Urteil des BVerwG vom 23.02.2005

Anteil, Neubau, Grundstück, Merkblatt

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 4 A 4.04
Verkündet
am 23. Februar 2005
Jakob
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a , G a t z und
Dr. J a n n a s c h und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. P h i l i p p
für Recht erkannt:
- 2 -
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamt-
schuldner.
G r ü n d e :
I.
Die Kläger wenden sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Regierungsprä-
sidiums Chemnitz für den Bau der Bundesautobahn A 72 Chemnitz - Leipzig im ers-
ten Teilabschnitt zwischen dem Autobahnkreuz Chemnitz und der Anschlussstelle
A 72/S 242 bei Hartmannsdorf. Sie sind Eigentümer des teilweise als Wohngrund-
stück genutzten Flurstücks 10.. der Gemarkung R., das durch die festgestellte Tras-
se der A 72 durchschnitten werden soll.
Die A 72 verbindet die A 9 beim Dreieck Bayerisches Vogtland bei Hof mit der A 4
beim Autobahndreieck Chemnitz. Sie soll durch die Gesamtbaumaßnahme bis Leip-
zig verlängert und dort an die A 38 in Richtung Kassel angebunden werden. Der
knapp 7 km lange erste Teilabschnitt soll durch den Neu- und Ausbau der Staats-
straßen S 242 und S 243 mit dem bestehenden Verkehrsnetz verknüpft werden. Da-
durch soll insbesondere die B 95 im Bereich der Ortsdurchfahrt Hartmannsdorf ent-
lastet werden.
Von dem 6 370 m
2
großen Grundstück der Kläger sollen 3 071 m
2
für den Bau der
A 72 einschließlich der Gestaltungsmaßnahmen G.4.8.1 und G.4.8.5 sowie für die
Ersatzmaßnahme E.4.3.4 dauerhaft erworben und 1 085 m
2
für die Verlegung einer
380 kV-Freileitung dauerhaft beschränkt werden dürfen. Das lang gestreckte Grund-
stück ist nordwestlich des Goetheweges mit zwei Wohnhäusern bebaut. Eines davon
bewohnen die Kläger. Der Abstand zwischen den Häusern und der Fahrbahnachse
beträgt etwa 75 m. Die schalltechnische Untersuchung des Vorhabenträgers hat er-
geben, dass der Immissionsgrenzwert von 49 dB(A) nachts an der Süd- und der
Westseite im ersten und zweiten Obergeschoss trotz des vorgesehenen aktiven
Schallschutzes um bis zu 1,2 dB(A) überschritten wird. Insoweit wurde ein Anspruch
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der Kläger auf passiven Schallschutz bejaht. Für den Außenwohnbereich wurden
55,3 dB(A) tags und 51,1 dB(A) nachts berechnet. Ein Verschattungsgutachten hat
ergeben, dass das stärker beeinträchtigte Wohnhaus nach dem Bau der Brücke über
das Jahr verteilt um weniger als 5 %, in den Wintermonaten an der Südseite um etwa
13 % und an der Westseite um etwa 17 % weniger besonnt sein wird.
Im Anhörungsverfahren erhoben die Kläger rechtzeitig Einwendungen. Sie wandten
sich u.a. gegen die Entwertung ihres Grundstücks sowie gegen die Verschattung,
Verlärmung und Schadstoffbelastung. Bei den Lärmberechnungen seien die vorhan-
denen Lärmpegel, z.B. das Rauschen der Hochspannungsleitungen, nicht berück-
sichtigt worden. Sie forderten die Prüfung einer Tunnelvariante für die Ortsquerung
Röhrsdorf.
Im Erörterungstermin sagte der Vorhabenträger zu, einen Teil der Fläche, die für
landschaftspflegerische Begleitmaßnahmen vorgesehen ist, auszusparen, um vor-
handene Parkplätze am Goetheweg zu erhalten.
Mit Bescheid vom 12. November 2003 stellte das Regierungspräsidium Chemnitz
den Plan für den Neubau der BAB A 72 und gemäß § 78 VwVfG auch für den Neu-
und Ausbau der Staatsstraßen S 242 und S 243 einschließlich aller erforderlichen
Folgemaßnahmen fest und wies die Einwendungen der Kläger zurück.
Am 22. Januar 2004 haben die Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begrün-
dung nehmen sie auf ihre bisherigen Einwendungen Bezug und tragen ergänzend
vor:
Ausweislich des Erläuterungsberichts könne ohne die Verlegung der Staatsstraßen
S 242 und S 243 eine verkehrswirksame Lösung im Sinne des § 1 FStrG nicht ent-
stehen. Die Aufnahme überwiegend regionalen Verkehrs werde dem gesetzlichen
Auftrag nicht gerecht. Im Übrigen seien Chemnitz und Leipzig bereits durch eine leis-
tungsfähige Fernverbindung, die B 95, verbunden. Die A 72 stelle eine Parallelpla-
nung dar, die dem Bündelungsgebot widerspreche.
- 4 -
Bei der Berechnung der zu erwartenden Lärmimmissionen sei der Planungsträger
von zu geringen LKW-Anteilen ausgegangen. Dies habe zur Folge, dass Überschrei-
tungen der Immissionsgrenzwerte in wesentlich größeren Entfernungen von der
Trasse zu erwarten seien. Deutliche Verbesserungen könnten allenfalls durch eine
Tunnel- oder Galerielösung erzielt werden.
Auch bei der Berechnung der zu erwartenden Luftschadstoffkonzentrationen sei der
Schwerverkehrsanteil mit 18,6 % zu niedrig angesetzt worden. Die Zahl der LKW
zwischen 2,8 und 3,5 t sei erheblich angestiegen. Das gelte auch für Klein-LKW bis
2,8 t. Diese seien bei der Schadstoffprognose nicht berücksichtigt worden. Richti-
gerweise hätten die Schadstoffimmissionen nach dem Merkblatt für Luftverunreini-
gungen an Straßen ohne oder mit lockerer Randbebauung - Ausgabe 2002
(MLuS 02) berechnet werden müssen. Bei Verwendung eines realen LKW-Anteils
von 21,7 % seien insbesondere für NO
2
und PM
10
erhebliche Grenzwertüberschrei-
tungen zu erwarten.
Das Regierungspräsidium Chemnitz habe schließlich nicht beachtet, dass die Trasse
der A 72 im dritten Planungsabschnitt an dem besonders hochwertigen FFH-Gebiet
"Mittleres Zwickauer Muldetal" derart nahe entlang führen werde, dass eine Beein-
flussung des Schutzgebietes zwingend gegeben sein werde.
Die Kläger beantragen,
den Planfeststellungsbeschluss des Regierungspräsidiums Chemnitz vom
12. November 2003 für den Bau der Bundesautobahn 72 Chemnitz-Leipzig,
Planungsabschnitt 1.1 zwischen dem AK Chemnitz und der AS A 72/S 242 bei
Hartmannsdorf aufzuheben,
hilfsweise,
den Beklagten zu verpflichten, den genannten Planfeststellungsbeschluss um
Schutzvorkehrungen zu ihren Gunsten und die Zuerkennung eines Entschädi-
gungsanspruchs zu ergänzen.
- 5 -
Der Beklagte verteidigt den Planfeststellungsbeschluss und beantragt, die Klage ab-
zuweisen.
II.
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
1. Die Kläger können nicht die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses verlan-
gen. Der Planfeststellungsbeschluss ist rechtmäßig und verletzt die Kläger daher
nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1.1 Der Neubau der BAB A 72 entspricht den Zielsetzungen des § 1 Abs. 1 FStrG.
