Urteil des BVerwG vom 16.11.2010

Offensichtlich Aktenwidrige Feststellung, Geschoss, Anfang, Einheit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 28.10
VGH 3 A 160/10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. November 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Jannasch und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
beschlossen:
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsge-
richtshofs vom 9. März 2010 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens
einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigela-
denen zu 1 als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen zu 2 sind nicht erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
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G r ü n d e :
Die auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg.
1. Das Beschwerdevorbringen ergibt nicht, dass die Revision wegen grundsätz-
licher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen wäre.
1.1 Die Fragen
Liegt in der erheblichen Beeinträchtigung der Gesamtan-
lage zugleich eine erhebliche Beeinträchtigung eines
denkmalgeschützten Wohngebäudes - hier der Kläger -
als Teil der Gesamtanlage?
Hat der Eigentümer eines Wohngebäudes, das Teil einer
denkmalgeschützten Gesamtanlage ist, einen verfassung-
sunmittelbaren, aus Art. 14 Abs. 1 GG resultierenden
Abwehranspruch gegen ein die Gesamtanlage erheblich
beeinträchtigendes Vorhaben, auch wenn das Wohnge-
bäude - so der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts
(angeblich) - durch das Vorhaben nicht erheblich beein-
trächtigt ist?
Unter welchen Voraussetzungen hat bei Anwendung und
Auslegung landesrechtlicher Regelungen der Denkmal-
schutzgesetze der Eigentümer eines (als Teil einer Ge-
samtanlage) unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes
im Lichte des Art. 14 Abs. 1 GG einen Abwehranspruch
und einen Anspruch auf Aufhebung einer dem Nachbarn
erteilten Baugenehmigung?
rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat
in seinem Urteil näher dargelegt, unter welchen landesrechtlichen Vorausset-
zungen ein denkmalschutzrechtlicher Abwehranspruch in Betracht kommt (UA
S. 15 f.). Der nach Art. 14 Abs. 1 GG gebotene nachbarliche Drittschutz ver-
langt nur, dass der Eigentümer des Denkmals als Nachbar - bestimmte - Ver-
letzungen objektiven Rechts geltend machen kann (Urteil vom 21. April 2009
- BVerwG 4 C 3.08 - BVerwGE 133, 347 Rn. 18). Art. 14 Abs. 1 GG vermittelt
insofern ein - wie die Kläger formulieren - grundrechtlich gebotenes Mindest-
maß an denkmalrechtlichem Nachbarschutz. Aus Art. 14 Abs. 1 GG folgt indes
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nicht, dass sich aus einem objektiv-rechtlichen Verstoß gegen Landesdenkmal-
recht gleichsam automatisch eine Verletzung des subjektiven Rechts eines
Denkmaleigentümers ergibt. Ob ein Denkmaleigentümer einen Abwehranspruch
gegen eine objektiv-rechtlich erhebliche Beeinträchtigung einer denk-
malgeschützten Gesamtanlage „als solche“ hat, ist eine Frage des einfachen
Rechts. Die Belange des Denkmalschutzes werden in der Regel - positiv wie
negativ - durch das Landesdenkmalrecht konkretisiert (Urteil vom 21. April 2009
a.a.O. Rn. 21). Das Landesdenkmalrecht darf den Schutz eines Denkmaleigen-
tümers, dessen Gebäude Teil einer denkmalgeschützten Gesamtanlage ist, auf
die Abwehr einer erheblichen Beeinträchtigung seiner Belange - mit Blick auf
sein Eigentum - beschränken. Die Entscheidung darüber, ob die erhebliche Be-
einträchtigung der Gesamtanlage zugleich zu einer erheblichen Beeinträchti-
gung eines einzelnen - einen Teil der Gesamtanlage bildenden - Gebäudes
führt, ist eine Tatsachenfrage, die anhand der jeweiligen örtlichen Umstände
und Besonderheiten zu beurteilen ist.
