Urteil des BVerwG vom 24.09.2009

Befreiung, Ermessensfehler, Versorgung, Rechtskraftwirkung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 29.09
OVG 10 A 2999/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. September 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und die Richterin am Bundes-
verwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. Dezember 2008 wird
zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5 000 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Das Berufungsgericht hat auf die Klage eines Nachbarn die der Beigeladenen er-
teilte Befreiung zur Errichtung einer Mobilfunkstation in einem auf der Grundlage
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eines Bebauungsplans aus dem Jahr 1980 festgesetzten reinen Wohngebiet auf-
gehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Befreiung von der Festsetzung des
Bebauungsplans hinsichtlich der Art der Nutzung - WR - sei schon deshalb rechts-
widrig, weil durch sie die Grundzüge der Planung berührt würden (UA S. 14 - 21).
Da bereits die Grundzüge der Planung berührt seien, komme es nicht mehr darauf
an, ob die Beigeladene sich auf einen Befreiungsgrund stützen könne und ob die
Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen
Belangen vereinbar sei (UA S. 21). Schließlich sei die Befreiung auch deshalb
rechtswidrig, weil der angefochtene Verwaltungsakt in Gestalt des Widerspruchs-
bescheides an einem Ermessensfehler leide. Denn der Beklagte bzw. die Wider-
spruchsbehörde hätten das ihnen eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt (UA
S. 22 - 24).
Die von der Beigeladenen als grundsätzlich klärungsbedürftig aufgeworfene Frage,
ob der Zulassung einer Mobilfunkanlage in einem reinen
Wohngebiet nach § 31 Abs. 2 BauGB „Grundzüge der Pla-
nung“ regelhaft entgegenstehen können, wenn unter Beach-
tung der Grundentscheidung des Verordnungsgebers zu § 14
Abs. 2 Satz 2 BauNVO das Vorliegen der Befreiungsalterna-
tive „Wohl der Allgemeinheit“ i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB
zu bejahen wäre,
rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. Es fehlt an der Darlegung der Ent-
scheidungserheblichkeit.
Der Beschwerde geht es ungeachtet der allgemein gehaltenen Formulierung er-
sichtlich um die Frage, welche Bedeutung die Ergänzung der BauNVO im Jahr
1990 durch § 14 Abs. 2 Satz 2 für die Frage hat, inwieweit die Zulassung von Mo-
bilfunkanlagen in einem reinen Wohngebiet „Grundzüge der Planung“ berühren
kann, wenn die Festsetzung auf der Grundlage eines vor Inkrafttreten der BauNVO
1990 beschlossenen Bebauungsplans erfolgt ist. Das ergibt sich zwar nicht aus
dem Wortlaut der Frage, erschließt sich aber aus der Begründung. Wie darin aus-
geführt wird, will die Beschwerde geklärt wissen, ob „diese seit 1990 eingetretene
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Rechtsentwicklung Einfluss darauf besitzt, was bei einem Bebauungsplan heute
noch als ‚Grundzüge der Planung’ verstanden werden könne, wenn der Ortsge-
setzgeber die Entwicklung des Mobilfunks im Zeitpunkt der planerischen Abwä-
gung nicht einmal im Ansatz bedenken und darauf mit einer abwägenden Ent-
scheidung reagieren konnte“ (Beschwerdebegründung S. 11). Zur Entscheidungs-
erheblichkeit führt die Beschwerde - zutreffend - aus, dass sich die Frage (nur)
dann stelle, wenn die übrigen tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung
nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB erfüllt seien. Das sei hier der Fall; jedenfalls habe
das Berufungsgericht gegenläufige Feststellungen nicht getroffen. Für das Revisi-
onsverfahren sei also zu unterstellen, dass das Berufungsgericht angenommen
habe, im Sachverhalt „erforderten“ die Belange des Wohls der Allgemeinheit die
Befreiung (Beschwerdebegründung S. 14). Auf diesem Wege lässt sich die Ent-
scheidungserheblichkeit der Frage indes nicht begründen. Das Berufungsgericht
hat die Frage, ob ein Befreiungsgrund vorliegt, ausdrücklich offen gelassen (UA
S. 21), so dass es bereits an tatsächlichen Feststellungen fehlt, an Hand derer sich
beurteilen ließe, ob die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB und damit
für die „Unterstellung“ der Beschwerde gegeben sind. Nach der Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts kommt die Zulassung der Grundsatzrevision aber
dann nicht in Betracht, wenn die Vorinstanz eine Tatsache nicht festgestellt hat, die
für die Entscheidung der angesprochenen Rechtsfrage erheblich sein würde, son-
dern lediglich die Möglichkeit besteht, dass die Rechtsfrage nach Zurückverwei-
sung der Sache aufgrund weiterer Sachaufklärung entscheidungserheblich werden
könnte (vgl. nur Beschlüsse vom 28. Dezember 1998 - BVerwG 9 B 197.98 - und
vom 28. November 2005 - BVerwG 4 B 66.05 - ZfBR 2006, 159).
