Urteil des BVerwG vom 26.03.2003

Dienstliche Tätigkeit, Vorsitz, Verhinderung, Urlaub

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BESCHLUSS
BVerwG 4 B 19.03
OVG 2 R 13/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 26. März 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
H a l a m a und Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nicht-
zulassung der Revision in dem Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts des Saarlandes vom
12. November 2002 wird teils verworfen, teils
zurückgewiesen.
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Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 20 451,68 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde ist
unzulässig, soweit die Klage gegen die Zwangsgeldandrohung in
den Vorinstanzen erfolglos geblieben ist. Insoweit legt der
Kläger keine Zulassungsgründe dar. Im Übrigen ist die Be-
schwerde unbegründet.
1. Die Besetzungsrüge greift nicht durch. Der geltend gemachte
Verstoß gegen § 9 VwGO und gegen § 16 Satz 2 GVG i.V.m. § 173
VwGO liegt nicht vor.
Der 2. Senat des Oberverwaltungsgerichts, gegen dessen Ent-
scheidung vom 12. November 2002 sich der Kläger wendet, hatte
im Zeitpunkt des Urteilserlasses keinen Vorsitzenden. Die Ent-
scheidung wurde von den drei Richtern am Oberverwaltungsge-
richt John, Sauer und Bitz getroffen. Dies entsprach der all-
gemeinen Vertretungsregelung des Geschäftsverteilungsplans,
nachdem der Präsident des Oberverwaltungsgerichts Friese, der
sich dem 2. Senat angeschlossen hatte, mit Ablauf des 31. Ok-
tober 2002 wegen Vollendung des 65. Lebensjahres in den Ruhe-
stand getreten war. Das Gesetz schließt eine solche Vertretung
nicht aus. Zwar führen nach § 9 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m.
§ 21 f Abs. 1 GVG und § 173 VwGO den Vorsitz in den beim Ober-
verwaltungsgericht gebildeten Senaten der Präsident und die
Vorsitzenden Richter. § 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG lässt eine Ver-
tretung indes zu, wenn der Vorsitzende verhindert ist. Von ei-
ner Verhinderung im Sinne dieser Vorschrift kann zwar an sich
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nur dann die Rede sein, wenn der ordentliche Vorsitzende für
eine vorübergehende Zeit nicht zur Verfügung steht. Dies ist
der Fall, wenn er durch Krankheit, Urlaub, anderweitige
dienstliche Tätigkeit oder aus ähnlichen Gründen an der Wahr-
nehmung der Geschäfte als Vorsitzender gehindert ist. Als Ver-
hinderung, die eine entsprechende Anwendung des § 21 f Abs. 2
Satz 1 GVG rechtfertigt, ist indes auch die Vakanz im Vorsitz
anzusehen, die durch Eintritt oder Versetzung in den Ruhe-
stand, durch Abordnung oder durch Tod des Stelleninhabers aus-
gelöst wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 - BVerwG
3 C 4.85 - NJW 1986, 1366; Beschluss vom 11. Juli 2001
- BVerwG 1 DB 20.01 - NJW 2001, 3493; BFH, Beschluss vom
21. Oktober 1999 - VII R 15/99 - BFHE 190, 47). Die Gleich-
stellung mit der vorübergehenden Verhinderung begegnet keinen
durchgreifenden Bedenken, weil sich Vakanzen im Vorsitz in der
Praxis schlechthin nicht vermeiden lassen. Insbesondere im
Falle des Eintritts eines Vorsitzenden Richters in den Ruhe-
stand bei Erreichen der Altersgrenze ist die Vakanz freilich
vorhersehbar. Die Verwaltung kann und muss sich auf die verän-
derte Situation beizeiten einstellen und die Stelle unverzüg-
lich wieder besetzen. Auch wenn ein nahtloser Übergang nicht
stets gelingt, darf die Nachfolge nicht ungebührlich verzögert
werden. Der Zustand bis zur Wiederbesetzung der Stelle kann
nur für eine kurze Übergangszeit hingenommen werden (vgl.
BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 - BVerwG 3 C 4.85 - a.a.O.;
Beschluss vom 11. Juli 2001 - BVerwG 1 DB 20.01 - a.a.O.; BFH,
Beschluss vom 21. Oktober 1999 - VII R 15/99 - a.a.O.). Wel-
cher Zeitraum angemessen ist, richtet sich nach den jeweiligen
Umständen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. März 1965 - 2 BvR
341/60 - BVerfGE 18, 423 <426>). Entsprechend anwendbar ist
§ 21 f Abs. 2 Satz 1 GVG nach dem endgültigen Ausscheiden ei-
nes Vorsitzenden aus dem Spruchkörper jedenfalls solange, wie
durch die Vakanz im Vorsitz keine wesentlich gewichtigere Be-
einträchtigung der bei ordnungsgemäßer Besetzung des Spruch-
körpers zu erwartenden Arbeitsweise zu erwarten ist als bei
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einem längeren Urlaub oder einer längerdauernden Krankheit
(vgl. BFH, Beschluss vom 21. Oktober 1999 - VII R 15/99 -
a.a.O.). Bei einer Vakanz von knapp drei Monaten im maßgebli-
chen Zeitpunkt des Vertretungsfalls kann grundsätzlich noch
nicht davon ausgegangen werden, dass die Wiederbesetzung in
verfassungswidriger Weise hinausgezögert worden ist (vgl.
BVerfG , Beschluss vom 3. März 1983
- 2 BvR 265/83 - NJW 1983, 1541). Selbst ein noch längerer
Zeitraum kann, je nach den konkreten Gegebenheiten, im Einzel-
fall vertretbar sein (vgl. BayVerfGH, Entscheidung vom
8. August 1985 - Vf.24 - VII/84 - NJW 1986, 1326).
Gemessen an diesen Grundsätzen lässt es sich rechtlich nicht
beanstanden, dass die angefochtene Entscheidung in Anwendung
der nach dem Geschäftsverteilungsplan maßgeblichen Vertre-
tungsregeln von den Richtern John, Sauer und Bitz auf der
Grundlage einer mündlichen Verhandlung getroffen wurde, die
knapp zwei Wochen nach dem Ausscheiden des Senatsvorsitzenden
stattfand. Dahinstehen kann, ob eine andere Beurteilung ange-
bracht wäre, wenn sich im Zeitpunkt des Urteilserlasses
- durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt - eine langdau-
ernde Vakanz abgezeichnet hätte. Dafür ist indes nichts er-
sichtlich. Der weitere Gang der Ereignisse belegt vielmehr,
dass das Oberverwaltungsgericht von den Abhilfemöglichkeiten,
die das Gerichtsverfassungsgesetz bereitstellt, um den Anfor-
derungen des gesetzlichen Richters zu genügen, zeitnahen
Gebrauch gemacht hat. Gestützt auf § 21 e Abs. 3 Satz 1 GVG
übertrug das Präsidium dem Vorsitzenden Richter am Oberverwal-
tungsgericht Böhmer am 18. Dezember 2002 mit Wirkung ab
1. Januar 2003 zusätzlich den Vorsitz des 2. Senats (vgl. die
dem Nichtabhilfebeschluss des Oberverwaltungsgerichts beige-
fügte dienstliche Äußerung vom 7. Februar 2003). In der Recht-
sprechung ist anerkannt, dass es keinen grundsätzlichen recht-
lichen Bedenken begegnet, einen Vorsitzenden Richter mit dem
Vorsitz in mehreren Spruchkörpern zu betrauen (vgl. BVerfG,
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Beschluss vom 30. März 1965 - 2 BvR 341/60 - a.a.O. <426>;
BVerwG, Urteil vom 25. Juli 1985 - BVerwG 3 C 4.85 - a.a.O.).
2. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die
ihr der Kläger beilegt.
Die Frage, "welche Anforderungen das Willkürverbot bzw. Art. 3
Abs. 1 GG an den Zeitpunkt einer Konzeption und dessen Anwen-
dung auf den Einzelfall stellt", rechtfertigt ebenso wenig wie
die Frage, "was 'ergänzen' i.S.v. § 114 Satz 2 VwGO im Hin-
blick auf die bei der Ermessensausübung verlangte Einschrei-
tenskonzeption ist", die Zulassung der Revision auf der Grund-
lage des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ob die Beseitigungsanordnung, gegen die sich der Kläger zur
Wehr setzt, eine Stütze im Gesetz findet, richtet sich nach
§ 88 Abs. 1 LBO. Ob die in dieser Bestimmung genannten Tatbe-
standsvoraussetzungen erfüllt sind und die Bauaufsichtsbehörde
von dem ihr eingeräumten Ermessen fehlerfreien Gebrauch ge-
macht hat, ist eine Frage der Auslegung und der Anwendung
irrevisiblen Landesrechts, das einer revisionsgerichtlichen
Prüfung entzogen ist. Der Kläger schlägt zwar mit seinem Hin-
weis auf Art. 3 Abs. 1 GG und auf § 114 Satz 2 VwGO eine Brü-
cke zum Bundesrecht, er zeigt aber nicht auf, inwiefern in Be-
zug auf die Auslegung und die Anwendung dieser Vorschriften
ein Klärungsbedarf besteht, der die Durchführung des von ihm
erstrebten Revisionsverfahrens rechtfertigt.