Das ergibt sich aus § 1 Abs. 2 des Fernstraßenausbaugesetzes - FStrAbG - in Ver-
bindung mit dem Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen, der dem Gesetz als Anlage
beigefügt ist. Der Bau einer Autobahn zwischen Chemnitz und Leipzig ist in den Be-
darfsplan aufgenommen. In der bei Erlass des Planfeststellungsbeschlusses gelten-
den Fassung des Bedarfsplans vom 15. November 1993 (BGBl I S. 1877) war die
Strecke zwischen dem Autobahnkreuz Chemnitz und der B 175 bei Penig, in der
Fassung des Bedarfsplans vom 4. Oktober 2004 (BGBl I S. 2574) ist darüber hinaus
auch die Strecke bis zum Anschluss an die A 38 bei Leipzig als vordringlicher Bedarf
ausgewiesen. Nach der gesetzgeberischen Wertung ist damit unter Bedarfsgesichts-
punkten auch die Planrechtfertigung gegeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar
2004 - BVerwG 4 A 11.02 - BVerwGE 120, 1 <2>). Die Feststellung, dass ein Bedarf
besteht, ist für die Planfeststellung nach § 17 FStrG verbindlich. Das gilt auch für das
gerichtliche Verfahren (vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Mai 1998 - BVerwG 4 A 9.97 -
BVerwGE 107, 1 <9> und vom 19. März 2003 - BVerwG 4 A 33.02 - Buchholz 407.4
§ 17 FStrG Nr. 173 , stRspr). Die Ausführungen des Vorhabenträgers im
Erläuterungsbericht zur Verkehrsbedeutung der Straße, die den Klägern Anlass zu
Bedenken gegen die Planrechtfertigung geben, sind von vornherein nicht geeignet,
die gesetzliche Bedarfsfeststellung in Frage zu stellen. Im Übrigen beziehen sie sich
auf die Rechtfertigung nicht des Gesamtvorhabens, sondern des hier in Rede ste-
henden Teilabschnitts.
- 6 -
Auch der Plan für den ersten Teilabschnitt ist gerechtfertigt. Bei jeder abschnittswei-
sen Planung muss der Entstehung eines Planungstorsos vorgebeugt werden. Des-
halb muss jeder Abschnitt eine eigenständige Verkehrsfunktion haben. Damit wird
gewährleistet, dass die Teilplanung auch dann noch sinnvoll bleibt, wenn sich das
Gesamtplanungskonzept im Nachhinein als nicht realisierbar erweist (vgl. BVerwG,
Beschlüsse vom 26. Juni 1992 - BVerwG 4 B 1.92 u.a. - Buchholz 406.11 § 9 BauGB
Nr. 55 und vom 2. November 1992 - BVerwG 4 B 205.92 - Buchholz 407.4
§ 17 FStrG Nr. 92 ; Urteil vom 25. Januar 1996 - BVerwG 4 C 5.96 -
BVerwGE 100, 238 <255>). Die Verkehrsfunktion muss vor dem Hintergrund der Ge-
samtplanung gesehen werden. Sie kann auch darin liegen, bis zur Verwirklichung der
Gesamtplanung in erster Linie regionalen Verkehr aufzunehmen und dadurch örtliche
Verkehrsprobleme zu lösen. Die Bedeutung des Gesamtvorhabens für den weiträu-
migen Verkehr wird dadurch nicht in Frage gestellt.
Der hier in Rede stehende erste Teilabschnitt der A 72 hat eine eigenständige Ver-
kehrsfunktion. Er soll über die verlegten Staatsstraßen S 242 und S 243 an die B 95
angebunden werden und dadurch die B 95 zwischen Chemnitz und Hartmannsdorf,
die den gegenwärtigen Verkehr nicht mehr aufnehmen kann, entlasten.
1.2 Das Vorhaben ist nicht wegen einer Überschreitung der Immissionsgrenzwerte
für Verkehrsgeräusche unzulässig.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteile vom
7. Juli 1978 - BVerwG 4 C 79.76 - BVerwGE 56, 110 <133> und vom 18. April 1996
- BVerwG 11 A 86.95 - Buchholz 310 § 78 VwVfG Nr. 6 ; Beschluss vom
30. Juni 2003 - BVerwG 4 VR 2.03 - Buchholz 407.4 § 1 FStrG Nr. 10 ) be-
steht im Falle unzureichender Lärmvorsorge grundsätzlich nur ein Anspruch auf
Planergänzung, nicht aber auf Planaufhebung. Eine (teilweise) Planaufhebung
kommt nur in Betracht, wenn das Fehlen einer Schallschutzauflage - ausnahmswei-
se - von so großem Gewicht sein könnte, dass die Ausgewogenheit der Planung ins-
gesamt in Frage gestellt wäre.
Ein derartiges Lärmschutzdefizit haben die Kläger nicht schlüssig vorgetragen. Für
welche Grundstücke die dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegende schall-
- 7 -
technische Untersuchung von einer unzutreffenden Gebietseinteilung und damit von
falschen Immissionsgrenzwerten ausgegangen sein sollte, haben sie nicht dargelegt.
Gegen die Berechnung der Beurteilungspegel haben sie eingewandt, dass der Anteil
der LKW ab 2,8 t an der durchschnittlichen täglichen Verkehrsstärke (DTV) mit
18,6 % zu niedrig angesetzt worden sei. Aufgrund der seit 2000 um 36,6 % gestie-
genen Zahl der LKW zwischen 2,8 und 3,5 t müsse der Anteil der LKW ab 3,5 t mit
einem Korrekturfaktor von 1,366 multipliziert werden. Daraus errechnen die Kläger
einen Schwerverkehrsanteil von 21,7 %. Dass ein solcher Schwerverkehrsanteil
Lärmschutzprobleme aufwerfen könnte, die die Ausgewogenheit der Planung insge-
samt in Frage stellen, machen die Kläger selbst nicht geltend. Im Übrigen geht auch
dieser Einwand fehl.
Nach § 3 der 16. BImSchV ist der Beurteilungspegel für Straßen nach Anlage 1 zu
berechnen. Diese sieht vor, dass der maßgebende LKW-Anteil mithilfe der der Pla-
nung zugrunde liegenden prognostizierten durchschnittlichen täglichen Verkehrsstär-
ke nach Tabelle A berechnet wird, sofern "keine geeigneten projektbezogenen Un-
tersuchungsergebnisse" vorliegen, die unter Berücksichtigung der Verkehrsentwick-
lung im Prognosezeitraum zur Ermittlung des maßgebenden LKW-Anteils für den
Zeitraum zwischen 22:00 und 6:00 Uhr als Mittelwert über alle Tage des Jahres he-
rangezogen werden können. Anlage 1 der 16. BImSchV erlaubt mithin ausdrücklich
das Heranziehen geeigneter projektbezogener Untersuchungsergebnisse. Hiergegen
sind rechtliche Bedenken nicht ersichtlich (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. März 1996
- BVerwG 4 A 10.95 - Buchholz 406.25 § 41 BImSchG Nr. 13 , vom 11. Ja-
nuar 2001 - BVerwG 4 A 13.99 - und vom 23. November 2001 - BVerwG 4 A 46.99 -
Buchholz 406.25 § 43 BImSchG Nr. 16 und Nr. 19 ). Maßgebend
sind nach der Anlage 1 LKW mit einem zulässigen Gesamtgewicht über 2,8 t.
Für die A 72 ist der LKW-Anteil projektbezogen, nämlich durch Auswertung der Ver-
kehrszählungen an den automatischen Dauermessstellen im sächsischen Verkehrs-
netz, ermittelt worden. Die Messstellen erfassen LKW ab 3,5 t. Die Auswertung er-
gab einen Anteil der LKW ab 3,5 t an der DTV von 15,9 %. Der Anteil der LKW ab
2,8 t wurde aufgrund von Angaben der Bundesanstalt für Straßenwesen durch Multi-
plikation des LKW-Anteils ab 3,5 t mit dem Faktor 1,17 auf 18,6 % errechnet. Die
- 8 -
Forderung der Kläger nach einem Umrechnungsfaktor 1,366 ist nicht schlüssig.
Selbst wenn die Zahl der LKW zwischen 2,8 t und 3,5 t in einem bestimmten Zeit-
raum um 36,6 % gestiegen sein sollte, ließe dies keine Rückschlüsse auf das Ver-
hältnis zwischen LKW ab 2,8 t und LKW ab 3,5 t zu. Denn es ist davon auszugehen,
dass im gleichen Zeitraum auch die Zahl der LKW ab 3,5 t gestiegen ist. Zur Entwick-
lung dieser Fahrzeuggruppe machen die Kläger aber keine Angaben. Sie tragen
auch nicht vor, auf der Grundlage welcher Daten der behauptete Zuwachs der LKW
zwischen 2,8 t und 3,5 t ermittelt wurde. Ob die Zahlen Rückschlüsse auf die hier
maßgebliche Verkehrszusammensetzung auf dem streitigen Streckenabschnitt der
A 72 zulassen, muss deshalb bezweifelt werden. Aus den statistischen Angaben des
Kraftfahrtbundesamtes über den "Bestand an Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeugan-
hängern nach zulässigem Gesamtgewicht und Fahrzeugarten in Deutschland", auf
die sich die Kläger im Zusammenhang mit dem ebenfalls behaupteten Zuwachs der
LKW bis 2,8 t berufen, lassen sich jedenfalls keine Erkenntnisse über den LKW-An-
teil im streitigen Streckenabschnitt gewinnen. Im Übrigen weisen die Kläger selbst
darauf hin, dass in einer ihnen bekannten Untersuchung ein Umrechnungsfaktor zwi-
schen 1,13 und 1,15 als "relativ abgesichert" angesehen werde.
