Urteil des BVerwG vom 23.08.2006

Rechtliches Gehör, Raumordnung, Vorrang, Wirtschaftlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 A 1066.06 (4 A 1073.04)
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. August 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Paetow und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rojahn und Dr. Jannasch
beschlossen:
Die das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. März
2006 - BVerwG 4 A 1073.04 - betreffende Anhörungsrüge der
Kläger wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
Die zulässige Anhörungsrüge hat keinen Erfolg.
1. Auf die Rüge eines durch eine letztinstanzliche gerichtliche Entscheidung
beschwerten Beteiligten ist das Verfahren nach § 152a Abs. 1 Satz 1 VwGO
fortzuführen, wenn das Gericht den Anspruch dieses Beteiligten auf rechtliches
Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren
Beteiligten ein Recht darauf, dass er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort
zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde
liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern, Anträge zu stellen und
Ausführungen zu machen. Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des
Gerichts, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und
in Erwägung zu ziehen (BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 1983 - 2 BvR 731/80 -
BVerfGE 64, 135 <143 f.>). Die Gerichte sind aber nicht verpflichtet, jedes Vor-
bringen eines Beteiligten in den Gründen einer Entscheidung ausdrücklich zu
bescheiden (BVerfG, Beschluss vom 19. Juli 1967 - 2 BvR 639/66 - BVerfGE
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22, 267 <274>). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt auch keinen Schutz gegen Ent-
scheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen
oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (BVerfG,
Urteil vom 8. Juli 1997 - 1 BvR 1621/94 - BVerfGE 96, 205 <216>); die Vor-
schrift verpflichtet die Gerichte insbesondere nicht, der Rechtsansicht einer
Partei zu folgen (BVerfG, Beschluss vom 12. April 1983 - 2 BvR 678/81 -
BVerfGE 64, 1 <12>, Urteil vom 7. Juli 1992 - 1 BvL 51/86 u.a. - BVerfGE 87, 1
<33>).
Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt auch nicht gegen eine nach Mei-
nung eines Beteiligten sachlich unrichtige Ablehnung eines Beweisantrags
(BVerwG, Beschluss vom 7. Oktober 1987 - BVerwG 9 CB 20.87 - Buchholz
310 § 86 Abs. 2 Nr. 31). Art. 103 Abs. 1 GG ist aber verletzt, wenn die Ableh-
nung eines als sachdienlich und erheblich angesehenen Beweisantrags im
Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, Beschluss vom 30. Januar
1985 - 1 BvR 393/84 - BVerfGE 69, 141 <143 f.>, Beschluss vom 26. Juni 2002
- 1 BvR 670/91 - BVerfGE 105, 279 <311>, BVerwG, Beschluss vom 24. März
2000 - BVerwG 9 B 530.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 308, S. 16).
Maßgebend für die Frage, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, ist der materiell-
rechtliche Standpunkt der angegriffenen Entscheidung (zur Zulassung der Re-
vision stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Januar 1996 - BVerwG 11
B 150.95 - Buchholz 424.5 GrdstVG Nr. 1).
2.1 Die Ablehnung des auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens
gerichteten Beweisantrags Nr. 1001.1 durch den Beschluss vom 9. Februar
2006 verstieß nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG; sie ist prozessrechtlich nicht zu
beanstanden.
2.1.1 Aufgabe des Sachverständigen ist es, dem Gericht besondere Erfah-
rungssätze und Kenntnisse des jeweiligen Fachgebietes zu vermitteln und/oder
aufgrund von besonderen Erfahrungssätzen oder Fachkenntnissen Schlussfol-
gerungen aus einem feststehenden Sachverhalt zu ziehen (BVerwG, Urteil vom
6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 <41 f.>). Liegen bereits
Gutachten oder Auskünfte vor, steht es nach § 98 VwGO, § 404 Abs. 1, § 412
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Abs. 1 ZPO im Ermessen des Tatsachengerichts, ob es zusätzliche Auskünfte
oder Sachverständigengutachten einholt (BVerwG, Urteil vom 23. Mai 1989
- BVerwG 7 C 2.87 - BVerwGE 82, 76 <90>, Beschluss vom 7. März 2003
- BVerwG 6 B 16.03 - Buchholz 310 § 86 Abs. 2 VwGO Nr. 55). Das Tatsa-
chengericht kann sich dabei ohne Verstoß gegen seine Aufklärungspflicht auf
Gutachten oder gutachterliche Stellungnahmen stützen, die von einer Behörde
im Verwaltungsverfahren eingeholt wurden (BVerwG, Urteil vom 7. Juli 1978
- BVerwG 4 C 79.76 u.a. - BVerwGE 56, 110 <127>, Beschluss vom
4. Dezember 1991 - BVerwG 2 B 135.91 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO
Nr. 238, S. 67). Das Gericht ist nur verpflichtet, ein weiteres Gutachten einzu-
holen, wenn sich ihm eine weitere Sachaufklärung aufdrängen musste (stRspr,
BVerwG, Beschluss vom 5. August 2004 - BVerwG 6 B 31.04 - juris, Rn. 21).
