Urteil des BVerwG vom 06.09.2012

Vorrang, Erlass

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 28.12
OVG 2 A 760/10
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. September 2012
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz
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beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. März 2012 wird
zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 100 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte
Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die behauptete Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegt nicht vor.
Der Kläger macht geltend, das Berufungsurteil weiche von dem Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 C 17.97 - (BVerwGE 106,
351) ab. Nach dieser Entscheidung beurteile sich die Zulässigkeit einer Ergän-
zung von Ermessenserwägungen nicht allein nach § 114 Satz 2 VwGO. Sie sei
vielmehr zunächst nach dem einschlägigen materiellen Recht sowie nach dem
Verwaltungsverfahrensrecht zu prüfen. § 114 Satz 2 VwGO habe lediglich die
Bedeutung, dass einem danach zulässigen Nachholen von Ermessenserwä-
gungen prozessuale Hindernisse nicht entgegenstehen. Davon abweichend
räume das Berufungsgericht dem § 114 Satz 2 VwGO einen Vorrang ein, wenn
es ausführe, § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG NRW könne einer nach § 114
Satz 2 VwGO zulässigen Ergänzung von Ermessenserwägungen „keine weiter-
gehenden Grenzen“ setzen.
Dieser Beschwerdevortrag rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Einen
entsprechenden Vorrang hat das Oberverwaltungsgericht der Vorschrift des
§ 114 Satz 2 VwGO nicht eingeräumt. Es hat sich zwar auf den Standpunkt ge-
stellt, einem Nachschieben von Ermessenserwägungen im Berufungsverfahren
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- soweit überhaupt gegeben - stehe nicht entgegen, dass das Nachreichen
der erforderlichen Begründung eines Verwaltungsakts gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 2,
Abs. 2 VwVfG NRW nur bis zum Abschluss der ersten Instanz eines verwal-
tungsgerichtlichen Verfahrens erfolgen könne; denn diese verwaltungsverfah-
rensrechtlichen Vorschriften beträfen - so die Begründung des Oberverwal-
tungsgerichts (UA S. 20 f.) - nur den Fall, dass diejenigen Gründe, die für den
Erlass eines Verwaltungsakts tatsächlich maßgebend waren und die in der zu-
nächst gegebenen Begründung nicht oder nicht ausreichend wiedergegeben
worden waren, nachträglich bekanntgegeben werden, nicht aber ein „Nach-
schieben von Gründen“ in dem Sinne, dass die von der Behörde tatsächlich
angestellten Erwägungen im Nachhinein korrigiert und durch neue oder andere
Erwägungen ergänzt oder ausgewechselt würden. Nur für den Fall eines - nach
Ansicht des Oberverwaltungsgerichts hier allenfalls vorliegenden - zulässigen
„Ergänzens von Ermessenserwägungen“ ist die Vorinstanz also zu dem Ergeb-
nis gelangt, dass „dem durch die genannten Vorschriften des Verwaltungsver-
fahrensrechts keine weitergehenden Grenzen gesetzt“ seien. Diese Auffassung
deckt sich mit der vom Bundesverwaltungsgericht (a.a.O. S. 364) vertretenen
Rechtsauffassung, dass gegen die Zulässigkeit einer bloßen Ergänzung von
Ermessenserwägungen während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens kei-
ne (verwaltungsverfahrensrechtlichen) Bedenken bestehen. Dass § 45 Abs. 1
Nr. 2, Abs. 2 VwVfG NRW einem Nachschieben von Ermessenserwägungen im
Berufungsverfahren „keine weitergehenden Grenzen“ setzen könne,
weil § 114 Satz 2 VwGO auch insoweit einen Vorrang genieße, als die nachge-
schobenen Gründe über eine bloße Ergänzung von Ermessenserwägungen
hinausgehen, hat das Oberverwaltungsgericht nicht angenommen.
2. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssa-
che (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Die von der Beschwerde aufgewor-
fene Frage,
ob „§ 46 Abs. 2 mit Abs. 1 Nr. 2 VwVfG NRW“ (gemeint ist
wohl: § 45 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 2 VwVfG NRW) nicht nur für
das Nachschieben der Begründung eines Verwaltungsakts
(formelles Erfordernis), sondern auch für das Anstellen
neuer Erwägungen selbst (materielles Erfordernis) eine
zeitliche Grenze setzt,
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betrifft vom Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes abweichendes und damit
nicht revisibles Landes-Verwaltungsverfahrensrecht; bezogen auf die entspre-
chende Vorschrift des Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes wäre sie
nicht klärungsbedürftig.
Die Beschwerde meint, die Frage sei in der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts nicht abschließend geklärt, weil die von ihr zitierten Entschei-
dungen zur früheren Fassung des § 45 Abs. 2 VwVfG ergangen seien, nach der
eine Fehlerbehebung nur bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens mög-
lich gewesen sei. Für klärungsbedürftig hält sie deshalb, ob diese Heilungsmög-
lichkeit auch noch im Berufungsverfahren bestehe, weil 㤠46 Abs. 2 VwVfG
n.F. (gemeint ist: § 45 Abs. 2 VwVfG) … die Heilung nur bis zum Abschluss der
ersten Instanz“ zulasse. Mit dieser Formulierung zielt die Beschwerde auf § 45
Abs. 2 VwVfG NRW, wonach „Handlungen des Absatzes 1 Nr. 2 bis 5 … nur bis
zum Abschluss der ersten Instanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens
nachgeholt werden“ dürfen. Ihr steht die Regelung des § 45 Abs. 2 des VwVfG
des Bundes gegenüber, die eine Nachholung von Verfahrenshandlungen „bis
zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen
Verfahrens“, also auch noch während der Berufungsinstanz (§ 128 VwGO) zu-
lässt. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage ist deshalb so zu verstehen,
dass sie sich auf die von § 45 Abs. 2 des VwVfG des Bundes abweichende Re-
gelung in § 45 Abs. 2 VwVfG NRW bezieht. Sie betrifft damit nicht revisibles
Recht, weil die Revision gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nur darauf gestützt
werden kann, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift
des Verwaltungsverfahrensgesetzes eines Landes beruht, die ihrem Wortlaut
nach mit dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes übereinstimmt.
Bezogen auf § 45 Abs. 2 des VwVfG des Bundes wäre die Frage nicht klä-
rungsbedürftig. Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(a.a.O.) ist - wie ausgeführt - geklärt, dass gegen die Zulässigkeit einer bloßen
Ergänzung von Ermessenserwägungen während des verwaltungsgerichtlichen
Verfahrens keine (verwaltungsverfahrensrechtlichen) Bedenken bestehen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfest-
setzung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Gatz
Dr. Philipp
Petz
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