruktur keinem
städtebaulichen Ordnungsbild entsprechen muss - das
Vorliegen einer „organischen Siedlungsstruktur“ verneint
werden kann, wenn zwar hinsichtlich der überbauten
Grundstücksfläche, der Bauweise sowie der Bebauungs-
dichte ein weiter Rahmen besteht („Regellosigkeit“), je-
doch sich der vorhandenen Bebauung hinsichtlich der Art
und des Maßes der baulichen Nutzung, einschließlich der
Zahl der Vollgeschosse hinlänglich verlässliche Kriterien
einer organischen Siedlungsstruktur entnehmen lassen.
Dies führt nicht zur Zulassung der Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat
angenommen, dass vorliegend der Bebauungszusammenhang hinsichtlich der
Art und des Maßes der baulichen Nutzung einen Rahmen vorgibt, der eine nach
der Siedlungsstruktur angemessene Fortentwicklung der Bebauung innerhalb
des gegebenen Bereichs ermöglicht (UA Rn. 48 f.). Die Beschwerde möchte
rechtsgrundsätzlich geklärt wissen, ob in einem solchen Fall stets eine organi-
sche Siedlungsstruktur vorliegt, die Voraussetzung für einen Ortsteil im Sinne
von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist. Diese Frage ist nicht klärungsbedürftig. Sie
ist geklärt und mit dem Verwaltungsgerichtshof zu verneinen.
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Die Anforderung einer organischen Siedlungsstruktur schließt das ein, was in
Entgegensetzung zur unerwünschten Splittersiedlung dem inneren Grund für
die Rechtsfolge des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB entspricht, nämlich die nach der
Siedlungsstruktur angemessene Fortentwicklung der Bebauung innerhalb des
gegebenen Bereichs. So kann etwa eine völlig regellose und in dieser Anord-
nung geradezu funktionslose Bebauung die Annahme einer organischen Sied-
lungsstruktur ebenso ausschließen wie eine bandartige oder einzeilige Bebau-
ung (Urteil vom 6. November 1968 - BVerwG 4 C 31.66 - BVerwGE 31, 22
<27>). Auch eine historisch gewachsene Bebauung kann eine unorganische
Splittersiedlung sein, wenn die Fortführung der Siedlungsstruktur eine ange-
messene Fortentwicklung der Bebauung innerhalb des gegebenen Bereichs
nicht zulässt (Beschluss vom 25. März 1986 - BVerwG 4 B 41.86 - Buchholz
406.11 § 34 BBauG Nr. 112 S. 60 zu einer Moorsiedlung). Hieraus folgt unmit-
telbar, dass einer Bebauung nach tatrichterlicher Würdigung auch dann die or-
ganische Siedlungsstruktur fehlen kann, wenn sie zwar hinsichtlich der Art und
des Maßes der baulichen Nutzung einen Rahmen vorgibt, hinsichtlich der über-
baubaren Grundstücksflächen und der Bauweise - wie vom Verwaltungsge-
richtshof (UA Rn. 50) angenommen - hingegen optisch wahrnehmbare Merkma-
le, die eine gewisse Regelmäßigkeit oder einen Plan erkennen lassen, nicht
feststellbar sind.
b) Die Beschwerde sieht weiter grundsätzlichen Klärungsbedarf für die Fragen,
ob das Vorliegen einer „organischen Siedlungsstruktur“
schon deswegen zu verneinen ist, weil anderenfalls eine
bauliche Verdichtung möglich wäre, welche die vorhande-
ne Siedlungsstruktur grundlegend verändert,
ferner, ob eine organische Siedlungsstruktur deshalb ver-
neint werden darf, weil ein festgestellter „weiter Rahmen“
mit „Regellosigkeit“ gleichgestellt wird.
Hinsichtlich dieser Fragen verfehlt die Beschwerde die Darlegungsanforderung
des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Diese fordert die Formulierung einer bestimm-
ten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung er-
heblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe, worin
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die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll
(Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 - BVerwG 8 B 78.61 - BVerwGE 13, 90
<91 f.> = Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 18 S. 21 f. und vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14). An
Letzterem fehlt es vollständig.
c) Schließlich möchte die Beschwerde geklärt wissen,
ob das Vorliegen einer „organischen Siedlungsstruktur“
verneint werden kann, obwohl - vormals, d.h. vor der Ein-
gemeindung - Baugenehmigungen auf der Grundlage des
§ 34 BauGB im Einvernehmen mit der Gemeinde erteilt
wurden, mithin also sowohl die Baugenehmigungsbehörde
als auch die Standortgemeinde übereinstimmend vom
Vorliegen eines im Zusammenhang bebauten Ortsteiles
ausgegangen sind.