Der Senat konnte die gestellten Beweisanträge danach ermessensfehlerfrei
nach § 98 VwGO, § 404 Abs. 1, § 412 Abs. 1 ZPO ablehnen. Das von dem
Plangeber des LEP FS zugrunde gelegte Intraplan-Gutachten vom 13. Februar
2003 („Bewertung der verkehrlichen Erschließung des Flughafenstandortes
Schönefeld im Vergleich zu stadtfernen Standortalternativen“) reichte zur Be-
antwortung der entscheidungserheblichen Fragen aus.
Eine weitere Sachverhaltsaufklärung musste sich nicht deswegen aufdrängen,
weil das Intraplan-Gutachten (hinsichtlich beider Standorte) Verkehrsverbin-
dungen einbezog, die erst im Hinblick auf die landesplanerische Standortent-
scheidung geschaffen werden sollen. Welche rechtlichen Bedenken die Kläger
gegen dieses Vorgehen erheben, ist nicht ersichtlich. Wie die Nr. 18, 19 und 25
des Beweisantrags Nr. 1001.1 zeigen, halten auch die Kläger die verkehrliche
Anbindung eines Standortes nach dem Ausbau der Verkehrsverbindungen für
maßgeblich.
2.1.2 Es ist weder dargelegt noch ersichtlich, warum Nr. 26 des Beweisantrags
Nr. 1001.1 die Fehlerhaftigkeit der Verkehrsprognose des Beklagten hätte zu
Tage fördern können (Schriftsatz vom 29. Juni 2006, S. 5). Der Beweisantrag
hatte nicht die Verkehrsprognose zum Gegenstand, sondern die Behauptung,
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dass bestimmte Unterschiede in der Anreisezeit weder hinsichtlich der Nach-
frage noch der Wirtschaftlichkeit eines Flughafens eine Rolle spielen.
Die zu Beweis gestellte Tatsachenbehauptung war im Übrigen nicht entschei-
dungserheblich: Von einer Fehlgewichtung der Planungsentscheidung des
LEP FS kann nur die Rede sein, wenn die getroffene Entscheidung unter Be-
rücksichtigung der objektiven Gegebenheiten nicht vertretbar erscheint. Dies
setzt eine völlige Verfehlung der objektiven Gewichtigkeit eines Belanges vor-
aus. Die Entscheidung zu Gunsten des Standortes Schönefeld verwirklicht
Grundsätze der Raumordnung und Vorgaben des LEPro (BVerwG, Urteil vom
16. März 2006 - BVerwG 4 A 1073.04 - UA Rn. 117 ff.); auf diese Regelwerke
könnte sich die Standortentscheidung auch stützen, wenn die wirtschaftlichen
Vorteile eines aufkommensnäheren Flughafens geringer wären, als der Beklag-
te annimmt.
2.1.3 Nr. 18, 19, 20 und 22 des Beweisantrags Nr. 1001.1 betrafen keine ent-
scheidungserhebliche Tatsachenbehauptung. Eine Einbindung des Standortes
Sperenberg in das Hochgeschwindigkeitsnetz über einige zentrale Punkte bringt
große Umwege, Umsteigebedarf und Reisezeitverluste mit sich (BVerwG, Urteil
vom 16. März 2006, a.a.O., Rn. 126). Zu diesen Nachteilen verhalten sich die
Beweisanträge Nr. 18 und 19 nicht. Die Behauptungen der Nr. 20 und 22 hatten
die Kosten einer schienenseitigen Anbindung des Standortes Sperenberg zum
Gegenstand. Diesen Kosten mussten die Verfasser des LEP FS nicht
nachgehen (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O., Rn. 126).