1.3 Das Vorhaben wirft keine Probleme für die Luftqualität auf, die im angefochtenen
Planfeststellungsbeschluss hätten bewältigt werden müssen.
1.3.1 In zeitlicher Hinsicht war im Planfeststellungsbeschluss vom 12. November
2003 die am 18. September 2002, also nach Stellung des Planfeststellungsantrags
am 9. August 2002, in Kraft getretene 22. BImSchV vom 11. September 2002 (BGBl I
S. 3626) anzuwenden. Davon ist auch die Planfeststellungsbehörde ausgegangen.
Die 22. BImSchV dient der Umsetzung der Richtlinie 96/92/EG des Rates vom
27. September 1996 über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität (ABl EG
Nr. L 296 S. 55) und der Richtlinie 1999/30/EG vom 22. April 1999 (1999/30/EG)
über Grenzwerte für Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid und Stickstoffoxide, Partikel und
Blei in der Luft (ABl EG Nr. L 163 S. 41).
Für Stickstoffdioxid legt § 3 der Verordnung für die Zeit ab 1. Januar 2010 zum
Schutz der menschlichen Gesundheit einen über ein Jahr gemittelten Immissions-
grenzwert von 40 µg/m³ fest (§ 3 Abs. 4 der 22. BImSchV). Für Partikel ist seit 1. Ja-
- 9 -
nuar 2005 ein über ein Kalenderjahr gemittelter Immissionsgrenzwert von 40 µg/m³
und ein über 24 Stunden gemittelter Immissionsgrenzwert von 50 µg/m³ bei 35 zuge-
lassenen Überschreitungen im Kalenderjahr einzuhalten (§ 4 Abs. 2 und 4 der
22. BImSchV). Untersuchungen im Auftrag der Bundesanstalt für Straßenwesen ha-
ben ergeben, dass zwischen dem Jahresmittelwert der PM
10
-Konzentration und der
Anzahl der Überschreitungen des 24-Stunden-Grenzwertes ein enger statistischer
Zusammenhang besteht. Danach muss bei Überschreitung eines Jahresmittelwertes
von etwa 28 µg/m³ mit einer Überschreitung des 24-Stunden-Grenzwertes an mehr
als 35 Tagen gerechnet werden (vgl. Forschungsgesellschaft für Straßen- und Ver-
kehrswesen e.V., Merkblatt über Luftverunreinigungen an Straßen ohne oder mit lo-
ckerer Randbebauung, Ausgabe 2002 - MLuS 02 - S. 11, Bild 3.2.2; Senatsverwal-
tung für Stadtentwicklung, Luftreinhalte-/Aktionsplan Berlin 2005 - 2010 - Februar
2005, S. A 38, http://www.stadtentwicklung.berlin.de/umwelt/luftqualitaet/de/luftrein-
halteplan/dokumentation.shtml). Die Kläger meinen, dass darüber hinaus die in der
Anlage 1 der 22. BImSchV festgelegten oberen und unteren Beurteilungsschwellen
einzuhalten seien. Das trifft nicht zu. Die genannten Beurteilungsschwellen sind kei-
ne Immissionsgrenzwerte im Sinne des § 1 Nr. 3 der 22. BImSchV; sie sind allein
maßgebend dafür, ob zur Beurteilung der Luftqualität nur Messungen oder auch eine
Kombination von Messungen und Modellrechnungen oder Schätzverfahren ange-
wandt werden dürfen (§ 1 Nr. 11 und 12, § 10 Abs. 2 bis 4 der 22. BImSchV).
Die 22. BImSchV ist - auch soweit es um die Einhaltung künftiger Grenzwerte geht -
bereits im Verfahren der Zulassung von Vorhaben anwendbar. Eine Verpflichtung der
Planfeststellungsbehörde, die Einhaltung der Grenzwerte der Verordnung im Plan-
feststellungsverfahren vorhabenbezogen sicherzustellen, besteht jedoch nicht (vgl.
BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2004 - BVerwG 9 A 6.03 - DVBl 2004, 1289 <1291>).
Die Grenzwerte stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem System der Luft-
reinhalteplanung (vgl. § 47 BImSchG, § 11 der 22. BImSchV). Mit ihm hat der deut-
sche Gesetz- und Verordnungsgeber in Umsetzung der gemeinschaftsrechtlichen
Vorgaben einen abgestuften Regelungsmechanismus vorgesehen, der Grenzwert-
überschreitungen immissionsquellenunabhängig begegnen soll. Werden die durch
eine Rechtsverordnung nach § 48a Abs. 1 BImSchG festgelegten Immissionsgrenz-
werte einschließlich festgelegter Toleranzmargen überschritten, so hat die für den
- 10 -
Immissionsschutz zuständige Behörde nach § 47 Abs. 1 BImSchG einen Luftreinhal-
teplan aufzustellen. Darin werden die erforderlichen Maßnahmen zur dauerhaften
Verminderung von Luftverunreinigungen festgelegt, die nach Maßgabe des § 47
Abs. 4 Satz 1 BImSchG entsprechend dem Verursacheranteil unter Beachtung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gegen alle Emittenten zu richten sind. Zwar
werden hierdurch auf die Einhaltung der Grenzwerte gerichtete Maßnahmen außer-
halb der Luftreinhalteplanung nicht ausgeschlossen. Die durch das Gemeinschafts-
recht gewährte Freiheit, zwischen den zur Einhaltung der Grenzwerte geeigneten
Mitteln zu wählen, wird durch die Regelungen des BImSchG und der 22. BImSchV
jedoch nicht beschränkt. Sie schließt eine Verpflichtung der Planfeststellungsbehör-
de, die Einhaltung der Grenzwerte vorhabenbezogen zu garantieren, aus (vgl. Urteil
vom 26. Mai 2004, a.a.O.).
Die Auswirkungen des Vorhabens auf die Luftqualität dürfen im Planfeststellungsver-
fahren jedoch nicht unberücksichtigt bleiben. Aus dem planungsrechtlichen Abwä-
gungsgebot folgt, dass der Planungsträger grundsätzlich die durch die Planungsent-
scheidung geschaffenen oder ihr sonst zurechenbaren Konflikte zu bewältigen hat
und sie hierzu - gegebenenfalls in Form von Vorkehrungen gemäß § 74 Abs. 2
Satz 2 VwVfG - einer Lösung zuführen muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar
1981 - BVerwG 4 C 68.78 - BVerwGE 61, 307 <311>; Beschluss vom 14. Juli 1994
- BVerwG 4 NB 25.94 - Buchholz 406.11 § 1 BauGB Nr. 75). Die Problembewälti-
gung kann allerdings auch darin bestehen, dass die Planfeststellungsbehörde die
endgültige Problemlösung einem nachfolgenden Verwaltungsverfahren überlässt,
wenn dort die Durchführung der erforderlichen Problemlösungsmaßnahmen sicher-
gestellt ist. Das gilt auch für das Verhältnis von straßenrechtlicher Planfeststellung
und Luftreinhalteplanung. Das Gebot der Konfliktbewältigung ist erst verletzt, wenn
die Planfeststellungsbehörde das Vorhaben zulässt, obgleich absehbar ist, dass sei-
ne Verwirklichung die Möglichkeit ausschließt, die Einhaltung der Grenzwerte mit den
Mitteln der Luftreinhalteplanung in einer mit der Funktion des Vorhabens zu verein-
barenden Weise zu sichern (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2004, DVBl 2004, 1289
<1292>). Das ist insbesondere der Fall, wenn die von einer planfestgestellten Straße
herrührenden Immissionen bereits für sich genommen die maßgeblichen Grenzwerte
überschreiten. Von diesem Fall abgesehen geht der Gesetzgeber davon aus, dass
sich die Einhaltung der Grenzwerte in aller Regel mit den Mitteln der Luftreinhalte-
- 11 -
planung sichern lässt (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. Juni 2004, a.a.O. und vom
18. November 2004 - BVerwG 4 CN 11.03 - UA S. 19 f., zur Veröffentlichung in
BVerwGE vorgesehen). Für die Annahme, dass dies nicht möglich ist, müssen des-
halb besondere Umstände vorliegen. Derartige Umstände können sich vor allem aus
ungewöhnlichen örtlichen Gegebenheiten (zentrale Verkehrsknotenpunkte, starke
Schadstoffvorbelastung durch eine Vielzahl von Emittenten) ergeben, die sich der
Planfeststellungsbehörde auf der Grundlage des Anhörungsverfahrens, insbesonde-
re der Beteiligung der zuständigen Fachbehörden, erschließen (vgl. BVerwG, Urteil
vom 24. Juni 2004, a.a.O.).
