Urteil des BVerwG vom 26.07.2005

Anstalt, Strafvollzug, Form, Auflage

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 33.05
OVG 1 B 120/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. Juli 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht G a t z und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 3. März 2005 wird zurückgewiesen.
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Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde
gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
Der beschwerdeführende Beklagte hält sinngemäß die Frage für grundsätzlich klä-
rungsbedürftig, ob ein so genanntes Freigängerhaus eine Anlage für soziale Zwecke
im Sinne von § 4 oder § 6 BauNVO darstellt. Dieses Vorbringen rechtfertigt die Zu-
lassung der Revision nicht.
Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwendung einer Vorschrift enthält
gleichzeitig eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst im Revisionsverfahren zu klä-
rende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisionszulassungsrechts ist Vo-
raussetzung vielmehr, dass der im Rechtsstreit vorhandene Problemgehalt aus Grün-
den der Einheit des Rechts einschließlich gebotener Rechtsfortentwicklung eine
Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entscheidung verlangt. Das ist nach der
ständigen Rechtsprechung aller Senate des Bundesverwaltungsgerichts dann nicht
der Fall, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf der Grundlage der vor-
handenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Geset-
zesinterpretation ohne weiteres beantworten lässt. So liegt es hier.
Das Oberverwaltungsgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Eigenart der nä-
heren Umgebung des Vorhabengrundstücks und des Grundstücks der Klägerin nach
§ 34 Abs. 2 BauGB einem der Baugebiete der BauNVO entspricht. Dabei hat es of-
fen gelassen, ob die Umgebung als faktisches allgemeines Wohngebiet oder (im
Hinblick auf eine Autowaschanlage) als faktisches Mischgebiet einzustufen ist. In
jedem Fall sei ein Freigängerhaus - in dem hier 60 männliche Gefangene unterge-
bracht werden sollen - nicht zulässig, da es sich nicht um eine Wohnnutzung, eine
Anlage für soziale Zwecke oder eine Anlage für Verwaltung handele.
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Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage kann mit dem Oberverwaltungsgericht
verneint werden, ohne dass es hierfür der Durchführung eines Revisionsverfahrens
bedürfte. Anlagen für soziale Zwecke dienen in einem weiten Sinn der sozialen Für-
sorge und der öffentlichen Wohlfahrt. Es handelt sich um Nutzungen, die auf Hilfe,
Unterstützung, Betreuung und ähnliche fürsorgerische Maßnahmen ausgerichtet
sind. Als typische Beispiele werden Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, alte
Menschen sowie andere Personengruppen angesehen, die (bzw. deren Eltern) ein
besonderes soziales Angebot wahrnehmen wollen (vgl. Stock, in: König/Roeser/
Stock, BauNVO, 2. Auflage 2003, Rn. 51 zu § 4 BauNVO; Ziegler, in: Brügelmann,
BauGB, Rn. 66 zu § 2 BauNVO). Sie sollen - in der Formulierung des § 3 Abs. 3
BauNVO - den Bedürfnissen der die Einrichtung in Anspruch nehmenden Personen
dienen.
Demgegenüber stellt ein Freigängerhaus als offene Anstalt des Justizvollzugs eine
anders geartete Einrichtung dar. Sie dient dem durch ein Strafurteil angeordneten
Strafvollzug. Die Strafgefangenen begeben sich nicht in die Anstalt, um dort von ei-
ner sozialen Einrichtung zu profitieren. Davon könnte erst gesprochen werden, wenn
es sich um frühere Strafgefangene handelt, die beispielsweise eine Anlaufstelle für
Entlassene aufsuchen, um dort Betreuung und Unterstützung zu erhalten.
Diese bauplanungsrechtliche Einordnung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass
der gesamte Strafvollzug nach § 2 Satz 1 StVollzG der Resozialisierung dient und
den Betroffenen befähigen soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne
Straftaten zu führen. Freigang stellt nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG eine Form der
Lockerung des Vollzugs dar; der Vollzugscharakter als solcher wird jedoch nicht in
Frage gestellt. Denn der Gefangene darf zwar außerhalb der Anstalt einer Beschäfti-
gung nachgehen; gerade während des Aufenthalts im Freigängerhaus wird jedoch
der weiter geltende Charakter als Form des Vollzugs besonders deutlich, denn die
Anstalt darf nicht frei verlassen werden.
In der Literatur wird ebenfalls überwiegend davon ausgegangen, dass ein Freigän-
gerhaus nicht als Anlage für soziale Zwecke eingestuft werden kann (Stock, a.a.O.,
Rn. 27 zu § 3 BauNVO; Fickert/Fieseler, BauNVO, 10. Auflage 2002, Rn. 16.33 zu
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§ 3 BauNVO; Ziegler, a.a.O.; lediglich Bielenberg, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg,
BauGB, Rn. 11 zu § 3 BauNVO geht ohne nähere Begründung von einer Anlage für
soziale Zwecke aus). Der von der Beschwerde zitierte Beschluss des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 2. Mai 1980 (BRS 36 Nr. 183) ist für die hier interessie-
rende Frage unergiebig. In dem seinerzeit entschiedenen Fall hat der Verwaltungs-
gerichtshof die von ihm - offen gelassene - Frage angesprochen, ob ein Freigänger-
haus ein Wohngebäude im Sinne des § 3 Abs. 2 BauNVO ist. Mit der Thematik, ob
ein solches Haus eine Anlage für soziale Zwecke ist, hat es sich nicht beschäftigt und
musste dies auch nicht tun, weil bis zum In-Kraft-Treten der BauNVO 1990 in reinen
Wohngebieten Anlagen für soziale Zwecke generell unzulässig waren (vgl. die
synoptische Gegenüberstellung von § 3 BauNVO 1977 und § 3 BauNVO 1990 bei
Bielenberg, a.a.O., Rn. 2 zu § 3 BauNVO). Der Beschluss des Oberverwaltungsge-
richts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. November 1984 (NJW 1985, 2350)
kann ebenfalls nicht herangezogen werden, da es dort um die anders gelagerte Fra-
ge ging, ob durch eine im Außenbereich liegende Anstalt des offenen Vollzugs das
Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird.
Im Übrigen ist hervorzuheben, dass entgegen den Formulierungen in der Beschwer-
de und der Ansicht des Verwaltungsgerichts auf der Grundlage dieser rechtlichen
Würdigung die Schaffung eines Freigängerhauses (durch Errichtung oder Nutzungs-
änderung) nicht nur durch die Überplanung mit einem Sondergebiet nach § 11 Abs. 1
BauNVO, sondern auch im Wege der Befreiung nach § 34 Abs. 2 BauGB in
Verbindung mit § 31 Abs. 2 BauGB möglich ist, wenn die Voraussetzungen hierfür im
Einzelfall vorliegen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf
§ 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Paetow
Gatz
Dr. Jannasch
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Bauplanungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
BauGB
§ 34 Abs. 2
BauNVO
§§ 3; 4; 6
StVollzG
§ 11
Stichworte:
Anlage für soziale Zwecke; Freigängerhaus; offener Strafvollzug; allgemeines
Wohngebiet; Mischgebiet.
Leitsatz:
Eine Anstalt des offenen Strafvollzugs ("Freigängerhaus") ist keine Anlage für soziale
Zwecke im Sinne der Baunutzungsverordnung.
Beschluss des 4. Senats vom 26. Juli 2005 - BVerwG 4 B 33.05
I. VG Chemnitz vom 28.05.2003 - Az.: VG 3 K 1938/00 -
II. OVG Bautzen vom 03.03.2005 - Az.: OVG 1 B 120/04 -