Die Frage kann schon deshalb nicht zur Zulassung der Revision führen, weil
der Verwaltungsgerichtshof keine Feststellungen dazu getroffen hat, ob und auf
welcher Rechtsgrundlage Baugenehmigungen für die vorhandene Bebauung in
dem von ihm als maßgeblich angesehenen Bebauungszusammenhang erteilt
worden sind. Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache ist die Revi-
sion nur zuzulassen, wenn sich die grundsätzliche Rechtsfrage unmittelbar,
nicht erst auf Grund von weiterer Sachaufklärung nach Aufhebung und Zurück-
verweisung der Sache beantwortet (stRspr, Beschluss vom 29. März 1961
- BVerwG 3 B 43.60 - Buchholz 427.3 § 339 LAG Nr. 120 S. 151).
d) Die hinsichtlich der Verfestigung einer Splittersiedlung im Sinne von § 35
Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB für klärungsbedürftig gehaltenen Fragen sind nicht
entscheidungserheblich.
Ist ein Urteil in je selbständiger Weise mehrfach begründet, kann die Revision
nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder der Begründungen ein Zulas-
sungsgrund geltend gemacht und gegeben ist (Beschlüsse vom 19. August
1997 a.a.O. S. 15 und vom 17. Dezember 2010 - BVerwG 9 B 60.10 - BayVBl
2011, 352 Rn. 3). Der Verwaltungsgerichtshof hat eine Beeinträchtigung des
öffentlichen Belangs des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB selbständig tragend
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darauf gestützt, dass auf dem bisher weitgehend unbebauten Grundstück, in
dessen unmittelbarer Nachbarschaft nur wesentlich kleinere und baurechtlich
lediglich geduldete Wohnbauten stehen, ein ganzes Wohnhaus errichtet werden
soll (UA Rn. 64). Insoweit zeigt die Beschwerde keinen Zulassungsgrund auf.
Das Gleiche gilt hinsichtlich der ebenfalls selbständig tragenden Annahme des
Verwaltungsgerichtshofs, das Vorhaben der Klägerin beeinträchtige den öffent-
lichen Belang des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 BauGB (UA Rn. 63 f. mit Bezug-
nahme auf das erstinstanzliche Urteil nach § 130b Satz 2 VwGO).
Hiervon unabhängig legt die Klägerin nicht - wie von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
gefordert - dar, welchen grundsätzlichen Klärungsbedarf sie hinsichtlich der
Vorbildwirkung eines Vorhabens als Grund für die Missbilligung einer Splitter-
siedlung im Sinne von § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB sieht (vgl. dazu Be-
schluss vom 24. Juni 2004 - BVerwG 4 B 23.04 - ZfBR 2004, 702 = BRS 67
Nr. 109). Sie wendet sich vielmehr in der Sache dagegen, dass der Verwal-
tungsgerichtshof für den für maßgeblich gehaltenen Bebauungszusammenhang
(vgl. UA Rn. 24 - 30) eine zu missbilligende Vorbildwirkung ihres Vorhabens an-
genommen hat. Ein Zulassungsgrund ist damit nicht geltend gemacht.
2. Auch die Verfahrensrügen nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO führen nicht zur
Zulassung der Revision.
a) Ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO liegt nicht vor. Die Beschwer-
de räumt selbst ein, dass die von ihr angenommenen Mängel der Beweis- und
Sachverhaltswürdigung revisionsrechtlich dem sachlichen Recht zuzuordnen
sind und nicht auf einen Verstoß gegen die verfahrensrechtliche Vorschrift des
§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO führen (Kraft, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010,
§ 132 Rn. 46). Warum hier eine Ausnahme von diesem Grundsatz eingreifen
sollte, legt die Beschwerde nicht nachvollziehbar dar und ist auch nicht ersicht-
lich. Die Einwände der Beschwerde können hiervon unabhängig auch deswe-
gen nicht zur Zulassung der Revision führen, weil die angegriffenen Ausführun-
gen das Urteil nicht tragen. Dies gilt für die siedlungsstrukturellen Verhältnisse
in der Gemeinde H. (UA Rn. 42; vgl. Rn. 34 „nur noch“) ebenso wie für die Aus-
führungen zum Gewicht der Bebauung (UA Rn. 43: „Es kann offen bleiben…“).