2.1.4 Auf die Wirkung und die Kosten einer straßenseitigen Anbindung des
Standortes Sperenberg, die die Nr. 23 und 25 des Beweisantrags Nr. 1001.1
zum Gegenstand hatten, kommt es gleichfalls nicht an. Denn wegen des not-
wendigen Ausbaus ist nicht zu beanstanden, dass der LEP FS flughafenbe-
dingten Straßenbauvorhaben im Einklang mit § 19 Abs. 4 LEPro eine Absage
erteilt und dem ergänzenden Ausbau des Straßennetzes am Standort Schöne-
feld den Vorrang eingeräumt hat (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O.,
Rn. 127).
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2.2 Die Kläger sehen den Anspruch auf rechtliches Gehör durch die Ablehnung
des Beweisantrags Nr. 1001.3, Ziffer 10 bis 13 und 16 als verletzt an (Schrift-
satz vom 29. Juni 2006, S. 8 ff.).
Der Senat konnte sich auf die im Aufstellungsverfahren zum LEP FS eingeholte
gutachterliche Stellungnahme der PLANCO CONSULTING GmbH, Essen und
der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus stützen (BVerwG, Ur-
teil vom 16. März 2006, a.a.O., Rn. 130). Die Kläger zeigen in ihrer Anhörungs-
rüge nicht auf, warum sich dem Senat eine weitere Beweiserhebung aufdrän-
gen musste. Allein der Verweis der Kläger auf den Flughafen München und die
von ihm ausgehenden wirtschaftlichen Impulse reichen dafür nicht aus, da die
eingeholte gutachterliche Stellungnahme auf einer wesentlich breiteren Tatsa-
chenbasis aufbaut (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O., Rn. 130). Soweit
die Kläger auf die (behauptete) Möglichkeit weiter gehenden Nachtflugs am
Standort Sperenberg verweisen, ist dem entgegen zu halten, dass über Umfang
und Grenzen des Nachtflugbetriebs in der Fachplanung, nicht in der
Raumordnung entschieden wird.
3. Die Ablehnung des Beweisantrags Nr. 1073.3 verstößt nicht gegen den An-
spruch auf rechtliches Gehör (Schriftsatz vom 29. Juni 2006, S. 11 f.). Die vor-
liegenden Gutachten reichten aus, die entscheidungserheblichen Fragen zu
beantworten.
Auf die angeblichen methodischen Fehler des Gutachtens M 8 (Prof. Dr. J.)
kommt es nicht an: Die Planfeststellungsbehörde hat sich nicht an diesem Gut-
achten ausgerichtet; der Senat hat dies nicht beanstandet (BVerwG, Urteil vom
16. März 2006, a.a.O., Rn. 299). Auch die behaupteten methodischen Einwän-
de hinsichtlich der Ergebnisse der Fluglärmsynopse (Griefahn, Jansen,
Scheuch, Spreng, ZfL 2002, 171 ff.) sind nicht entscheidungserheblich: Der
Senat hat die lärmmedizinischen Einwände gegen die Ergebnisse dieser Syn-
opse, die insbesondere M. erhoben hat, gewürdigt und für nicht durchgreifend
erachtet (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O., Rn. 302 - 306); ob die me-
thodischen Einwände gegen die Synopse berechtigt sind, hat er - in anderem
Zusammenhang - offen gelassen (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006, a.a.O.,
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Rn. 312). Etwaige neue präventivmedizinische Erkenntnisse wären einer Pla-
nungs- und Zulassungsentscheidung in der Regel jedenfalls erst dann zugrunde
zu legen, wenn sie sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt und
allgemeine Anerkennung gefunden haben (BVerwG, Urteil vom 16. März 2006,
a.a.O., Rn. 307). Die von den Klägern behaupteten methodischen Bedenken
gegen die Fluglärmsynopse würden einen solchen neuen Stand der
Wissenschaft aber nicht aufzeigen, sondern könnten nur belegen, dass bisher
anerkannte wissenschaftliche Aussagen kritisch hinterfragt und kontrovers dis-
kutiert werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Gerichtsgebühr
ergibt sich unmittelbar aus Nr. 5400 KV GKG. Einer Streitwertfestsetzung be-
darf es nicht.
Dr. Paetow
Prof. Dr. Rojahn
Dr. Jannasch
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