1.3.2 Gemessen hieran ist der angefochtene Planfeststellungsbeschluss nicht zu
beanstanden. Die Planfeststellungsbehörde ist auf der Grundlage der vom Vorha-
benträger vorgelegten Untersuchung der SPACETEC vom 6. August 2002 davon
ausgegangen, dass der Betrieb des planfestgestellten Abschnitts der A 72 die Belas-
tung im Bereich der Wohnbebauung durch Stickstoffdioxid um bis zu 10 µg/m³ und
durch Partikel (PM
10
) um bis zu 6 µg/m³ erhöhen wird (vgl. S. 96 f. des Planfeststel-
lungsbeschlusses). Im Hinblick auf die Partikel hat der Beklagte in der mündlichen
Verhandlung eingeräumt, dass nur die durch den Auspuff emittierten Anteile, nicht
- wie dies im Zeitpunkt der Planfeststellung möglich gewesen wäre (vgl. Merkblatt
über Luftverunreinigungen an Straßen ohne oder mit lockerer Randbebauung, Aus-
gabe 2002, S. 5) - die Feinstäube aus Straßen-, Reifen-, Kupplungs- und Bremsab-
rieb abgeschätzt wurden. Diese Anteile seien in etwa so hoch wie der Auspuff-Anteil,
so dass sich die Belastung im Prognosejahr 2015 vorhabenbedingt um bis zu
12 µg/m³ erhöhen werde.
Die Einwände der Kläger gegen die Berechnung der dem Vorhaben zuzurechnenden
Schadstoffkonzentrationen greifen nicht durch. Sie meinen auch insoweit, dass der
Schwerverkehrsanteil mit 18,6 % zu niedrig angesetzt worden sei. Über ihren bereits
im Zusammenhang mit den Verkehrsgeräuschen erörterten Einwand hinaus machen
sie geltend, dass die LKW bis 2,8 t bei der Berechnung der Luftschadstoffe unbe-
rücksichtigt geblieben seien. Deren Anzahl sei, wie sich aus beigefügten Tabellen
des Kraftfahrtbundesamtes ergebe, zwischen dem 1. Juli 2000 und dem 1. Januar
2004 von 755 053 auf 975 563, mithin um etwa 30 % gestiegen. Dies müsse sich auf
die Planung auswirken.
- 12 -
Insoweit gehen die Kläger von falschen tatsächlichen Voraussetzungen aus. Der be-
hauptete Zuwachs bei den LKW unter 2,8 t beruht auf einem Ablesefehler aus den
Tabellen des Kraftfahrtbundesamtes. Nach diesen Tabellen betrug die Zahl der LKW
zwischen 2 001 und 2 800 kg am 1. Juli 2000 insgesamt 1 035 162 (280 109 LKW
zwischen 2 001 und 2 500 kg und 755 053 LKW zwischen 2 501 und 2 800 kg), am
1. Januar 2004 975 563. Sie hat mithin sogar abgenommen. Im Übrigen lassen die
Statistiken des Kraftfahrtbundesamtes - wie bereits dargelegt - keine Rückschlüsse
auf die hier maßgebliche Zusammensetzung des Verkehrs auf dem streitigen Ab-
schnitt der A 72 zu. Warum die Kläger meinen, dass das bei den Berechnungen ein-
gesetzte Programm IMMPROG die leichten Nutzfahrzeuge nicht berücksichtigt habe,
legen sie nicht dar. Ausweislich der Untersuchung der SPACETEC (S. 9) gehört der
Anteil an leichten und schweren Nutzfahrzeugen zu den Eingangsgrößen für das Be-
rechnungsmodell. Da in der Regel nur PKW- und LKW-Anteile vorliegen, wird der
Emissionsanteil der leichten und schweren Nutzfahrzeuge jedoch auch in anderen
Emissionsmodellen aus DTV und LKW-Anteil errechnet (vgl. MLuS 02, S. 10). Be-
denken hiergegen zeigen die Kläger nicht auf.
Die Kläger meinen außerdem, dass die Schadstoffimmissionen nach dem Merkblatt
über Luftverunreinigungen an Straßen ohne oder mit lockerer Randbebauung
- Ausgabe 2002 (MLuS 02) hätten berechnet werden müssen. Die dem Planfeststel-
lungsbeschluss zugrunde liegenden Schadstoffberechnungen wurden mit dem Pro-
gramm IMMPROG durchgeführt. Das Gericht hat Prognosen als rechtmäßig hinzu-
nehmen, soweit sie methodisch einwandfrei zustande gekommen und in der Sache
vernünftig sind. Es kann daher eine Prognose grundsätzlich nur darauf prüfen, ob sie
mit den seinerzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln methodengerecht er-
stellt wurde (vgl. Urteil vom 19. März 2003 - BVerwG 9 A 33.02 - Buchholz 407.4
§ 17 FStrG Nr. 173 m.w.N.). Zweifel an der methodischen Eignung des
Programms IMMPROG haben die Kläger nicht aufgezeigt. Dass die zu erwartenden
Immissionen auch auf der Grundlage des MLuS 02 hätten berechnet werden können,
stellt die methodische Eignung des Programms IMMPROG nicht in Frage.
Auf der Grundlage der dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegenden Berech-
nungen ist mithin davon auszugehen, dass die von dem Vorhaben herrührenden
- 13 -
NO
2
- und PM
10
-Immissionen für sich genommen den jeweiligen über ein Kalender-
jahr gemittelten Immissionsgrenzwert von 40 µg/m³ nicht überschreiten werden. Die
Annahme der Planfeststellungsbehörde, dass die Grenzwerte der 22. BImSchV auch
in der Summe aus Vor- und Zusatzbelastung in jeder Hinsicht ohne Luftreinhaltepla-
nung eingehalten werden können, begegnet allerdings Bedenken. Probleme könnte
insbesondere die Einhaltung des 24-Stunden-Grenzwertes für PM
10
bereiten. Schon
auf der Grundlage des von der Planfeststellungsbehörde zugrunde gelegten Vorbe-
lastungswertes von 19 µg/m³ dürfte bei einer Zusatzbelastung von bis zu 12 µg/m³
mit mehr als 35 Überschreitungen des 24-Stunden-Grenzwertes zu rechnen sein. Im
Übrigen ist auch die Ermittlung des Vorbelastungswertes nicht frei von rechtlichen
Bedenken. Sie beruht auf vorhabenbezogenen Messungen der Vorbelastung. Das ist
nicht zu beanstanden. Die Messergebnisse wurden jedoch nicht für jede Messstelle
gesondert ausgewertet, sondern es wurde aus den Messergebnissen ein einheitli-
cher Vorbelastungswert abgeleitet. Ein Verfahren hierfür stellt die 22. BImSchV nicht
zur Verfügung (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2004, a.a.O.). Außerdem ge-
nügt es nicht, dass die Grenzwerte im Gesamtgebiet nicht flächendeckend oder im
Durchschnitt nicht überschritten werden; der 22. BImSchV und der Richtlinie
1999/30/EG liegt keine ausschließlich gebiets- oder ballungsraumbezogene Betrach-
tung zugrunde (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Mai 2004 - BVerwG 9 A 6.03 - DVBl
2004, 1289 <1291> und vom 18. November 2004 - BVerwG 4 CN 11.03 - UA S. 18).