1.2 Mit der Frage
Hat der Baunachbar als Eigentümer eines Kulturdenkmals
(als Einzeldenkmal oder Teil der Gesamtanlage) hinsicht-
lich eines Vorhabens in der Umgebung dieses Kultur-
denkmals, das dessen Denkmalwürdigkeit erheblich be-
einträchtigt, grundsätzlich einen Aufhebungsanspruch
bzgl. der Vorhabensgenehmigung, wenn das Vorhaben
seinerseits nicht durch überwiegende Gründe des Allge-
meinwohls oder durch überwiegende private Interessen
gerechtfertigt ist?
werden wiederum lediglich Maßstäbe des Landesrechts benannt. Im Übrigen
hat der Verwaltungsgerichtshof eine erhebliche Beeinträchtigung der denkmal-
rechtlich geschützten Belange der Kläger gerade verneint (UA S. 17).
2. Auch die Divergenzrüge bleibt ohne Erfolg. Eine die Revision eröffnende
Abweichung, also ein Widerspruch im abstrakten Rechtssatz, läge nur vor,
wenn das Berufungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit ei-
nem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz von einem in der
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genannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten eben-
solchen Rechtssatz abgewichen wäre (stRspr).
2.1 Die Beschwerde vertritt die Auffassung, das Urteil des Verwaltungsge-
richtshofs weiche von folgenden Ausführungen des Senats in seinem Urteil vom
21. April 2009 (a.a.O.) Rn. 14 ab:
Vorhaben in der Umgebung eines Kulturdenkmals, die
dessen Denkmalwürdigkeit erheblich beeinträchtigen, dür-
fen [jedoch] nur zugelassen werden, wenn das Vorhaben
seinerseits durch überwiegende Gründe des Gemeinwohls
oder durch überwiegende private Interessen gerechtfertigt
ist.
Entgegen dem Vorbringen der Beschwerde weicht der Verwaltungsgerichtshof
nicht von diesen Maßstäben ab. Er bezieht sich vielmehr ausdrücklich auf das
genannte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (UA S. 15). Für die den Klä-
gern gehörende Doppelhaushälfte gelangt er auf der Grundlage seiner tatsäch-
lichen Würdigung zu dem Ergebnis, diese werde durch das dem Beigeladenen
zu 1 genehmigte neue Wohnhaus „nicht erheblich beeinträchtigt“ (UA S. 17).
Aus diesem Grund verneint er eine Rechtsverletzung.
Mit seiner von der Beschwerde kritisierten Formulierung, es sei die Frage auf-
zuwerfen, ob ein Nachbarvorhaben im Denkmalschutzrecht wie im Baurecht
handgreiflich unzumutbare nachbarliche Beeinträchtigungen hervorrufe oder
nicht (UA S. 16), umschreibt der Verwaltungsgerichtshof die - im Anschluss an
die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - im Landesdenkmalrecht
anzuwendenden Maßstäbe im Einzelnen. Einen von der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts abweichenden Rechtssatz - gar des Bundesrechts -
stellt der Verwaltungsgerichtshof damit nicht auf.
2.2 Eine Abweichung vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Feb-
ruar 2000 - BVerwG 4 C 12.98 - (Buchholz 406.12 § 22 BauNVO Nr. 7 =
BRS 63 Nr. 185) ist ebenfalls nicht erkennbar. Die Beschwerde nimmt Bezug
auf die Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Leitsätze 1 und 2):
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Ein Doppelhaus im Sinne des § 22 Abs. 2 BauNVO ist ei-
ne bauliche Anlage, die dadurch entsteht, dass zwei Ge-
bäude auf benachbarten Grundstücken durch Aneinan-
derbauen an der gemeinsamen Grundstücksgrenze zu ei-
ner Einheit zusammengefügt werden. Das Erfordernis der
baulichen Einheit ist nur erfüllt, wenn die beiden Gebäude
in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise
aneinander gebaut werden.