Legt man allein den Wortlaut der Frage zugrunde, handelt es sich bei dem Neben-
satz „wenn unter Beachtung der Grundentscheidung des Verordnungsgebers zu
§ 14 Abs. 2 Satz 2 BauNVO das Vorliegen der Befreiungsalternative ‚Wohl der All-
gemeinheit’ i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu bejahen wäre“, um eine der Frage
nach den „Grundzügen der Planung“ vorgelagerte, mit gestellte (Vor-) Frage. Die-
ser Frage liegt die Rechtsauffassung zugrunde, dass eine flächendeckende ange-
messene und ausreichende Versorgung mit Telekommunikationsdienstleistungen
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nach der Entwicklung der heutigen Lebensverhältnisse „vernünftigerweise“ im Sin-
ne des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB geboten sei (Beschwerdebegründung S. 12 ff.)
und daher - wie in der Frage formuliert - das Vorliegen der Befreiungsalternative
„Wohl der Allgemeinheit“ i.S.d. § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB zu bejahen wäre. Auch
diese Frage stellt sich indes nicht. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt,
dass für alle drei Fallgruppen des § 31 Abs. 2 BauGB gilt, dass eine Befreiung
nicht schon erteilt werden kann, wenn die jeweiligen Voraussetzungen der Befrei-
ungsgründe vorliegen, sondern dass zusätzlich die Grundzüge der Planung nicht
berührt werden dürfen (Beschlüsse vom 1. November 1999 - BVerwG 4 B 3.99 -
Buchholz 406.12 § 14 BauNVO Nr. 15 - juris Rn. 13 und vom 5. März 1999
- BVerwG 4 B 5.99 - Buchholz 406.11 § 31 BauGB Nr. 39 - juris Rn. 4). Insofern
hat der Umstand, dass ein Befreiungsgrund vorliegt, keine Bedeutung für die Fra-
ge, ob der Zulassung einer Mobilfunkanlage in einem reinen Wohngebiet „Grund-
züge der Planung“ regelhaft entgegenstehen können. Wenn - wie das Berufungs-
gericht festgestellt hat - die „Grundzüge der Planung“ berührt werden, hat dies in
der Tat die Konsequenz, dass eine Befreiung tatbestandsmäßig ausscheidet.
Die von der Beschwerde kritisierte Nicht-Anwendbarkeit des § 31 Abs. 2 BauGB
wegen Berührens der „Grundzüge der Planung“ (Beschwerdebegründung S. 15)
beruht auch nicht etwa - wie die Beschwerde es nahe legt - darauf, dass das Beru-
fungsgericht „regelhaft“ die „Grundzüge der Planung“ nur deswegen als berührt
angesehen hat, weil es sich bei dem festgesetzten Baugebiet um ein reines
Wohngebiet i.S.d. § 3 BauNVO 1977 handelt. Die Einschätzung des Berufungsge-
richts, dass die Zulassung der gewerblichen Mobilfunkanlage im Wege der Befrei-
ung die Grundzüge der Planung berühre, beruht auf einer die konkreten Umstände
würdigenden Einzelfallbetrachtung (UA S. 15 ff.). Das Berufungsgericht hat gerade
nicht „regelhaft“ angenommen, dass „Grundzüge der Planung“ der Zulassung einer
Mobilfunkanlage in einem reinen Wohngebiet entgegenstehen können, sondern
zugrunde gelegt, dass in jedem Befreiungsfall eine Einzelentscheidung zu treffen
sei, die die Besonderheiten der konkreten Planungssituation vollständig erfasse
und die Auswirkungen des zur Befreiung gestellten Vorhabens umfassend bewerte
(UA S. 15). Es hat festgestellt, dass auch dann, wenn das planerische Grundkon-
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zept nicht von § 3 Abs. 1 bis 4 BauNVO 1977 abweiche und dementsprechend
kein „kompromisslos“ reines Wohngebiet festgesetzt sei, die Zulassung einer ein-
zelnen Mobilfunksendeanlage mit einem Antennenmast unter Berücksichtigung der
jeweiligen örtlichen Verhältnisse den Gebietscharakter im Einzelfall in einer Weise
beeinträchtigen könne, dass die Grundzüge der Planung durch die Erteilung einer
Befreiung berührt würden (UA S. 17). Es ist weiter davon ausgegangen, dass die
Zulassung einer Mobilfunksendeanlage mit einem Antennenmast je nach den Um-
ständen des Einzelfalles auch noch als Randkorrektur von minderem Gewicht ein-
zustufen sein könne, die die Grundzüge der Planung nicht berühre (UA S. 17), hat
nach den Auswirkungen der konkreten Anlage auf die nähere Umgebung gefragt
und ist auf der Grundlage des vorgenommenen Augenscheins zu der - in tatsächli-
cher Hinsicht bindenden - Einschätzung gelangt, dass die Anlage zu einer nachhal-
tig störenden Dominanz und gewerblichen Überformung des reinen Wohngebiets
führe (UA S. 19) und dass die städtebauliche Situation durch das Hinzutreten der
streitigen Anlage zu Lasten des Wohngebietscharakters nicht unerheblich in Be-
wegung gebracht werde (UA S. 20).
Die Grundsatzfrage, die die Beschwerde im Zusammenhang mit den ergänzenden
Ausführungen des Berufungsgerichts zur Rechtmäßigkeit der Ermessensbetäti-
gung aufwirft und mit der die unterschiedliche Rechtskraftwirkung der Begründun-
gen thematisiert wird (Beschwerdebegründung S. 17 - 25), stellt sich nicht. Ist eine
gerichtliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere, jeweils für sich selbstständig
tragfähige Gründe gestützt worden, kommt eine Zulassung der Revision nur in Be-
tracht, wenn für jeden dieser Gründe ein Zulassungsgrund geltend gemacht wird
und vorliegt. Da mit der Verneinung des Tatbestandsmerkmals „Grundzüge der
Planung“ - wie die Beschwerde es formuliert - ein „absoluter“ Grund vorliegt und
die darauf bezogene Grundsatzrüge erfolglos bleibt, stellt sich die Frage nicht, ob
der festgestellte Ermessensfehler lediglich einen „relativen“ Rechtsmangel dar-
stellt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung
auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Gatz
Dr. Bumke
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