Ob die dem Planfeststellungsbeschluss zugrunde liegende Abschätzung der Ge-
samtbelastung tragfähig ist, kann jedoch offen bleiben. Denn besondere Umstände,
die die Annahme rechtfertigen würden, dass die Einhaltung der Grenzwerte nicht
jedenfalls im Wege der Luftreinhalteplanung sichergestellt werden kann, liegen nicht
vor. Die Realisierung des Vorhabens wird im Hinblick auf Ausbaustandard, Ver-
kehrsbelastung und Lage nicht zu einer atypischen Schadstoffsituation führen. Plan-
festgestellt ist eine Autobahn mit vier Fahrstreifen. Die durchschnittliche tägliche Ver-
kehrsstärke ist für das Prognosejahr 2015 auf 52 600 Fahrzeuge und der Anteil der
LKW ab 2,8 t auf 18,6 % prognostiziert worden. Damit hält sich das Vorhaben im
Rahmen des für eine Autobahn Üblichen (vgl. MLuS 02, S. 19 f.). Größere Steigun-
gen oder eine schluchtartige Randbebauung weist der Planungsabschnitt nicht auf.
Auf der Grundlage der vorhabenbezogen ermittelten Vorbelastungswerte sind, wenn
überhaupt, jedenfalls keine extremen Grenzwertüberschreitungen zu erwarten. Diese
dürften die Luftreinhalteplanung nicht vor eine unlösbare Aufgabe stellen. Auch die
- 14 -
beteiligten Fachbehörden haben im Hinblick auf die Luftqualität keine Bedenken ge-
gen die Planung erhoben. Das Staatliche Umweltfachamt hat in seiner Stellungnah-
me vom 16. Oktober 2002 zwar nicht ausschließen wollen, dass es sowohl bei NO
2
als auch bei Feinstaub (PM
10
) an der Wohnbebauung, die sehr nahe der Trasse liegt,
zu Überschreitungen der Grenzwerte kommt; dass diese Überschreitungen auch im
Wege der Luftreinhalteplanung nicht zu verhindern seien, hat es jedoch nicht geltend
gemacht.
1.4 Der Planfeststellungsbeschluss verstößt nicht im Hinblick darauf, dass im über-
nächsten Planungsabschnitt das gemeldete FFH-Gebiet "Mittleres Zwickauer Mulde-
tal" gequert oder umgangen werden muss, gegen europäisches Naturschutzrecht.
Eine Planung, die sich in einem nachfolgenden Planungsabschnitt vor unüberwind-
bare Hindernisse gestellt sieht, verfehlt ihren gestaltenden Auftrag (vgl. BVerwG, Be-
schluss vom 21. Januar 1998 - BVerwG 4 VR 3.97 - Buchholz 407.4 § 17 FStrG
Nr. 135 ; Urteile vom 19. Mai 1998 - BVerwG 4 A 9.97 - BVerwGE 107, 1
<16> und vom 27. Februar 2003 - BVerwG 4 A 59.01 - Buchholz 406.400 § 61
BNatSchG 2002 Nr. 1 ). Der Grundsatz der Konfliktbewältigung verbietet es,
Probleme ungelöst zu lassen, die durch die Gesamtplanung aufgeworfen werden. Ist
bei abschnittsweiser Planung vorhersehbar, dass sich das Vorhaben in einem nach-
folgenden Abschnitt als undurchführbar erweisen wird, so darf der Planungsträger
hiervor nicht die Augen verschließen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2003,
a.a.O.). Bereits im planfestgestellten Abschnitt ist deshalb abwägungsrelevant und
ggf. als eine Frage zwingenden Rechts entscheidungserheblich, ob die Planfeststel-
lung eines nachfolgenden Abschnitts mit den Vorschriften des europäischen Natur-
schutzrechts vereinbar wäre (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 1998, a.a.O.
).
Die Planfeststellungsbehörde hat nicht übersehen, dass das FFH-Gebiet "Mittleres
Zwickauer Muldetal" im Bereich des Lochmühlentals unter dem Blickwinkel des eu-
ropäischen Naturschutzrechts Probleme aufwerfen kann. Sie hat dieses Gebiet je-
doch zu Recht nicht als unüberwindliches Hindernis für die weitere Planung angese-
hen. Bei der weiteren Trassenführung kann das Gebiet im Bereich des Lochmühlen-
tals östlich mit einem Mindestabstand von 200 m umgangen werden. Der vorliegende
- 15 -
Planungsabschnitt steht einer solchen Trassenführung nicht entgegen. Das Schutz-
regime des Art. 6 Abs. 3 und 4 FFH-RL erfasst zwar auch erhebliche Beeinträchti-
gungen, die ihre Ursachen außerhalb des Gebiets haben und sich auf das Gebiet
auswirken (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Mai 1998, a.a.O. ). Auch derartige
Beeinträchtigungen wären bei einer Umgehung des Gebiets jedoch nicht zu erwar-
ten. In der vom Beklagten vorgelegten Ergänzung der FFH-Verträglichkeitsprüfung
wird dargelegt, dass der Abstand zum trassennächsten Vorkommen von Lebens-
raumtypen nach Anlage I der FFH-Richtlinie (9170 - Labkraut-Eichen-Hainbuchen-
wald) mindestens 400 m betragen würde und dass der möglicherweise betroffene
Flächenanteil des Lebensraumtyps durch Schadstoffeintrag und Lärmeinwirkungen
sehr gering wäre. Das Vorkommen von besonders störungsempfindlichen Tierarten
sei nicht bekannt. Die Kläger sind diesen Ausführungen nicht entgegengetreten. Ob
die Beeinträchtigungen auch dann unterhalb der Erheblichkeitsschwelle bleiben,
wenn das FFH-Gebiet - wie nach gegenwärtigem Planungsstand vorgesehen - im
Bereich des Lochmühlentals gequert wird, braucht im vorliegenden Planungsab-
schnitt nicht geklärt zu werden.
1.5 Die Abwägungsentscheidung, die die Planfeststellungsbehörde in Anwendung
des § 17 Abs. 1 Satz 2 FStrG getroffen hat, hält einer rechtlichen Überprüfung stand.
1.5.1 Die Entscheidung, nicht die B 95 zu ertüchtigen, sondern die A 72 neu zu bau-
en, ist nicht zu beanstanden. Die Kläger meinen, dass die parallele Führung beider
Verkehrswege im Abstand weniger Kilometer dem Bündelungsgebot widerspreche.
Die negativen Auswirkungen des Neubaus der A 72 durch Brückenneubauten, Flä-
cheninanspruchnahmen und Verkehrsanbindungen lägen mit größter Wahrschein-
lichkeit über denen eines Ausbaus der B 95. Zweifelhaft sei auch, ob angesichts der
Bevölkerungs-, Verkehrs- und Wirtschaftsentwicklung an der Verkehrsprognose für
2005 und 2015 festgehalten werden könne. Mit diesem Vorbringen ist ein Abwä-
gungsfehler nicht schlüssig dargelegt.
Die Planfeststellungsbehörde hat einen Ausbau der B 95 in Erwägung gezogen und
gegen den Neubau der A 72 abgewogen. Eine "Bündelung" der beiden Verkehrswe-
ge käme hier nur in der Weise in Betracht, dass die B 95 auf jeweils zwei Richtungs-
fahrbahnen unter Umgehung der Ortschaften ausgebaut und auf einen Neubau der
- 16 -
A 72 verzichtet wird. Wie sich die Kläger eine teilweise Nutzung der vorhandenen
Trasse der B 95 vorstellen, legen sie nicht dar. Überlegungen in diese Richtung
mussten sich der Planfeststellungsbehörde jedenfalls nicht aufdrängen.
Die Planfeststellungsbehörde hat in die Abwägung eingestellt, was insoweit nach
Lage der Dinge einzustellen war. Sie hat die beiden Alternativen im Hinblick auf ihre
Verkehrsqualität und die von ihnen ausgehenden Beeinträchtigungen verglichen. Die
Verkehrsqualität einer neu trassierten Autobahn hat sie als besser angesehen, weil
die Autobahn eine höhere Sicherheit biete, leistungsfähiger sei und sich besser in
vorhandene Strukturen einpasse. Eine Ertüchtigung der B 95 würde nach ihrer Auf-
fassung wegen des erforderlichen Baus von Ortsumgehungen und neuen Anbindun-
gen nicht zu offensichtlich geringeren Beeinträchtigungen Dritter bzw. anderer abwä-
gungsrelevanter Schutzgüter führen. Weil der Neubau der Autobahn dem Verkehrs-
bedarf nach ihrer Einschätzung deutlich besser entsprach, brauchte sie eine ins Ein-
zelne gehende vergleichende Untersuchung der Beeinträchtigungen nicht vorzu-
nehmen.
