Urteil des BVerwG vom 29.08.2014

Staatliches Handeln, Treu Und Glauben, Rücknahme, Rechtswidrigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 1.14
VGH 3 S 2643/11
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. August 2014
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz, Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg vom 29. Oktober 2013 wird zurück-
gewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 125 700 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte
Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1
VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
a) Als rechtsgrundsätzlich bedeutsam wirft die Beschwerde die auf § 48 Abs. 4
des Verwaltungsverfahrensgesetzes für Baden-Württemberg (LVwVfG) bezo-
genen Frage auf,
ob die bisherige, sich auf den Beschluss des Großen Se-
nats vom 19. Dezember 1984 - BVerwG Gr. Sen. 1 und
2.84 - (BVerwGE 70, 356) stützende Rechtsprechung auf-
recht erhalten bleiben kann, wenn der rechtswidrigen Ur-
sprungsentscheidung und der Aufhebungsentscheidung
identische Sachverhalte zugrunde liegen, eine Tatsachen-
ermittlung sich also erübrigt, sich damit am Rechts- und
Tatsachen-„Bestand“ nichts geändert hat.
Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Die Vorschrift des § 48 Abs. 4
LVwVfG gehört zwar zum revisiblen Recht (§ 137 Abs. 1 Nr. 2 VwGO), weil sie
ihrem Wortlaut nach mit § 48 Abs. 4 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
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des Bundes wörtlich übereinstimmt und beide Vorschriften (im Folgenden nur
nach dem Bundes-Verwaltungsverfahrensgesetz zitiert) einheitlich auszulegen
sind. Die aufgeworfene Frage ist jedoch nicht klärungsbedürftig. Sie ist, wie die
Beschwerde selbst hervorhebt, in der Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts bereits geklärt. Nach Auffassung des Großen Senats des Bun-
desverwaltungsgerichts (a.a.O. S. 357) erfasst § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht
nur die Fälle, in denen die Rücknehmbarkeit eines begünstigenden Verwal-
tungsakts darauf beruht, dass der Behörde bei Erlass des Verwaltungsakts
nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt waren; sie regelt viel-
mehr auch die Fälle, in denen die Behörde bei voller Kenntnis des entschei-
dungserheblichen Sachverhalts unrichtig entschieden hat, und findet somit auch
Anwendung, wenn die Behörde - wie hier - nachträglich erkennt, dass sie den
beim Erlass eines begünstigenden Verwaltungsakts vollständig bekannten
Sachverhalt unzureichend berücksichtigt oder unrichtig gewürdigt hat.
Die Beschwerde möchte dem Bundesverwaltungsgericht jedoch Gelegenheit
geben, seine bisherige Rechtsprechung zu überprüfen. Sie trägt vor, die Einbe-
ziehung von Rechtsanwendungsfehlern in die Fristbestimmung nach § 48
Abs. 4 VwVfG sei in der Literatur auf nachhaltige, bis heute anhaltende Kritik
gestoßen, weil damit die Anwendung der Vorschrift regelmäßig ins Leere gehe.
Der Entscheidung des Großen Senats möge zu folgen sein in Fallkonstellatio-
nen, in denen die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Rechtswidrig-
keit des Ausgangsbescheids so verschränkt seien, dass eine Trennung zwi-
schen Sachverhalt und Rechtsanwendung wenig sinnvoll erscheine. Das recht-
fertige aber nicht, Fälle ohne erforderliche Tatsachenermittlung und gleichblei-
bender Rechtswidrigkeit/gleichbleibendem Rechtsanwendungsfehler ebenso zu
behandeln wie Fälle, in denen der aufzuhebenden Ursprungsentscheidung ein
erst später als unrichtig erkannter Sachverhalt zugrunde gelegen habe. Es sei
- auch wegen des knapp 30-jährigen Zeitabstands zur Entscheidung des Gro-
ßen Senats und den seither geänderten Anforderungen an staatliches Han-
deln - zu überdenken, ob bei zwischen Ursprungs- und Aufhebungsbescheid
unveränderter Rechts- und Tatsachenlage die Jahresfrist ab Erlass des Verwal-
tungsakts laufe. Dieser Vortrag rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
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Um die grundsätzliche Bedeutung einer in der höchstrichterlichen Rechtspre-
chung bereits geklärten Rechtsfrage darzulegen, muss die Beschwerde vertie-
fend erörtern, inwieweit in dem erstrebten Revisionsverfahren über die bisheri-
ge Rechtsprechung hinaus zusätzliche Erkenntnisse gewonnen werden könn-
ten (Beschlüsse vom 4. März 1998 - BVerwG 7 B 388.97 - juris und vom
25. November 1992 - BVerwG 6 B 27.92 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen
Nr. 306). Die Beschwerde muss sich dazu mit den Gründen der bisherigen
Rechtsprechung auseinander setzen; sie muss aufzeigen, aus welchen Grün-
den eine erneute Befassung des Bundesverwaltungsgerichts mit der aufgewor-
fenen Frage erforderlich sein könnte, namentlich, dass sich neue Gesichtspunk-
te ergeben hätten, die geeignet sein könnten, die bisherige Rechtsprechung in
Frage zu stellen (Beschluss vom 27. August 1997 - BVerwG 1 B 145.97 -
Buchholz 310 § 58 VwGO Nr. 67). Daran fehlt es hier. Der Große Senat (a.a.O.
