Urteil des BVerwG vom 24.09.2009

Befreiung, Ermessensfehler, Versorgung, Rechtskraftwirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 30.09
OVG 10 A 3002/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. September 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und die Richterin am
Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulas-
sung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsge-
richts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
17. Dezember 2008 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfah-
rens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5 000 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Das Berufungsgericht hat auf die Klage eines Nachbarn die der Beigeladenen
erteilte Befreiung zur Errichtung einer Mobilfunkstation in einem auf der Grund-
lage eines Bebauungsplans aus dem Jahr 1980 festgesetzten reinen Wohnge-
biet aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Befreiung von der Fest-
setzung des Bebauungsplans hinsichtlich der Art der Nutzung - WR - sei schon
deshalb rechtswidrig, weil durch sie die Grundzüge der Planung berührt würden
(UA S. 15 - 23). Da bereits die Grundzüge der Planung berührt seien, komme
es nicht mehr darauf an, ob die Beigeladene sich auf einen Befreiungsgrund
stützen könne und ob die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher
Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei (UA S. 22). Schließlich
sei die Befreiung auch deshalb rechtswidrig, weil der angefochtene Verwal-
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tungsakt in Gestalt des Widerspruchsbescheides an einem Ermessensfehler
leide. Denn der Beklagte bzw. die Widerspruchsbehörde hätten das ihnen ein-
geräumte Ermessen nicht ausgeübt (UA S. 23 - 25).
Die von der Beigeladenen als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene
Frage,
ob der Zulassung einer Mobilfunkanlage in einem reinen
Wohngebiet nach § 31 Abs. 2 BauGB „Grundzüge der
Planung“ regelhaft entgegenstehen können, wenn unter
Beachtung der Grundentscheidung des Verordnungsge-
bers zu § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO das Vorliegen der Be-
freiungsalternative „Wohl der Allgemeinheit“ i.S.d. § 31
Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu bejahen wäre,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. Es fehlt an der Darlegung der
Entscheidungserheblichkeit.
Der Beschwerde geht es ungeachtet der allgemein gehaltenen Formulierung
ersichtlich um die Frage, welche Bedeutung die Ergänzung der BauNVO im
Jahr 1990 durch § 14 Abs. 2 Satz 2 für die Frage hat, inwieweit die Zulassung
von Mobilfunkanlagen in einem reinen Wohngebiet „Grundzüge der Planung“
berühren kann, wenn die Festsetzung auf der Grundlage eines vor Inkrafttreten
der BauNVO 1990 beschlossenen Bebauungsplans erfolgt ist. Das ergibt sich
zwar nicht aus dem Wortlaut der Frage, erschließt sich aber aus der Begrün-
dung. Wie darin ausgeführt wird, will die Beschwerde geklärt wissen, ob „diese
seit 1990 eingetretene Rechtsentwicklung Einfluss darauf besitzt, was bei ei-
nem Bebauungsplan heute noch als ‚Grundzüge der Planung’ verstanden wer-
den könne, wenn der Ortsgesetzgeber die Entwicklung des Mobilfunks im Zeit-
punkt der planerischen Abwägung nicht einmal im Ansatz bedenken und darauf
mit einer abwägenden Entscheidung reagieren konnte“ (Beschwerdebegrün-
dung S. 10). Zur Entscheidungserheblichkeit führt die Beschwerde - zutreffend -
aus, dass sich die Frage (nur) dann stelle, wenn die übrigen tatbestandlichen
Voraussetzungen für eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB erfüllt seien.
Das sei hier der Fall; jedenfalls habe das Berufungsgericht gegenläufige
Feststellungen nicht getroffen. Für das Revisionsverfahren sei also zu un-
terstellen, dass das Berufungsgericht angenommen habe, im Sachverhalt „er-
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forderten“ die Belange des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung (Beschwer-
debegründung S. 13 f.). Auf diesem Wege lässt sich die Entscheidungserheb-
lichkeit der Frage indes nicht begründen. Das Berufungsgericht hat die Frage,
ob ein Befreiungsgrund vorliegt, ausdrücklich offen gelassen (UA S. 22), so
dass es bereits an tatsächlichen Feststellungen fehlt, an Hand derer sich beur-
teilen ließe, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB und damit
für die „Unterstellung“ der Beschwerde gegeben sind. Nach der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts kommt die Zulassung der Grundsatzre-
vision aber dann nicht in Betracht, wenn die Vorinstanz eine Tatsache nicht
festgestellt hat, die für die Entscheidung der angesprochenen Rechtsfrage er-
heblich sein würde, sondern lediglich die Möglichkeit besteht, dass die Rechts-
frage nach Zurückverweisung der Sache aufgrund weiterer Sachaufklärung
entscheidungserheblich werden könnte (vgl. nur Beschlüsse vom 28. Dezember
1998 - BVerwG 9 B 197.98 - und vom 28. November 2005 - BVerwG 4 B
66.05 - ZfBR 2006, 159).
