Urteil des BVerwG vom 23.11.2010

Vorprüfung, Umweltverträglichkeitsprüfung, Vereinfachtes Verfahren, Grundstück

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 39.10
OVG 12 LB 34/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. November 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberver-
waltungsgerichts vom 1. Juni 2010 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens
als Gesamtschuldner mit Ausnahme der außergerichtli-
chen Kosten der Beigeladenen, die nicht erstattungsfähig
sind.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte
Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.
1.1 Die Beschwerde wirft sinngemäß die Frage auf, ob auf die Klage eines be-
troffenen Nachbarn die Baugenehmigung zur Errichtung einer Windenergiean-
lage schon deswegen aufzuheben ist, weil im Hinblick auf bereits vorhandene
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Windenergieanlagen nur eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung nach
§ 10 BImSchG hätte erteilt werden dürfen. Diese Frage stellt sich nach Auffas-
sung der Beschwerde vorliegend insbesondere deshalb, weil keine Umweltver-
träglichkeitsprüfung stattgefunden habe und damit „keine Beteiligung der Nach-
barn“ (Beschwerdebegründung S. 2) erfolgt sei.
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision, da sie sich in dieser
Form im Hinblick auf den vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Sachver-
halt nicht stellen würde und im Übrigen, soweit sie sich noch stellen würde, in
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist.
Das Oberverwaltungsgericht ist zwar zu dem Ergebnis gelangt, dass im Hinblick
auf die bereits vorhandenen Windenergieanlagen östlich des Grundstücks der
Kläger statt des Baugenehmigungsverfahrens nicht nur - wie das Verwaltungs-
gericht angenommen hat - ein vereinfachtes Verfahren (§ 19 BImSchG), son-
dern ein Verfahren nach § 10 BImSchG hätte durchgeführt werden müssen (UA
S. 16). Denn trotz des großen Abstands zwischen den vorhandenen und den
jetzt genehmigten Windenergieanlagen überschnitten sich die beiden Einwir-
kungsbereiche. Das Oberverwaltungsgericht hat aber zugleich festgestellt, dass
im Baugenehmigungsverfahren eine Schallimmissionsprognose vorgelegt wor-
den ist, in der das Anwesen der Kläger als Immissionspunkt zugrunde gelegt
worden ist und in dem die genannten vorhandenen Windenergieanlagen als
Vorbelastung berücksichtigt worden sind (UA S. 3 f., 17). Die Baugenehmi-
gungsbehörde hat ferner eine standortbezogene Vorprüfung des Einzelfalls
(§ 3c Satz 2 UVPG) durchgeführt, die zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die
Vorhaben keiner Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssten
(UA S. 4, 19). Hierzu stellt das Oberverwaltungsgericht fest, es sei nicht zu er-
kennen, dass bei Durchführung einer allgemeinen Vorprüfung (§ 3c Satz 1
UVPG) diese zu dem Ergebnis gelangt wäre, es sei eine Umweltverträglich-
keitsprüfung erforderlich (UA S. 21). Im Übrigen sind die Kläger im Baugeneh-
migungsverfahren beteiligt worden und es sind unter anderem im Hinblick auf
die ihr Anwesen treffenden Belastungen Betriebsbeschränkungen angeordnet
worden. Somit kann entgegen der Fragestellung der Beschwerde nicht davon
gesprochen werden, eine rechtlich gebotene Umweltverträglichkeitsprüfung
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habe nicht stattgefunden und die Kläger (und andere Nachbarn) seien tatsäch-
lich nicht beteiligt worden.
Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt,
dass ein Kläger nicht allein dadurch in seinen Rechten verletzt wird, dass an
Stelle eines an sich gebotenen vereinfachten immissionsschutzrechtlichen Ver-
fahrens nach § 19 BImSchG ein Baugenehmigungsverfahren durchgeführt wor-
den ist (Urteil vom 20. August 2008 - BVerwG 4 C 11.07 - BVerwGE 131, 352
Rn. 41). Ob dieser Grundsatz in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsge-
richt uneingeschränkt auf diejenigen Fälle übertragen werden kann, in denen
ein Genehmigungsverfahren nach § 10 BImSchG hätte durchgeführt werden
müssen, bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Klärung.
Auf die Erteilung einer Genehmigung besteht, wenn die Genehmigungsvoraus-
setzungen erfüllt sind, in einem Fall der vorliegenden Art ein Rechtsanspruch.