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b) Die Beschwerde hält Art. 103 Abs. 1 GG für verletzt, weil der Verwaltungsge-
richtshof - soweit ersichtlich - der Genehmigungslage nicht weiter nachgegan-
gen sei, er die Klägerin über diesen „Meinungsumschwung“ hätte in Kenntnis
setzen und ihr Gelegenheit zur Äußerung geben müssen. Dies reicht zur Be-
zeichnung einer Gehörsrüge nicht aus. Denn es fehlt eine substantiierte Darle-
gung, was die Klägerin bei einer ausreichenden Gehörsgewährung noch vorge-
tragen hätte (Beschlüsse vom 28. Januar 2003 - BVerwG 4 B 4.03 - juris Rn. 4
und
vom 28. März 2013 - BVerwG 4 B 15.12 - BauR 2013, 1248 Rn. 14). Es ist aber
auch in der Sache kein Gehörsverstoß durch eine Überraschungsentscheidung
ersichtlich: Nach der Niederschrift über den Augenschein am 27. Juni 2012 ist
die Genehmigungslage nur bei wenigen der in Augenschein genommenen Ge-
bäuden mündlich erörtert und sind hierzu die Angabe von Beteiligten protokol-
liert worden. Hinsichtlich eines Gebäudes hat die Beklagte angekündigt, zu ei-
ner mutmaßlich vorliegenden Baugenehmigung noch Stellung zu nehmen. An-
gesichts dessen ist nicht nachvollziehbar, worauf die Klägerin die Annahme
stützt, der Verwaltungsgerichtshof habe zu diesem Zeitpunkt die Entschei-
dungserheblichkeit der Genehmigungslage unterstellt und sei gehalten gewe-
sen, die Beteiligten über einen „Meinungsumschwung“ insoweit in Kenntnis zu
setzen.
c) Entgegen der Auffassung der Beschwerde ist auch § 108 Abs. 1 Satz 2
VwGO nicht verletzt. Allerdings ist eine Entscheidung nicht nur dann nicht mit
Gründen versehen, wenn der Entscheidungsformel überhaupt keine Gründe
beigegeben sind, sondern auch dann, wenn die Begründung nicht erkennen
lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend gewesen sind,
weil die angeführten Gründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich inhaltslos
oder sonstwie völlig unbrauchbar sind (stRspr, Urteil vom 28. November 2002
- BVerwG 2 C 25.01 - BVerwGE 117, 228 <230>).
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Für einen solchen Fall ist hier nichts ersichtlich. Die Klägerin bemängelt einen
Widerspruch zwischen der Aussage, dass auch eine unterschiedliche, ja sogar
eine in ihrer Art und Zweckbestimmung gegensätzliche Bebauung einen Ortsteil
bilden könne (UA Rn. 20 im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 6. November
1968 - BVerwG 4 C 31.66 - BVerwGE 31, 22 <27>), und der Aussage, es sei
danach zu fragen, ob sich bei einer wertenden Gesamtbetrachtung der optisch
wahrnehmbaren Merkmale Kriterien für die Frage der planungsrechtlichen Zu-
lässigkeit oder Unzulässigkeit eines künftigen Vorhabens gewinnen lassen (UA
Rn. 46). Hierin liegt kein Widerspruch, weil das Senatsurteil vom 6. November
1968 nicht annimmt, dass eine gegensätzliche Bebauung stets einen Ortsteil
bildet. Dass der Verwaltungsgerichtshof die Möglichkeit eines Ortsteils in die-
sem Fall nicht in Abrede stellt, zeigt die in UA Rn. 46 unmittelbar vorangehende
Bezugnahme auf das Senatsurteil vom 13. Februar 1976 (BVerwG 4 C 53.74 -
Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 52 S. 6), das sich seinerseits ausdrücklich
dem Urteil vom 6. November 1968 anschließt.
Soweit sich die Beschwerde schließlich gegen die Ausführungen des Verwal-
tungsgerichtshofs zu § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 7 BauGB wendet, fehlt es an einer
ausreichenden Bezeichnung des Verfahrensmangels im Sinne von § 133 Abs. 3
Satz 3 VwGO. Dass der Verwaltungsgerichtshof der Auffassung der Klägerin
nicht gefolgt ist, bezeichnet keinen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
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Dr. Külpmann
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