Legt man allein den Wortlaut der Frage zugrunde, handelt es sich bei dem Ne-
bensatz „wenn unter Beachtung der Grundentscheidung des Verordnungsge-
bers zu § 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO das Vorliegen der Befreiungsalternative
‚Wohl der Allgemeinheit’ i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu bejahen wäre“, um
eine der Frage nach den „Grundzügen der Planung“ vorgelagerte, mit gestellte
(Vor-) Frage. Dieser Frage liegt die Rechtsauffassung zugrunde, dass eine flä-
chendeckende angemessene und ausreichende Versorgung mit Telekommuni-
kationsdienstleistungen nach der Entwicklung der heutigen Lebensverhältnisse
„vernünftigerweise“ im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB geboten sei (Be-
schwerdebegründung S. 12 ff.) und daher - wie in der Frage formuliert - das
Vorliegen der Befreiungsalternative „Wohl der Allgemeinheit“ i.S.d. § 31 Abs. 2
Nr. 1 BauGB zu bejahen wäre. Auch diese Frage stellt sich indes nicht. In der
Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass für alle drei Fallgruppen des § 31
Abs. 2 BauGB gilt, dass eine Befreiung nicht schon erteilt werden kann, wenn
die jeweiligen Voraussetzungen der Befreiungsgründe vorliegen, sondern dass
zusätzlich die Grundzüge der Planung nicht berührt werden dürfen (Beschlüsse
vom 1. November 1999 - BVerwG 4 B 3.99 - Buchholz 406.12 § 14 BauNVO
Nr. 15 - juris Rn. 13 und vom 5. März 1999 - BVerwG 4 B 5.99 - Buchholz
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406.11 § 31 BauGB Nr. 39 - juris Rn. 4). Insofern hat der Umstand, dass ein
Befreiungsgrund vorliegt, keine Bedeutung für die Frage, ob der Zulassung ei-
ner Mobilfunkanlage in einem reinen Wohngebiet „Grundzüge der Planung“
regelhaft entgegenstehen können. Wenn - wie das Berufungsgericht festgestellt
hat - die „Grundzüge der Planung“ berührt werden, hat dies in der Tat die Kon-
sequenz, dass eine Befreiung tatbestandsmäßig ausscheidet.
Die von der Beschwerde kritisierte Nicht-Anwendbarkeit des § 31 Abs. 2 BauGB
wegen Berührens der „Grundzüge der Planung" (Beschwerdebegründung S. 14
f.) beruht auch nicht etwa - wie die Beschwerde es nahe legt - darauf, dass das
Berufungsgericht „regelhaft“ die „Grundzüge der Planung“ nur deswegen als
berührt angesehen hat, weil es sich bei dem festgesetzten Baugebiet um ein
reines Wohngebiet i.S.d. § 3 BauNVO 1977 handelt. Die Einschätzung des
Berufungsgerichts, dass die Zulassung der gewerblichen Mobilfunkanlage im
Wege der Befreiung die Grundzüge der Planung berühre, beruht auf einer die
konkreten Umstände würdigenden Einzelfallbetrachtung (UA S. 16 ff.). Das
Berufungsgericht hat gerade nicht „regelhaft“ angenommen, dass „Grundzüge
der Planung“ der Zulassung einer Mobilfunkanlage in einem reinen Wohngebiet
entgegenstehen können, sondern zugrunde gelegt, dass in jedem Befreiungsfall
eine Einzelentscheidung zu treffen sei, die die Besonderheiten der konkreten
Planungssituation vollständig erfasse und die Auswirkungen des zur Befreiung
gestellten Vorhabens umfassend bewerte (UA S. 17). Es hat festgestellt, dass
auch dann, wenn das planerische Grundkonzept nicht von § 3 Abs. 1 bis 4
BauNVO 1977 abweiche und dementsprechend kein „kompromisslos“ reines
Wohngebiet festgesetzt sei, die Zulassung einer einzelnen Mo-
bilfunksendeanlage mit einem Antennenmast unter Berücksichtigung der jewei-
ligen örtlichen Verhältnisse den Gebietscharakter im Einzelfall in einer Weise
beeinträchtigen könne, dass die Grundzüge der Planung durch die Erteilung
einer Befreiung berührt würden (UA S. 18). Es ist weiter davon ausgegangen,
dass die Zulassung einer Mobilfunksendeanlage mit einem Antennenmast je
nach den Umständen des Einzelfalles auch noch als Randkorrektur von minde-
rem Gewicht einzustufen sein könne, die die Grundzüge der Planung nicht be-
rühre (UA S. 18), hat nach den Auswirkungen der konkreten Anlage auf die nä-
here Umgebung gefragt und ist auf der Grundlage des vorgenommenen Au-
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genscheins zu der - in tatsächlicher Hinsicht bindenden - Einschätzung gelangt,
dass die Anlage zu einer nachhaltig störenden Dominanz und gewerblichen
Überformung des reinen Wohngebiets führe (UA S. 21) und dass die städte-
bauliche Situation durch das Hinzutreten der streitigen Anlage zu Lasten des
Wohngebietscharakters nicht unerheblich in Bewegung gebracht werde (UA
S. 21).
Die Grundsatzfrage, die die Beschwerde im Zusammenhang mit den ergän-
zenden Ausführungen des Berufungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Ermes-
sensbetätigung aufwirft und mit der die unterschiedliche Rechtskraftwirkung der
Begründungen thematisiert wird (Beschwerdebegründung S. 16 - 24), stellt sich
nicht. Ist eine gerichtliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere, jeweils für sich
selbstständig tragfähige Gründe gestützt worden, kommt eine Zulassung der
Revision nur in Betracht, wenn für jeden dieser Gründe ein Zulassungsgrund
geltend gemacht wird und vorliegt. Da mit der Verneinung des Tatbestands-
merkmals „Grundzüge der Planung“ - wie die Beschwerde es formuliert - ein
„absoluter“ Grund vorliegt und die darauf bezogene Grundsatzrüge erfolglos
bleibt, stellt sich die Frage nicht, ob der festgestellte Ermessensfehler lediglich
einen „relativen“ Rechtsmangel darstellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Bumke
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