Soweit das Vorbringen der Kläger darauf zielt, den Verkehrsbedarf für die A 72 neu
untersuchen zu lassen, ist es bereits durch die gesetzgeberische Entscheidung im
FStrAbG ausgeschlossen. Die durch die Aufnahme in den Bedarfsplan getroffene
Feststellung, dass ein verkehrlicher Bedarf besteht, ist für die Planfeststellung ver-
bindlich und so auch als Belang in der planerischen Abwägung zu berücksichtigen
(vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Mai 1998 - BVerwG 4 A 9.97 - BVerwGE 107, 1 <9>
und vom 19. März 2003 - BVerwG 9 A 33.02 - Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 173
). Die Kläger können Mängel der Verkehrsprognose allerdings geltend ma-
chen, sofern die angenommene Verkehrsentwicklung von Bedeutung für die planeri-
sche Abwägung ist. Solange nicht die im Bedarfsgesetz getroffene Leitentscheidung
in Frage gestellt wird, können sie rügen, dass die Straße überdimensioniert geplant
sei, weil sie erheblich weniger Verkehr werde aufnehmen müssen, als prognostiziert
worden sei (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2003, a.a.O. ).
Zweifel an den Grundlagen oder dem Verfahren der Verkehrsuntersuchung der PTV
vom 11. Februar 2002 haben die Kläger jedoch nicht schlüssig dargelegt. Grundlage
der Modellrechnung waren neben dem auch von den Klägern geforderten VISUM-
- 17 -
Netzmodell Raumstrukturdaten (z.B. Einwohner, Erwerbstätige, Beschäftigte) sowie
Verkehrsverhaltenskennwerte. Anhaltspunkte dafür, dass die Bevölkerungsentwick-
lung in Sachsen bei der Untersuchung ausgeblendet worden sein könnte, sind nicht
ersichtlich. Der Untersuchung ist im Übrigen zu entnehmen, dass die Bevölkerungs-
entwicklung Rückschlüsse auf den Verkehrsbedarf nicht ohne weiteres zulässt. So
wird dargelegt, dass der Kfz-Bestand in Sachsen und die jährliche Fahrleistung
- trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen - in den vergangenen Jahren weiter zuge-
nommen haben.
Die planerische Entscheidung, den Neubau einer Autobahn aus verkehrlichen Grün-
den dem Ausbau der B 95 vorzuziehen, beruht auch nicht auf einer unverhältnismä-
ßigen Fehlgewichtung der betroffenen Belange.
1.5.2 Auch bei der Trassenauswahl hat die Planfeststellungsbehörde nicht gegen
das Abwägungsgebot verstoßen. Die Kläger meinen, dass die planfestgestellte Vari-
ante bei Anwendung des § 50 BImSchG keine Chance auf Genehmigung gehabt
hätte. Es sei nicht erkennbar, ob der Planungsträger bereits beim Linienentwurf aus-
reichende Lärmschutzüberlegungen angestellt habe. Wertminderungen der
Grundstücke hätten bei der Linienfindung keine Rolle gespielt. Deutliche Verbesse-
rungen für die Gemeinde Röhrsdorf könnten nur durch eine Tunnel- oder Galerielö-
sung erzielt werden.
Die Planfeststellungsbehörde hat nicht verkannt, dass § 50 Satz 1 BImSchG bereits
unterhalb der in § 41 BImSchG bezeichneten Lärmschwelle im Rahmen der nach
§ 17 Abs. 1 FStrG gebotenen Abwägung unter Lärmschutzgesichtspunkten die Funk-
tion einer Abwägungsdirektive zukommt (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Januar 1999
- BVerwG 4 CN 5.98 - BVerwGE 108, 248 <253> und vom 11. Januar 2001
- BVerwG 4 A 13.99 - Buchholz 406.25 § 43 BImSchG Nr. 16 ). Gemäß § 50
Satz 2 BImSchG ist bei raumbedeutsamen Maßnahmen und Planungen in Gebieten,
in denen die Grenzwerte u.a. der 22. BImSchV nicht überschritten werden, bei der
Abwägung der betroffenen Belange auch die Einhaltung der bestmöglichen Luftquali-
tät als Belang zu berücksichtigen. Das Interesse, vor Beeinträchtigungen durch Luft-
schadstoffe geschützt zu werden, die im Wege der Luftreinhaltung noch im Rahmen
des rechtlich Zumutbaren gehalten werden können, ist mithin ein abwägungserhebli-
- 18 -
cher Belang. Auch das hat die Planfeststellungsbehörde nicht verkannt. Sie hat fünf
Trassenvarianten näher untersucht. Bei der Abwägung hat sie insbesondere dem
Schutz der Wohngebiete wesentliche Bedeutung beigemessen. Anhaltspunkte dafür,
dass sie dabei neben der Gesundheit der Bewohner nicht auch den Wertverlust der
Grundstücke im Blick gehabt hat, sind nicht ersichtlich. Welche andere, die Inan-
spruchnahme ihrer Grundstücke vermeidende Trasse sich der Planfeststellungsbe-
hörde als vorzugswürdig hätte aufdrängen sollen, haben die Kläger nicht dargelegt.
Die Planfeststellungsbehörde hat auch abgewogen, ob die Ortslage Röhrsdorf über
eine Brücke oder durch einen Tunnel gequert werden soll. Dabei hat sie die abwä-
gungserheblichen Belange berücksichtigt. Sie hat erkannt, dass die Lärmbelastung
einer Mehrzahl der Anwesen im unmittelbaren Querungsbereich bei einer Tunnellö-
sung gesenkt würde und dass auch die Möglichkeit, den Lärmschutz unterhalb der
Grenzwerte der 16. BImSchV zu verbessern, abwägungsrelevant ist. Bei der Ent-
scheidung für die eine oder andere Planungsvariante dürfen jedoch auch Kostenge-
sichtspunkte den Ausschlag geben (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Februar 1996
- BVerwG 4 A 27.95 - Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 110 und vom 28. Januar 1999
- BVerwG 4 CN 5.98 - BVerwGE 108, 248 <254>). Aufgrund einer von der Vorha-
benträgerin in Auftrag gegebenen Vergleichsuntersuchung ist die Planfeststellungs-
behörde davon ausgegangen, dass die Mehrkosten für den untersuchten, unter
Lärmschutzgesichtspunkten noch verbesserungsbedürftigen Tunnel etwa 43 Mio.
DM (Stand 1999) betragen. Die Mehrkosten einer Einhausung wären nicht geringer.
Einwendungen gegen die Kostenabschätzung haben die Kläger nicht erhoben. Bei
Mehrkosten in dieser Größenordnung ist es nicht unverhältnismäßig, dem sparsa-
men Umgang mit Haushaltsmitteln gegenüber dem Interesse der Anwohner an ei-
nem über die Grenzwerte der 16. BImSchV hinausgehenden Lärmschutz den Vorzug
zu geben.
1.6 Die Inanspruchnahme des klägerischen Grundstücks begegnet keinen Beden-
ken. Soweit der Planfeststellungsbeschluss den Erwerb des Grundstücks für den
Bau der A 72 einschließlich der Lärmschutzwälle erlaubt, beruht die Inanspruchnah-
me auf § 19 Abs. 1 Satz 2, § 1 Abs. 4 Nr. 1 FStrG. Die Gestaltungsmaßnahmen
G.4.8.1 und G.4.8.5 sollen auf diesen Flächen verwirklicht werden.
- 19 -
Soweit das Grundstück für die Ersatzmaßnahme E.4.3.4 erworben oder durch eine
Grunddienstbarkeit beschränkt werden darf, beruht die Inanspruchnahme des
Grundstücks auf § 19 Abs. 1 FStrG i.V.m. § 9 Abs. 3 SächsNatSchG. Die Verlegung
der 380 kV-Freileitung ist eine notwendige Folgemaßnahme des Vorhabens im Sinne
des § 75 Abs. 1 VwVfG. Insoweit haben die Kläger Einwände gegen die Inanspruch-
nahme ihres Grundeigentums nicht erhoben.
2. Der hilfsweise gestellte Antrag, den Beklagten zu verpflichten, den Planfeststel-
lungsbeschluss um Schutzauflagen zugunsten der Kläger und die Zuerkennung ei-
nes Entschädigungsanspruchs zu ergänzen, ist ebenfalls unbegründet.