S. 358 ff.) hat seine Auffassung unter Heranziehung von Wortlaut, Systematik,
Sinn und Zweck sowie dem historischen Gesetzgeberwillen ausführlich begrün-
det. Mit dieser Begründung setzt sich die Beschwerde nicht einmal im Ansatz
auseinander. Sie beschränkt sich vielmehr auf die pauschale Behauptung, dass
die Anwendung der Vorschrift unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig ins Leere gehe, wie der vorliegende
Fall anschaulich zeige. Die Beschwerde zeigt auch nicht auf, dass sich seit der
Entscheidung des Großen Senats neue Gesichtspunkte ergeben hätten, die
geeignet sein könnten, die bisherige Rechtsprechung in Frage zu stellen. Die
behauptete nachhaltige, bis heute anhaltende Kritik in der Literatur genügt hier-
für ebenso wenig wie der Hinweis auf den Zeitabstand zur Entscheidung des
Großen Senats und die seither angeblich geänderten Anforderungen an staatli-
ches Handeln. Dass die aufgeworfene Rechtsfrage wieder grundsätzliche Be-
deutung gewonnen haben könnte, ist damit nicht dargetan.
b) Rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf reklamiert die Beschwerde ferner hin-
sichtlich der Frage,
ob der in § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG verwendete Begriff
der „Kenntnis“ stets „positive Kenntnis“ voraussetze und
- zusätzlich -, wie dieser Begriff von einer Verweigerung
der Kenntnisnahme oder einer (grob) fahrlässigen Nicht-
kenntnisnahme abzugrenzen sei.
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Die Beschwerde stellt auch insoweit nicht in Abrede, dass die von ihr aufgewor-
fene Frage in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist.
Sie legt selbst zutreffend dar, dass die Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1
VwVfG nach der Entscheidung des Großen Senats (a.a.O. S. 364) - auch in
Fällen wie dem vorliegenden, in dem sich die tatsächlichen und rechtlichen
Grundlagen zwischen Ursprungs- und Aufhebungsbescheid nicht geändert hät-
ten - nur durch die positive Kenntnis von den Tatsachen, die die Rücknahme
des Verwaltungsakts rechtfertigen, in Lauf gesetzt wird. Eine Frist für die Ermitt-
lung der maßgeblichen Umstände hat der Gesetzgeber den Behörden in § 48
Abs. 4 Satz 1 VwVfG nicht gesetzt; für eine ausdehnende Auslegung der Vor-
schrift in diese Richtung fehlt jede Grundlage (Beschluss vom 12. September
1997 - BVerwG 3 B 66.97 - Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 87). Die Beschwerde
geht deshalb zu Recht davon aus, dass jede Form der Nichtkenntnisnahme den
Fristlauf hindert, weil es im Rahmen des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG auf ein
„(qualifiziertes) Kennenmüssen“ der die Rücknahme des Verwaltungsakts recht-
fertigenden Gründe nicht ankommt.
Soweit die Beschwerde meint, dem könne aus Gründen einer rechtsstaatlichen
Handlungspflicht der zuständigen Behörden und des Vertrauensschutzes eben-
so wenig gefolgt werden wie unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer
Amtspflichtverletzung, stellt sie der Rechtsauffassung des Großen Senats ledig-
lich ihre eigene Meinung gegenüber. Grundsätzlichen Klärungsbedarf zeigt sie
damit nicht auf. Die angemeldeten Bedenken sind im Übrigen auch in der Sa-
che unbegründet. Dass die Behörden bei der Ermittlung der Rücknahmevoraus-
setzungen rechtsstaatlichen Bindungen unterliegen, steht außer Frage. Den
rechtsstaatlichen Bindungen kann aber durch den auch im öffentlichen Recht
geltenden Grundsatz von Treu und Glauben hinreichend Rechnung getragen
werden (vgl. zuletzt Urteil vom 20. März 2014 - BVerwG 4 C 11.13 -
fentlichung in BVerwGE vorgesehen> juris Rn. 28 ff.). So kann ein Rücknahme-
bescheid wegen einer Verwirkung der Rücknahmebefugnis rechtswidrig sein
(Urteil vom 20. Dezember 1999 - BVerwG 7 C 42.98 - BVerwGE 110, 226
<234 ff.> und Beschluss vom 12. September 1997 a.a.O. S. 6 m.w.N.), wenn
die Behörde - wie von der Beschwerde vorliegend behauptet - den Lauf der
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Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG durch „konzentriertes Nichtstun“ ver-
hindert. Unter dem Aspekt der Verwirkung hat der Verwaltungsgerichtshof (UA
S. 18 f.) den angegriffenen Rücknahmebescheid geprüft, hierfür aber - auch
angesichts des von der Beschwerde angeführten Umstandes der wiederholten
Verlängerung der erteilten Baugenehmigung - keine Anhaltspunkte gesehen.