Ein planerisches Ermessen steht der Genehmigungsbehörde nicht zu (Be-
schluss vom 21. Januar 2008 - BVerwG 4 B 35.07 - BRS 73 Nr. 161 Rn. 9). Die
Durchführung des Verwaltungsverfahrens einschließlich der Vorprüfung, ob
eine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich ist, dient der bestmöglichen In-
formation der Behörde und der Wahrung der Belange der Betroffenen sowie der
Beachtung der Auswirkungen auf die Umwelt. Mit der in § 10 Abs. 3 BImSchG
vorgesehenen Information der Öffentlichkeit soll die Informationsgrundlage
noch verbreitert werden. Es besteht jedoch kein Anspruch auf Aufhebung einer
Genehmigung, wenn ein Gericht zu dem Ergebnis gelangt ist, dass auf der
Grundlage der eingeholten Gutachten und Stellungnahmen der Fachbehörden
(hier einschließlich der für das Immissionsschutzrecht zuständigen Behörde)
sowie der durchgeführten UVP-Vorprüfung und unter Berücksichtigung der dem
Bauherrn auferlegten Beschränkungen eine Verletzung der materiellrechtlichen
Rechte des vom Vorhaben hauptsächlich betroffenen Klägers ausscheidet. Der
Fehler eines nicht nach § 10 BImSchG durchgeführten Verfahrens ist - wenn
überhaupt - nur unter der Voraussetzung erheblich, dass er auf das Ergebnis
von Einfluss gewesen ist. Dies ist nur anzunehmen, wenn die konkrete
Möglichkeit besteht, dass die Planungsbehörde ohne den Fehler anders
entschieden hätte. Von diesen Voraussetzungen ist das Bundesverwal-
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tungsgericht selbst bei einer Zulassungsentscheidung und bei
Fehlen einer rechtlich gebotenen ausgegangen
(Beschluss vom 21. Januar 2008 a.a.O. Rn. 10 m.w.N.). Das gilt erst recht,
wenn die Vorprüfung demgegenüber zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Um-
weltverträglichkeitsprüfung nicht erforderlich ist.
Vorliegend hat das Oberverwaltungsgericht eine Rechtsverletzung der Kläger
mit einer umfangreichen Begründung verneint. Es legt insbesondere dar, dass
das streitige Vorhaben keine schädlichen Umwelteinwirkungen auf dem Grund-
stück der Kläger verursacht und weder eine Verletzung von § 5 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 BImSchG noch des baurechtlichen Gebots der Rücksichtnahme festzu-
stellen ist (UA S. 23 - 30). Dabei hat es zugrunde gelegt, dass die bereits östlich
des Grundstücks der Kläger vorhandenen Windenergieanlagen, mit denen es
die Notwendigkeit der Durchführung eines Verfahrens nach § 10 BImSchG (und
nicht nur eines Verfahrens nach § 19 BImSchG, wie es das Verwaltungsgericht
gesehen hatte) begründet, als Belastungsfaktor in die Schallimmissi-
onsprognose einbezogen worden sind, bei der das Grundstück der Kläger einen
der untersuchten Immissionspunkte darstellte.
1.2 Die Beschwerde thematisiert ferner die Frage, welche Rechtsfolgen sich
daraus ergeben, dass eine Prüfung nach dem UVPG nicht durchgeführt worden
ist. Auch sie rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Die Beschwerde legt
nicht dar, inwieweit die Fragestellung vor dem Hintergrund des Beschlusses des
Senats vom 21. Januar 2008 (a.a.O.), auf den das Oberverwaltungsgericht
ausführlich eingeht, weiterer Klärung bedürfte. Danach folgt allein aus dem
Fehlen einer rechtlich gebotenen Umweltverträglichkeitsprüfung nicht, dass der
Zweck der gesetzlichen Regelung nicht erreicht wird und eine Abwägungsent-
scheidung rechtswidrig ist. Der Mangel ist nur unter der Voraussetzung erheb-
lich, dass er auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen ist, was – wie
dargelegt – nur anzunehmen ist, wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass
die Planungsbehörde ohne den Fehler anders entschieden hätte. Dabei kommt
es vorliegend nur auf die besondere Konstellation an, dass zwar eine standort-
bezogene Vorprüfung des Einzelfalls (§ 3c Satz 2 UVPG) durchgeführt worden
ist, richtigerweise aber eine allgemeine Vorprüfung (§ 3c Satz 1 UVPG) hätte
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erfolgen müssen. Hierzu legt das Oberverwaltungsgericht dar, es sei nicht zu
erkennen, dass bei ordnungsgemäßer Durchführung einer allgemeinen Vorprü-
fung diese zu dem Ergebnis gelangt wäre, es sei eine Umweltverträglichkeits-
prüfung erforderlich gewesen (UA S. 21). Beide Arten der Vorprüfung seien
wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass im Rahmen einer überschlägigen
Vorausschau zu prüfen sei, ob bei dem Vorhaben mit erheblichen nachteiligen
Umweltauswirkungen zu rechnen ist. Insoweit bestünden keine gravierenden
Unterschiede, die Anlass geben könnten, den Mangel als erheblich anzusehen.