2.1 Ein Anspruch gemäß §§ 41, 43 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG i.V.m. § 2 der
16. BImSchV auf ergänzende Vorkehrungen des aktiven Schallschutzes steht den
Klägern nicht zu. Nach dieser Regelung ist bei dem Bau einer öffentlichen Straße si-
cherzustellen, dass der nach § 3 der 16. BImSchV berechnete Beurteilungspegel auf
den in der Nachbarschaft gelegenen Grundstücken bestimmte Immissionsgrenzwerte
nicht überschreitet; dies gilt nicht, soweit die Kosten der Schutzmaßnahme außer
Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck stehen würden.
Nach der vom Vorhabenträger vorgelegten schalltechnischen Untersuchung werden
die nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 16. BImSchV maßgeblichen Immissionsgrenzwerte von
59 dB(A) tags und 49 dB(A) nachts nur an der Süd- und der Westseite im ersten und
zweiten Obergeschoss des Neubaus um bis zu 1,2 dB(A) überschritten. Die Vorbe-
lastung des Grundstücks, insbesondere durch das Rauschen der Hochspannungslei-
tungen, ist bei der Berechnung der Beurteilungspegel zu Recht außer Betracht
geblieben. Nach der 16. BImSchV kommt es, wie sich aus § 1 der Verordnung und
ihrer Entstehungsgeschichte ergibt, allein auf den von dem zu bauenden oder zu än-
dernden Verkehrsweg ausgehenden Verkehrslärm an (vgl. BVerwG, Urteil vom
21. März 1996 - BVerwG 4 C 9.95 - BVerwGE 101, 1; Beschluss vom 11. November
1996 - BVerwG 11 B 66.96 - juris). Lärm, der nicht gerade auf der zu bauenden oder
zu ändernden Strecke entsteht, wird von der Verkehrslärmschutzverordnung nicht
berücksichtigt. Aus Gründen des Grundrechtsschutzes kann allerdings die zusätzli-
che Berücksichtigung anderer Lärmquellen nach Maßgabe eines Summenpegels
geboten sein (vgl. BVerwGE 101, 1 <9 f.>; Urteil vom 20. Mai 1998 - BVerwG 11 C
- 20 -
3.97 - Buchholz 406.25 § 41 BImSchG Nr. 18 ; Urteil vom 10. November
2004 - BVerwG 9 A 67.03 - juris). Dass die durch den Neubau der A 72 auf ihrem
Grundstück verursachten Schallimmissionen unter Einbeziehung anderer Lärmquel-
len Werte von 70 dB(A) tags und 60 dB(A) nachts erreichen könnten, oberhalb derer
in Wohngebieten ein aus Sicht des Grundrechtsschutzes kritischer Bereich beginnt
(vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Mai 1998 und vom 10. November 2004, jeweils
a.a.O.), haben die Kläger selbst nicht geltend gemacht.
Die Planfeststellungsbehörde hat die Kläger wegen der errechneten Grenzwertüber-
schreitungen auf passive Schallschutzmaßnahmen verwiesen, weil die Kosten wei-
tergehenden aktiven Schallschutzes außer Verhältnis zu dem damit erreichbaren
Zweck stehen würden. Das ist nicht zu beanstanden. Im Planfeststellungsbeschluss
wird dargelegt, dass die Einhaltung der Grenzwerte am Gebäude der Kläger sowie
an sieben weiteren Gebäuden, an denen es zu Überschreitungen des Nachtgrenz-
wertes kommt, eine Erhöhung der Lärmschutzwand auf der Brücke (Bau-km 2+150
bis 2+570) von 5,85 m auf 8 m in Verbindung mit einer Erhöhung des Walls bei
Bau-km 1+900 bis 2+150 von 6 m auf 7 m erfordern würde. Die Lärmpegel könnten
dadurch um 0,8 bis 2,1 dB(A) gemindert werden. Die Mehrkosten für die höhere
Lärmschutzwand bzw. den höheren Wall beliefen sich auf 375 945 € zuzüglich min-
destens 1 Mio. € für konstruktive Veränderungen an der Brücke. Die Kläger haben
diese Feststellungen der Planfeststellungsbehörde nicht bestritten. Mehrkosten in
dieser Größenordnung stehen auch unter Berücksichtigung der Lärmminderung für
Anwohner, bei denen die Grenzwerte nicht überschritten werden, außer Verhältnis
zum angestrebten Erfolg.
2.2 Einen Anspruch auf Entschädigung für die erforderlichen Maßnahmen des passi-
ven Schallschutzes gemäß § 42 Abs. 2, § 43 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG i.V.m. der
24. BImSchV hat die Planfeststellungsbehörde den Klägern zuerkannt. Da die
Grenzwerte auf diese Weise eingehalten werden können, stehen den Klägern wei-
tergehende Ansprüche wegen der Verkehrsgeräusche nicht zu.
2.3 Wegen der Verschattung ihres Grundstücks haben die Kläger keinen Anspruch
auf Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs. Als Rechtsgrundlage für einen
solchen Anspruch kommt allein § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG in Betracht. Nach § 74
- 21 -
Abs. 2 Satz 3 VwVfG hat der von der Planung Betroffene einen Anspruch auf ange-
messene Entschädigung in Geld, wenn (weitere) Schutzvorkehrungen nicht vorge-
nommen werden können, sei es, weil sich technisch-reale Maßnahmen als unzurei-
chend oder angesichts der Höhe ihrer Kosten als unverhältnismäßig erweisen, sei
es, weil sich die Beeinträchtigungen - wie im Fall einer Verschattung - durch geeigne-
te Maßnahmen überhaupt nicht verhindern lassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Mai
1996 - BVerwG 4 A 39.95 - Buchholz 316 § 74 VwVfG Nr. 39 ). Der An-
spruch auf angemessene Entschädigung ist ein Surrogat für nicht realisierbare
Schutzmaßnahmen; greift § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG, der den Anspruch auf Schutz-
vorkehrungen regelt, tatbestandlich nicht ein, so ist auch für die Anwendung von § 74
Abs. 2 Satz 3 VwVfG kein Raum (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Januar 1991
- BVerwG 4 C 51.89 - BVerwGE 77, 332 <377>; vom 14. Mai 1992 - BVerwG 4 C
8.89 - Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 88 und vom 27. November 1996 - BVerwG
11 A 27.96 - und Buchholz 445.5 § 14 WaStrG Nr. 7). § 74 Abs. 2 Satz 2 VwVfG
setzt voraus, dass Vorkehrungen zur Vermeidung nachteiliger Wirkungen auf Rechte
anderer erforderlich sind. Die Beeinträchtigungen müssen, unabhängig davon, ob der
Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 2 GG oder des Art. 14 GG berührt ist, die
Grenze des Zumutbaren überschreiten (vgl. BVerwG, Urteile vom 7. Juli 1978
- BVerwG 4 C 79.76 u.a. - BVerwGE 56, 110 <131>; vom 20. Oktober 1989
- BVerwG 4 C 12.87 - BVerwGE 84, 31 <39 f.> jeweils zu § 17 Abs. 4 FStrG a.F.;
vom 28. Januar 1999 - BVerwG 4 CN 5.98 - BVerwGE 108, 248 <254> zu § 41
BImSchG).