Der Senat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass das Willkür-
verbot bei jeder Ermessensausübung zu beachten ist. Auch beim
Erlass einer bauordnungsrechtlichen Beseitigungsverfügung darf
die Behörde nicht ohne einleuchtenden Grund unterschiedlich,
systemwidrig oder planlos vorgehen. Sieht sie sich mit einer
Mehrzahl von baulichen Anlagen konfrontiert, die im Wider-
spruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet wur-
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den, so handelt sie den Vorgaben des Gleichheitssatzes indes
nicht schon dann zuwider, wenn sie nicht auf einen Schlag tä-
tig wird, sondern Schritt für Schritt vorgeht (vgl. BVerwG,
Urteil vom 2. März 1973 - BVerwG 4 C 40.71 - BVerwGE 42, 30
= Buchholz 406.11 § 9 BBauG Nr. 11; Beschluss vom 22. April
1995 - BVerwG 4 B 55.95 - BRS 57 Nr. 248). Sie darf Einzelfäl-
le, deren Regelung ihr besonders dringlich erscheint, heraus-
greifen und ihr Vorgehen gegen weitere Störer vom Fortgang
dieser Musterfälle abhängig machen. Eine allgemein gültige
zeitliche Grenze für ein unterschiedliches Einschreiten gegen
baurechtswidrige Zustände gibt es nicht (vgl. BVerwG, Be-
schlüsse vom 18. April 1996 - BVerwG 4 B 38.96 - und vom
23. November 1998 - BVerwG 4 B 99.98 - Buchholz 406.17 Bauord-
nungsrecht Nr. 55 und 68). Erlangt die Baurechtsbehörde erst
nachträglich Kenntnis von Vergleichsfällen, so genügt es, wenn
sie diesen neuen Erkenntnissen Rechnung trägt und ihr Vorge-
henskonzept entsprechend anpasst. Dies kann gegebenenfalls oh-
ne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG noch im Verwaltungsstreit-
verfahren geschehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 1976
- BVerwG 4 B 22.76 - Buchholz 406.17 Bauordnungsrecht Nr. 5).
Der Kläger legt nicht dar, in welcher Richtung diese Recht-
sprechung konkretisierungs- oder fortentwicklungsbedürftig
sein soll. Das Beschwerdevorbringen reicht nicht über die im
Rahmen des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO unbehelfliche Kritik hin-
aus, das Berufungsgericht habe die vom Senat entwickelten
Rechtsgrundsätze unrichtig angewandt. Mit Angriffen gegen die
berufungsgerichtliche Tatsachenwürdigung und Rechtsanwendung
im Einzelfall kann die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssa-
che jedoch nicht dargetan werden.
Auch unter dem Blickwinkel des § 114 Satz 2 VwGO bietet das
Beschwerdevorbringen keine Anhaltspunkte für einen Problemge-
halt, der in dem erstrebten Revisionsverfahren Erkenntnisse
erwarten lässt, zu denen nicht schon die bisherige Rechtspre-
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chung gelangt ist. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Urteil
vom 5. Mai 1998 - BVerwG 1 C 17.97 - (BVerwGE 106, 351) Fol-
gendes klargestellt: Ob Ermessenserwägungen im verwaltungsge-
richtlichen Verfahren ergänzt werden dürfen, bestimmt sich zu-
nächst nach dem einschlägigen materiellen Recht sowie dem Ver-
waltungsverfahrensrecht. Die Bedeutung des § 114 Satz 2 VwGO
erschöpft sich darin, dass einem danach zulässigen Nachholen
von Ermessenserwägungen prozessuale Hindernisse nicht entge-
genstehen.
Nach der Einschätzung des zur Auslegung und Anwendung des
saarländischen Bauordnungs- und Verwaltungsverfahrensrechts
berufenen Oberverwaltungsgerichts lässt sich die Vorgehenswei-
se des Beklagten auch unter Berücksichtigung des zeitlichen
Ablaufs der Ereignisse rechtlich nicht beanstanden. Das Be-
schwerdevorbringen gibt, wie dargelegt, nichts für die Annahme
her, dass diese Würdigung bundesrechtlichen Vorgaben zuwider-
läuft. Bei dieser rechtlichen Ausgangssituation hätte der Se-
nat vor dem Hintergrund der Entscheidung des 1. Senats vom
5. Mai 1998 keinen Anlass, in dem erstrebten Revisionsverfah-
ren zur Reichweite des § 114 Satz 2 VwGO Stellung zu nehmen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die
Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 3 sowie § 13
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 GKG.
Paetow Halama Rojahn