Davon abgesehen sei jedenfalls für das Vorhaben der E. GmbH eine allgemei-
ne Vorprüfung (unter Hinweis auf § 3b Abs. 2 i. V. m. § 3c Satz 5 UVPG)
durchgeführt worden, wobei die seinerzeit noch im Genehmigungsverfahren
befindlichen fünf Windenergieanlagen des Standorts Kajedeich mit in die Beur-
teilung einbezogen worden seien. Unter diesen Umständen genügt es nicht,
allgemein auf die rechtsfehlerhafte Anwendung der Vorschriften des UVPG
hinzuweisen und zu behaupten, die durchgeführte standortbezogene Vorprü-
fung habe keine „rechtliche Relevanz“ für das Vorhaben.
1.3 Die Frage, ob die Festlegungen innerhalb der TA-Lärm als normkonkretisie-
rende Vorschrift Bestand haben, führt nicht zur Zulassung der Revision. Denn
das Oberverwaltungsgericht stellt in seinen von der Beschwerde angesproche-
nen Ausführungen (UA S. 24 ff.) nicht den Rechtscharakter der TA-Lärm grund-
sätzlich in Frage, sondern behandelt die auf das Grundstück der Kläger einwir-
kenden Schallimmissionen. Dabei handelt es sich um einzelfallbezogene Sach-
verhaltsfeststellungen. Dass in einem Fall der vorliegenden Art bei der Ermitt-
lung der auf ein konkretes Grundstück einwirkenden Immissionen die jeweiligen
Standorte der Windenergieanlagen (östlich und westlich dieses Grundstücks)
und die Windrichtungen zu berücksichtigen sind, versteht sich von selbst. Im
Übrigen würde es auch an der Darlegung der Entscheidungserheblichkeit feh-
len. Denn das Oberverwaltungsgericht weist „unabhängig davon“ darauf hin,
dass zu berücksichtigen sei, dass nach Nr. 3.2.1 Abs. 3 der TA-Lärm für die zu
beurteilende Anlage die Genehmigung wegen einer Überschreitung der Immis-
sionsrichtwerte nach Nr. 6 aufgrund der Vorbelastung dann nicht versagt wer-
den soll, wenn dauerhaft sichergestellt sei, dass die Überschreitung nicht mehr
als 1 dB(A) betrage und stellt fest, dass auch mit Blick auf diese Regelung der
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in der Prognose ermittelte Wert von 45,1 dB(A) keinen durchgreifenden Beden-
ken begegne. Auch hiermit setzt sich die Beschwerde nicht auseinander.
1.4 Auch mit der Frage, welcher Rechtsmaßstab anzulegen ist, und unter wel-
chen Voraussetzungen zulässigerweise ein Gericht sich über eine als Verwal-
tungsvorschrift wirkende Übereinkunft von Sachverständigen setzen darf, die
die TA-Lärm ausfüllen, wird die rechtsgrundsätzliche Bedeutung nicht darge-
legt. In erster Linie wendet sich die Beschwerde gegen die dem Tatsachenge-
richt obliegende Würdigung des Einzelfalls. Im Übrigen bedarf es keiner weite-
ren Klärung, dass ein Gericht bei seiner Würdigung nicht an Erkenntnisse von
Arbeitsgruppen der Verwaltung - die die Beschwerde nicht einmal näher dar-
stellt - gebunden ist. Soweit die Beschwerde auf eine mangelnde Sachkenntnis
des Oberverwaltungsgerichts abhebt, fehlt es an einer den Darlegungserfor-
dernissen entsprechenden Aufklärungsrüge.
2. Soweit die Beschwerde eine Divergenz zum Beschluss des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 21. März 1996 - BVerwG 7 B 164/95 - (Buchholz 406.251
§ 22 UVPG Nr. 4 = NVwZ-RR 1996, 498) und möglicherweise auch zum Urteil
vom 20. Dezember 1999 - BVerwG 7 C 15.98 - (BVerwGE 110, 216) geltend
macht, bleibt sie ohne Erfolg. Denn das Oberverwaltungsgericht stützt sein Ur-
teil nicht auf einen mit diesen Entscheidungen - die überdies die TA-Luft betref-
fen - im Widerspruch stehenden Rechtsgrundsatz, sondern stellt - wie bereits
dargestellt - auf die das konkrete Grundstück betreffenden Immissionen und die
Lage der Windenergieanlagen ab.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 133 Abs. 5 Satz 2
VwGO ab, da sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizu-
tragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO und
§ 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
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