Rechtsvorschriften, welche für den Fall einer Verschattung die Grenze des Zumutba-
ren konkretisieren, sind nicht ersichtlich. Auch die DIN 5034, die die Planfeststel-
lungsbehörde herangezogen hat, dürfte hierfür nicht geeignet sein. Sie stellt - wie im
Gutachten zur Verschattung dargelegt wird - in der Fassung vom Oktober 1999 dar-
auf ab, ob in einem Wohnraum einer Wohnung am 17. Januar eine Mindestbeson-
nung von mindestens einer Stunde vorliegt; in der Fassung vom Februar 1983 ist
entscheidend, ob am Tag der Tag- und Nachtgleiche eine Mindestbesonnung von
vier Stunden für einen Aufenthaltsraum pro Wohnung nachgewiesen wird. Nach den
Angaben des Gutachters geht es in der DIN 5034 nur um die "Einhaltung eines
wohnhygienischen Aspektes". Dass hygienische oder gesundheitliche Beeinträchti-
gungen nicht drohen, genügt jedoch nicht, um die Zumutbarkeit einer Verschattung
- 22 -
zu bejahen. Auch Beeinträchtigungen der Wohnqualität muss ein Planbetroffener
nicht bis zur Schwelle von Gesundheitsgefahren ohne Ausgleich hinnehmen. Aber
auch wenn man mangels anderer Maßstäbe die Zumutbarkeit der Verschattung nach
den Umständen des Einzelfalls beurteilt (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Oktober 1989,
a.a.O. und vom 9. Februar 1995 - BVerwG 4 C 26.93 - BVerwGE 97, 367 <373>), ist
die Verschattung des klägerischen Grundstücks durch die geplante Brücke der A 72
über das Pleißenbachtal hier noch als zumutbar anzusehen. Über das Jahr verteilt
wird sich die Besonnung des Wohnhauses um weniger als 5 %, also in nur geringem
Umfang, vermindern. In den sonnenarmen Wintermonaten, in denen das Sonnenlicht
als besonders kostbar empfunden wird, vermindert sich die Besonnung der Südseite
zwar um etwa 13 % und der Westseite um etwa 17 %. Eine solche Beeinträchtigung
liegt aber noch im Rahmen dessen, womit ein Grundstückseigentümer in einem länd-
lich geprägten Wohngebiet aufgrund möglicher Veränderungen der Umgebung
- auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass eine Autobahn in einem Wohn-
gebiet ein Fremdkörper ist - rechnen muss. Insoweit liegt der Sachverhalt anders als
in dem - gleichfalls mit Urteil vom 23. Februar 2005 abgeschlossenen - Parallelver-
fahren BVerwG 4 A 2.04. Für das Wohnhaus der dortigen Kläger ist durch das Brü-
ckenbauwerk eine Verminderung der Besonnung in den Wintermonaten um bis zu ei-
nem Drittel zu erwarten. Mit Blick auf diese erhebliche nachteilige Auswirkung hat auf
Anregung des erkennenden Senats der Beklagte den Klägern in der mündlichen
Verhandlung durch Erklärung zu Protokoll dem Grunde nach einen Entschädigungs-
anspruch wegen unzumutbarer Verschattung zugesprochen.
2.4 Andere die Zumutbarkeitsschwelle übersteigende nachteilige Wirkungen des
Vorhabens auf das Grundstück der Kläger, die einen Anspruch auf Schutzvorkeh-
rungen oder auf Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs begründen könnten,
sind nicht ersichtlich. Die Kläger begehren einen Ausgleich für den durch die Lage
zur A 72 bedingten Wertverlust ihres Grundstücks. Dass ein Grundstück am Grund-
stücksmarkt wegen seiner Belegenheit zur Autobahn an Wert verliert, ist jedoch kei-
ne nachteilige Wirkung auf ein Recht des Grundstückseigentümers. Derartige Wert-
minderungen werden deshalb von § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG nicht erfasst. Die darin
liegende Beschränkung des finanziellen Ausgleichs ist mit Art. 14 GG vereinbar. Der
Gesetzgeber muss nicht vorsehen, dass jede durch staatliches Verhalten ausgelöste
Wertminderung ausgeglichen wird (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. März 1996
- 23 -
- BVerwG 4 C 9.95 - BVerwGE 101, 1 <11 f.> und vom 24. Mai 1996 - BVerwG 4 A
39.95 - Buchholz 316 § 74 VwVfG Nr. 39 ). Ergibt erst eine Gesamtschau
aller Beeinträchtigungen, dass eine weitere Nutzung des Grundstücks als unzumut-
bar erscheint, können die Betroffenen auf der Grundlage von § 74 Abs. 2 Satz 3
VwVfG die Übernahme des Grundstücks verlangen (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. Juni
2002 - BVerwG 4 A 44.00 - Buchholz 316 § 74 VwVfG Nr. 59). Dass die Verwirkli-
chung des Vorhabens die Situation des Wohngrundstücks derart nachhaltig beein-
trächtigt, dass den Klägern die Nutzung zu Wohnzwecken nicht mehr zugemutet
werden kann, ergibt sich aus ihrem Vorbringen nicht. Die Kläger haben die Über-
nahme ihres Grundstücks auch nicht beantragt. Die Planfeststellungsbehörde hat
über einen Übernahmeanspruch aber nur auf einen entsprechenden Antrag zu ent-
scheiden (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Januar 1981 - BVerwG 4 C 4.78 - BVerwGE
61, 295 <306>; Beschluss vom 8. September 2004 - BVerwG 4 B 42.04 - juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO.
Dr. Paetow Halama Gatz
Dr. Jannasch Dr. Philipp
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 16 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Entscheidung beruht auf § 72 Nr. 1 GKG n.F., § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F. Da
die Kläger den Planfeststellungsbeschluss nicht nur wegen der Beeinträchtigung ih-
res Eigentums, sondern insgesamt angefochten haben, entspricht es der nach § 13
Abs. 1 Satz 1 GKG a.F. maßgebenden Bedeutung der Sache, den Streitwert wie bei
der Klage eines Drittbetroffenen (vgl. Nr. 34.2 i.V.m. Nr. 2.2 des Streitwertkatalogs
- 24 -
für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung vom 7./8. Juli 2004) auf 15 000 €
zuzüglich des Betrags der Wertminderung des Grundstücks festzusetzen. Die zu er-
werbenden Flächen hat der Senat, da es nur um die enteignungsrechtliche Vorwir-
kung der Planfeststellung geht, mit der Hälfte, die dauerhaft zu beschränkenden Flä-
chen mit einem Viertel des Verkehrswertes, den die Beteiligten übereinstimmend auf
0,50 €/m
2
geschätzt haben, veranschlagt und auf dieser Grundlage die Wertminde-
rung des Eigentums überschlägig mit 1 000 € angesetzt.
Dr. Paetow Halama Gatz
Dr. Jannasch Dr. Philipp
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Straßenplanungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
FStrG
§ 17 Abs. 1 Satz 2
BImSchG
§§ 41, 42 Abs. 2, §§ 47, 50 Satz 1 und 2
16. BImSchV
§§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2, § 3, Anlage 1
22. BImSchV
§ 3 Abs. 4, § 4 Abs. 2 und 4, § 11
FFH-RL
Art. 6 Abs. 3 und 4
VwVfG
§ 74 Abs. 2 Satz 2 und 3
Stichworte:
Straßenplanung; Planfeststellung; LKW-Anteil; Partikel; PM
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; Jahresmittelwert;
24-Stundenwert; Auspuff-Anteil; Merkblatt über Luftverunreinigungen an Straßen oh-
ne oder mit lockerer Randbebauung (MLuS 02); Konfliktbewältigung, Gebot der -;
FFH-Gebiet; Bündelungsgebot; Luftqualität; abwägungserheblicher Belang; Tunnel;
Kostengesichtspunkte; Schutzauflage; Summenpegel; Verschattung; DIN 5034; la-
gebedingter Wertverlust; Übernahme.
Leitsätze:
1. Die 22. BImSchV ist - auch soweit es um die Einhaltung künftiger Grenzwerte
geht - bereits im Verfahren der Zulassung von Vorhaben zu beachten. Eine Verpflich-
tung der Planfeststellungsbehörde, die Einhaltung der Grenzwerte vorhabenbezogen
sicherzustellen, besteht jedoch nicht. Allerdings ist das Gebot der Konfliktbewältigung
verletzt, wenn die Planfeststellungsbehörde das Vorhaben zulässt, obgleich abseh-
bar ist, dass seine Verwirklichung die Möglichkeit ausschließt, die Einhaltung der
Grenzwerte der 22. BImSchV mit den Mitteln der Luftreinhalteplanung zu sichern (wie
Urteil vom 23. Februar 2005 - BVerwG 4 A 5.04).
2. Das Interesse, vor Beeinträchtigungen durch Luftschadstoffe geschützt zu werden,
die im Wege der Luftreinhalteplanung voraussichtlich noch im Rahmen des rechtlich
Zumutbaren gehalten werden können, ist ein abwägungserheblicher Belang (wie Ur-
teil vom 23. Februar 2005 - BVerwG 4 A 5.04).
3. Führt ein Vorhaben zu einer durch Schutzauflagen nicht vermeidbaren Verschat-
tung des Grundstücks, die die Grenze des Zumutbaren überschreitet (hier verneint),
kann der betroffene Grundstückseigentümer gemäß § 74 Abs. 2 Satz 3 VwVfG die
Zuerkennung eines Entschädigungsanspruchs verlangen.
Urteil des 4. Senats vom 23. Februar 2005 - BVerwG 4 A 4.04