Der Verwaltungsgerichtshof nimmt auf dieses Urteil ausdrücklich Bezug und
gelangt in Würdigung der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls zum
Ergebnis, die in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufge-
stellten Anforderungen seien hier erfüllt. Die Beschwerde hält diese Würdigung
für unzutreffend. Eine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wird
damit nicht dargelegt. Im Übrigen beziehen sich die Ausführungen im angeführ-
ten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf diejenigen Gebäudeteile, die
sind. Davon kann bei denjenigen Gebäudeteilen, die einen
landesrechtlich vorgegebenen Grenzabstand wahren, nicht gesprochen wer-
den.
3. Auch die Verfahrensrüge bleibt ohne Erfolg. Die Beschwerde macht in erster
Linie geltend, das Gericht habe den Sachverhalt „aktenwidrig“ festgestellt. Eine
derartige Verfahrensrüge bedingt die schlüssig vorgetragene Behauptung, zwi-
schen den in der angegriffenen Entscheidung getroffenen tatsächlichen An-
nahmen und dem insoweit unumstrittenen Akteninhalt bestehe ein Widerspruch.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss dieser
Widerspruch offensichtlich sein, so dass es keiner weiteren Beweiserhebung
zur Klärung des richtigen Sachverhalts bedarf; der Widerspruch muss also
„zweifelsfrei“ sein. Die Verfahrensrüge der Aktenwidrigkeit verlangt eine genaue
Darstellung des Verstoßes, und zwar durch konkrete Angaben von Textstellen
aus den vorinstanzlichen Verfahren, aus denen sich der Widerspruch ergeben
soll. Diese Voraussetzungen sind erforderlich, da eine Kritik an der tatrichterli-
chen Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung als solche nicht als Verfah-
rensmangel rügefähig ist (stRspr; vgl. Beschluss vom 2. November 1999
- BVerwG 4 BN 41.99 - UPR 2000, 226). Ferner ist darzulegen, dass die ange-
griffene Entscheidung auf der behaupteten aktenwidrigen Feststellung beruht.
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, die Kläger hätten selbst den Be-
stand und das Erscheinungsbild des historischen Doppelhauses durch bauliche
Veränderungen auf der Vorder- und Rückseite ihres Wohnhauses verändert.
Auf der Vorderseite sei ein eingeschossiger Anbau um ein Geschoss aufge-
stockt worden, im rückwärtigen Gebäudebereich sei ein Balkon angebaut und
als Teil der Grenzwand ein Glasbausteinfeld errichtet worden (UA S. 17). Die
Beschwerde wendet hiergegen ein, der Balkon und ein Windschutz hätten von
Anfang an existiert und verweist zum Beleg auf entsprechende Fotos in den
Akten. Die Beschwerde stellt indes nicht in Frage, dass auf der östlichen Seite
zunächst im Jahre 1972 ein Balkongitter errichtet wurde und im Jahr 1998 eine
Aufstockung erfolgt ist. Dies belegen auch die beigezogenen Bauakten 20943
(1972) und B 98-1348 (1998). Auch die Errichtung einer Glasbauwand zieht sie
nicht in Zweifel; soweit sie das Ersetzen der Glaswand durch Glasbausteine als
unerheblich wertet, trägt sie lediglich eine andere Würdigung vor, die einen Ver-
fahrensfehler nicht zu begründen vermag. Selbst wenn der Verwaltungsge-
richtshof hinsichtlich des Balkons im rückwärtigen Bereich einem Irrtum erlegen
sein sollte, weil ein solcher von Anfang an bestanden habe und dies zweifelsfrei
erkennbar wäre, würde dies das vom Verwaltungsgerichtshof gewonnene Er-
gebnis nicht entscheidungserheblich in Zweifel ziehen.