c) Schließlich ist auch die Frage,
welche konkrete Sachverhaltsermittlung für die „positive
Kenntnis“ laut Rechtsprechung des Großen Senats zu-
grunde zu legen ist und wie diese Erkenntnisse im Ge-
richtsverfahren zu ermitteln sind,
nicht grundsätzlich klärungsbedürftig.
Soweit die Beschwerde damit klären lassen möchte, auf welche Tatsachen sich
die Kenntnis der Behörde beziehen muss, ist dies in der Entscheidung des
Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O. S. 362 f.) geklärt: Die
Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG beginnt erst zu laufen, wenn der Be-
hörde sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen voll-
ständig bekannt sind. Erforderlich ist also zunächst die Kenntnis derjenigen
Tatsachen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ergibt.
Das sind die Tatsachen, die den im Einzelfall unterlaufenen Rechtsanwen-
dungsfehler und die Kausalität dieses Fehlers für den Inhalt des Verwaltungs-
akts ausmachen. Schon der Wortlaut der Vorschrift stellt allerdings klar, dass
die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit für sich allein den Fristenlauf nicht auszulö-
sen vermag, sondern hierzu die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung
über die Rücknahme des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalts nötig ist.
Hierzu gehören alle Tatsachen, die im Falle des § 48 Abs. 2 VwVfG ein Ver-
trauen des Begünstigten in den Bestand des Verwaltungsakts entweder nicht
rechtfertigen oder ein bestehendes Vertrauen als nicht schutzwürdig erscheinen
lassen, sowie die für die Ermessensausübung wesentlichen Umstände.
Durch welche konkreten Maßnahmen im gerichtlichen Verfahren nach Maßga-
be des § 86 Abs. 1 VwGO zu ermitteln ist, zu welchem Zeitpunkt die für die
Rücknahme zuständige Behörde Kenntnis von diesen Tatsachen hatte, ist eine
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Frage des Einzelfalls und entzieht sich einer rechtsgrundsätzlichen Klärung.
Das gilt auch für die Frage, ob - wie die Beschwerde meint - hierzu die Aus-
schöpfung der gesamten, bekannten Erkenntnisquellen und damit auch die
Vernehmung des (in erster Instanz vernommenen) Bediensteten gehört. Ein
allgemeiner Rechtssatz des Inhalts, dass eine erneute Zeugeneinvernahme im
Berufungsverfahren stets erforderlich wäre, wenn das Berufungsgericht von der
erstinstanzlichen Tatsachenwürdigung abweichen will, lässt sich nicht aufstel-
len.
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, so-
weit die Beschwerde „unter Bezugnahme“ auf diesen Vortrag geltend macht,
dass die nicht erfolgte Vernehmung des Bediensteten der Beklagten im Beru-
fungsverfahren „aus den oben genannten Gründen“ einen Verfahrensfehler
darstelle. Sie macht geltend, die Entscheidung könne auf der fehlenden Zeu-
genvernehmung beruhen, weil sich aus dem Akteninhalt und kumulativ der Ver-
nehmung in einer zusammenfassenden und vollständigen Beweiswürdigung
ergeben könne, dass eine frühere positive Kenntnis anzunehmen sei. Ein die
Zulassung der Revision rechtfertigender Verfahrensmangel ist damit nicht in
einer den Substantiierungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO ge-
nügenden Weise dargetan. Das gilt auch unter Berücksichtigung des in Bezug
genommenen Vortrags, die erneute Vernehmung des Bediensteten sei im vor-
liegenden Fall erforderlich gewesen, um dessen Aussage gemeinsam mit der
gegenüber dem Verwaltungsgericht geänderten Wertung des Akteninhalts zu
gewichten. Konkrete Umstände, die dies im vorliegenden Fall gebieten könnten,
führt die Beschwerde nicht an. Erst recht fehlt jegliche Erläuterung dazu, ob und
gegebenenfalls in welcher Weise die Klägerin durch Beweisanträge auf die von
ihr für erforderlich gehaltene Sachverhaltsfeststellung hingewirkt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestset-
zung stützt sich auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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