Urteil des BVerwG vom 05.02.2004

Befreiung, Rechtliches Gehör, Erfüllung, Versorgung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 110.03
OVG 1 A 10196/03
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. Februar 2004
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. L e m m e l , H a l a m a
und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-
Pfalz vom 7. August 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Be-
schwerde gegen die Nichtzulassung der Revision bleibt ohne Erfolg. Dabei kann da-
hingestellt bleiben, ob der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hin-
sichtlich der Frist für die Beschwerdebegründung zu gewähren wäre.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beklagte
beimisst. Dies setzt die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch unge-
klärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen
Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall
hinausgehende Bedeutung bestehen soll (stRspr).
Die Beschwerde wirft die Frage auf:
Ist eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nach § 31
Abs. 2 BauGB "vernünftigerweise geboten" im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, wenn ein Netzbetreiber den Nachweis erbringen
kann, dass der Standort für die von ihm vorgesehene Mobilfunksendeanlage
der sendetechnisch optimale Standort ist?
Diese Fragestellung rechtfertigt indes nicht die Zulassung der Revision wegen
grundsätzlicher Bedeutung. Nicht jede Frage sachgerechter Auslegung und Anwen-
dung einer Vorschrift enthält gleichzeitig eine gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst
im Revisionsverfahren zu klärende Fragestellung. Nach der Zielsetzung des Revisi-
onszulassungsrechts ist Voraussetzung vielmehr, dass der im Rechtsstreit vorhan-
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dene Problemgehalt aus Gründen der Einheit des Rechts einschließlich gebotener
Rechtsfortentwicklung eine Klärung gerade durch eine höchstrichterliche Entschei-
dung verlangt. Das ist nach der ständigen Rechtsprechung aller Senate des Bundes-
verwaltungsgerichts dann nicht der Fall, wenn sich die aufgeworfene Rechtsfrage auf
der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln
sachgerechter Gesetzesinterpretation ohne weiteres beantworten lässt. So liegt es
hier.
Das Berufungsgericht nimmt wörtlich Bezug auf das Urteil des Bundesverwaltungs-
gerichts vom 9. Juni 1978 - BVerwG 4 C 54.75 - (BVerwGE 56, 71). Dort hat der Se-
nat u.a. ausgeführt: Gründe des Wohls der Allgemeinheit "erfordern" eine Befreiung
nicht erst dann, wenn den Belangen der Allgemeinheit "auf keine andere Weise als
durch eine Befreiung entsprochen werden könnte", sondern nach dem Sinn und
Zweck der Vorschrift schon dann, wenn es zur Wahrnehmung des jeweiligen öffentli-
chen Interesses vernünftigerweise geboten ist, mit Hilfe der Befreiung das Vorhaben
an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen. Die Befreiung muss nicht schlechter-
dings das einzige denkbare Mittel für die Verwirklichung des jeweiligen öffentlichen
Interesses sein; dessen Erfüllung muss also nicht - anders ausgedrückt - mit der Er-
teilung der Befreiung "stehen und fallen". Auch dann, wenn andere - auch weniger
nahe liegende - Möglichkeiten zur Erfüllung des Interesses zur Verfügung stehen,
kann eine Befreiung zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in dem vorste-
hend erläuterten Sinne "vernünftigerweise geboten" sein. Dass die Befreiung dem
Gemeinwohl nur irgendwie nützlich oder dienlich ist, reicht allerdings nicht aus. Maß-
gebend dafür, ob die Befreiung "vernünftigerweise geboten" ist, sind die Umstände
des Einzelfalls; dabei kann es auch auf - nach objektiven Kriterien zu beurteilende -
Fragen der Zumutbarkeit und Wirtschaftlichkeit ankommen. Aus dieser Rechtspre-
chung ergibt sich ohne weiteres, dass zum einen der angestrebte Standort nicht der
einzige sein muss, mit dem die ausreichende Netzversorgung "stehen oder fallen
würde". Andererseits kann der Netzbetreiber nicht einseitig seine technischen Be-
lange und wirtschaftlichen Interessen durchsetzen. Vielmehr hat die Baurechtsbe-
hörde die einander entgegenstehenden Belange der Wahrung der mit den Festset-
zungen im Bebauungsplan angestrebten Ziele einerseits und der entgegenstehenden
öffentlichen Belange einer flächendeckenden Versorgung (vgl. Art. 87f GG) mit
Einrichtungen des Mobilfunks andererseits bezogen auf die Standortbedingungen im
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Einzelfall zu gewichten und zueinander abwägend in ein angemessenes Verhältnis
zu setzen. Vorliegend gelangt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, dass der be-
troffene Stadtteil derzeit unzureichend versorgt sei und die von der Beklagten vorge-
schlagenen alternativen Standorte nicht geeignet seien, eine mit dem streitigen
Standort vergleichbare Versorgung zu gewährleisten. Damit würdigt es die spezifi-
sche Situation im vorliegenden Einzelfall. Die Beschwerde zeigt nicht auf, welche
weitere rechtsgrundsätzliche Klärung in einem Revisionsverfahren möglich sein
könnte.