Denn der Verwaltungsgerichtshof ist auf der Grundlage einer umfassenden
Würdigung einer Vielzahl von Einzeltatsachen zu dem Ergebnis gelangt, die
Denkmalwürdigkeit der den Klägern gehörenden Doppelhaushälfte werde durch
das dem Beigeladenen zu 1 genehmigte neue Wohnhaus nicht erheblich beein-
trächtigt (UA S. 17). Dabei stellen die zwischen den Beteiligten in ihrem Aus-
maß und ihrer rechtlichen Würdigung streitigen (vgl. nur Antrag der Beklagten
auf Zulassung der Berufung vom 7. September 2009 einerseits, Erwiderungen
der Kläger vom 19. Februar 2010 und vom 4. März 2010 im Berufungsverfahren
andererseits) Veränderungen nur ein Begründungselement von mehreren Ar-
gumenten dar. Außerdem steht der wesentliche Teil dieser Veränderungen,
insbesondere der 1998 erfolgte Anbau im Obergeschoss (statt einer Terrasse),
nicht in Frage. Entscheidend war für den Verwaltungsgerichtshof ersichtlich der
bei seinen Ortsterminen am 16. Dezember 2008 (im Verfahren des vorläufigen
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Rechtsschutzes) und am 9. März 2010 gewonnene Gesamteindruck. Bei der
Entscheidung, eine denkmalrechtliche Rücksichtslosigkeit zu Lasten der Kläger
hier „noch zu verneinen“, hat sich der Verwaltungsgerichtshof ausweislich sei-
ner Begründung ferner davon leiten lassen, dass die nicht dem Neuen Bauen
der 1920er Jahre entsprechende großzügige Befensterung unter Betonung der
Senkrechten mehr auf der dem Gebäude der Kläger abgewandten Gebäude-
seite und bei der Gartenansicht zu finden sei, so dass direkte Blickbeziehungen
vom Gebäude der Kläger aus und umgekehrt nicht vorherrschten (UA S. 18).
Soweit die Kläger ferner die Begründung des Verwaltungsgerichtshofs als ak-
tenwidrig rügen, hinsichtlich des Denkmalwerts der Gesamtanlage Höhenblick
52 bis 60 falle als Vorbelastung das dritte Geschoss auf dem Gebäude Nr. 60 in
den Blick, kann ihnen ebenfalls nicht gefolgt werden. Sie tragen hierzu vor,
dieses dritte Geschoss habe von Anfang an bestanden. Den von ihnen in Be-
zug genommenen Unterlagen lässt sich eine offensichtlich aktenwidrige Fest-
stellung des Verwaltungsgerichtshofs jedoch nicht entnehmen. Dem steht
schon entgegen, dass die Beklagte insoweit auf eine Baugenehmigung
Nr. 67-0839 verweist, die im Jahre 1976 für dieses Grundstück erteilt worden ist
(vgl. Antrag auf Zulassung der Berufung vom 11. September 2009 S. 7 unter
Hinweis auf Anlage 4). Diese betrifft eine „Restüberdachung der vorhandenen
Dachterrasse mit Einbau von Fenstern“.
Soweit die Beschwerde zum Beleg einer Aktenwidrigkeit oder zum Vorwurf, das
angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichtshofs sei nicht mit Gründen verse-
hen, auf die inhaltlichen Stellungnahmen des Landesamts für Denkmalpflege
verweist, kann sie ebenfalls keinen Erfolg haben. Denn nach der insoweit maß-
geblichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs (vgl. hierzu UA S. 16:
„handgreiflich unzumutbare nachbarliche Beeinträchtigungen“) ist es seine Auf-
gabe als Tatsachengericht, die Frage einer Beeinträchtigung des Gebäudes der
Kläger eigenständig tatsächlich und rechtlich zu würdigen. Auf dieser Grundlage
stellt es keinen Verfahrensfehler dar, wenn der Verwaltungsgerichtshof den
Stellungnahmen der genannten Behörde nicht in der von den Klägern ge-
wünschten Weise gefolgt ist.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO und
§ 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Dr. Jannasch
Dr. Bumke
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