2. Die Rüge mangelnder Sachaufklärung bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Der insoweit
geltend gemachte Verfahrensmangel ist nur dann im Sinne von § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO bezeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsa-
chen als auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird. Hinsicht-
lich des von der Beschwerde behaupteten Aufklärungsmangels hätte dementspre-
chend substantiiert dargelegt werden müssen, hinsichtlich welcher tatsächlichen
Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich
gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und wel-
che tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachver-
haltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin hätte dargelegt
werden müssen, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere
in der mündlichen Verhandlung, entweder auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklä-
rung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich
dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von
sich aus hätten aufdrängen müssen. Denn die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar,
um Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz, vor allem das
Unterlassen der Stellung von Beweisanträgen, zu kompensieren. Vorliegend trägt die
Beschwerde selbst vor, über die Frage der Versorgungssituation im betroffenen
Stadtteil sei widerstreitend verhandelt worden. Die jetzt von ihr vermisste Klärung
dieser Situation durch ein Sachverständigengutachten oder eine Fachbehörde hat
die Beklagte jedoch selbst nicht in der mündlichen Verhandlung beantragt. Die
Beschwerde lässt auch jede Auseinandersetzung mit den Gründen vermissen, mit
denen das Berufungsgericht darlegt, worauf die von ihm gezogene Schlussfolgerung
beruht (vgl. im Einzelnen UA S. 18/19). Das Berufungsgericht wäre nur dann zu wei-
terer Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet gewesen, wenn dies auf der Grundla-
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ge seiner Rechtsauffassung erforderlich gewesen wäre. Hierzu legt die Beschwerde
jedoch nichts dar.
3. Auch das rechtliche Gehör der Beklagten ist nicht verletzt worden. Die Beschwerde
hebt - in anderem Zusammenhang - selbst hervor, dass über die Frage der Ver-
sorgungssituation streitig verhandelt worden sei. Insoweit scheidet eine Überra-
schung im Rechtssinne aus. Denn eine gerichtliche Entscheidung stellt sich nur dann
als unzulässiges "Überraschungsurteil" dar, wenn das Gericht einen bis dahin nicht
erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Ent-
scheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit welcher insbe-
sondere der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht
zu rechnen brauchte (stRspr). Ein Überraschungsurteil liegt danach unter anderem
vor, wenn die das angefochtene Urteil tragende Erwägung weder im gerichtlichen
Verfahren noch im früheren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren erkennbar themati-
siert worden war. Dies ist hier ersichtlich nicht der Fall. Andererseits erfordert das
Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, nicht, dass das Gericht den Beteiligten be-
reits in der mündlichen Verhandlung unter Vorwegnahme der anschließenden Bera-
tung seine Würdigung des Tatsachenvorbringens der Beteiligten mitteilt.
4. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat nach § 133 Abs. 5 VwGO ab, da
sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen
eine Revision zuzulassen ist.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung
auf § 14 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Dr. Lemmel Halama Dr. Jannasch