Urteil des BVerwG vom 22.05.2014

Rechtliches Gehör, Vorprüfung, Rechtskraft, Grenzwert

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 A 1.14 (4 A 1.13)
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Mai 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Külpmann
beschlossen:
Die Anhörungsrüge der Beigeladenen gegen das Urteil
des Senats vom 17. Dezember 2013 - BVerwG 4 A 1.13 -
wird zurückgewiesen.
Die Gegenvorstellung wird verworfen.
Die Beigeladene trägt die Kosten dieses Verfahrens.
G r ü n d e :
Die Anhörungsrüge und die Gegenvorstellung bleiben ohne Erfolg.
I. Die Anhörungsrüge ist unbegründet. Der Senat hat den Anspruch der Beige-
ladenen auf rechtliches Gehör nicht in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Sie hat daher keinen Anspruch auf Fortführung des Verfahrens nach § 152a
Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Im gerichtlichen Verfahren gewährleisten Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2
VwGO den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung zu allen dafür er-
heblichen Fragen zu äußern. Das Gericht ist verpflichtet, rechtlich erhebliches
Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen.
Darüber hinaus muss es den Beteiligten Gelegenheit geben, zu allen aus seiner
Sicht entscheidungserheblichen Fragen Stellung zu nehmen. Es darf seine Ent-
scheidung nicht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt
stützen, mit dessen Erheblichkeit ein gewissenhafter und kundiger Prozessbe-
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teiligter nach dem Prozessverlauf nicht rechnen musste (stRspr, zusammenfas-
send Beschluss vom 12. März 2014 - BVerwG 8 C 8.13 - Rn. 3 m.w.N.).
1. Die Beigeladene meint, der Senat hätte sie darauf hinweisen müssen, dass
nach seiner Rechtsauffassung auch „Sachverhaltsentwicklungen zeitlich nach
einer erfolgten Vorprüfung eine UVP-Pflicht auslösen können“; da er dies nicht
getan habe, habe er eine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen.
Von dieser Rechtsauffassung ist der Senat indes nicht ausgegangen. Er hat als
maßgeblich den Zeitpunkt der erneuten UVP-Vorprüfung im Dezember 2010
angesehen (UA Rn. 39; vgl. auch den Schriftsatz der Beigeladenen vom 8. April
2013 im Verfahren BVerwG 4 A 1.13, S. 23, die von einer „erneute[n] Überprü-
fung“ spricht). Zu diesem Zeitpunkt waren die Berechnungen der Beigeladenen
zur voraussichtlichen Immissionsbelastung aus dem Mai 2010 bereits erstellt.
Der weitere Einwand, die Rechtsauffassung des Senats widerspreche dem Ur-
teil des 9. Senats vom 20. Dezember 2011 (BVerwG 9 A 31.10 - BVerwGE 141,
282 Rn. 29), führt nicht auf einen Gehörsverstoß.
2. Die Beigeladene sieht ihren Anspruch auf rechtliches Gehör ferner als ver-
letzt an, weil sie zu Sachverhaltsfragen nicht angehört worden sei. Dabei mag
offen bleiben, ob ihre Kritik an der Tatsachenwürdigung des Senats überhaupt
geeignet sein kann, einen Gehörsverstoß nach § 152a Abs. 2 Satz 6 VwGO
darzulegen. Jedenfalls liegt ein solcher Verstoß nicht vor.
a) Der Vortrag, dass entgegen Randnummer 4 des angegriffenen Urteils die am
24. Februar 2011 zugeleiteten Unterlagen Gegenstand der Beteiligung der Trä-
ger öffentlicher Belange gewesen seien, betrifft keinen entscheidungserhebli-
chen Umstand.
Dass darüber hinausgehend die Berechnung zu den zu erwartenden Immissio-
nen vom 31. Mai 2010 der Beklagten erstmals mit den Planfeststellungsunterla-
gen vom 24. Februar 2011 vorgelegt sein könnte, liegt nach der Aktenlage fern:
Ausweislich einer E-Mail der Beigeladenen vom 18. Januar 2008 führte diese
schon Anfang des Jahres 2008 eine Berechnung zur erwarteten Immissionsbe-
lastung eines Grundstücks in B. durch und setzte die Beklagte hiervon in
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Kenntnis. Ende Mai 2010 erstellte die Beigeladene die in Randnummer 39 des
Urteils angeführte Berechnung und legte kurz darauf - Ende Juli 2010 - der Be-
klagten Unterlagen zu einer Vorab-Prüfung vor. Der vorgelegte Ordner befindet
sich nicht bei den Akten, folgte aber - soweit aus einer Aufstellung der Beklag-
ten vom 28. September 2010 ersichtlich
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der Struktur der endgültig eingereich-
ten Unterlagen. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, dass die Berechnung aus En-
de Mai 2010 diesen Unterlagen nicht beigefügt gewesen sein könnte und die
Beigeladene stattdessen andere oder gar keine Unterlagen zu den zu erwar-
tenden elektromagnetischen Feldern vorgelegt haben könnte. Auch die Beige-
ladene macht dies im Schriftsatz vom 7. Mai 2014 nicht geltend, in dem sie sich
zu den „Unterlagen vom 27. Juni 2010“ äußert.
Es hätte der Beigeladenen offen gestanden, zu den der zeitlichen Abläufe in der
mündlichen Verhandlung weiter vorzutragen. Hierzu hatte sie ausreichend An-
lass. Denn in der mündlichen Verhandlung stand die Frage einer UVP-Pflicht
des Vorhabens nach dem Ergebnis der UVP-Vorprüfung mit Blick auf die zu
erwartenden Immissionen durch elektromagnetische Felder im Zentrum. Auch
das Urteil des 9. Senats vom 20. Dezember 2011 (a.a.O.), auf das sich die Bei-
geladenen glaubt stützen zu können, war zu diesem Zeitpunkt bekannt. Die
Beigeladene hat indes zu diesem Punkt nicht vorgetragen. Die Anhörungsrüge
dient aber nicht dem Schutz eines Beteiligten, der sich selbst rechtliches Gehör
nicht verschafft hat.
b) Die Beigeladene wendet ein, im Zeitpunkt der UVP-Vorprüfung am 8. Januar
2008 seien konkrete elektrische Feldstärken nicht bekannt gewesen und hätten
auch nicht bekannt sein können. Dieser Vortrag verkennt den vom Senat für
maßgeblich gehaltenen Zeitpunkt. Er steht auch im Widerspruch zur Aktenlage.
Danach hat die Beigeladene im Januar 2008 eine solche Berechnung für ein
Wohngrundstück durchgeführt. Der - zutreffende - Hinweis der Beigeladenen,
diese Berechnung sei mit einer E-Mail vom 18. Januar 2008 und damit nach
Abschluss der ersten UVP-Vorprüfung am 8. Januar 2008 versandt worden,
macht nicht im Ansatz plausibel, dass eine solche Berechnung nicht auch zehn
Tage zuvor hätte durchgeführt werden können.
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c) Die Beigeladene weist schließlich zutreffend darauf hin, dass es sich bei dem
Immissionsort mit einer Feldstärke von 3,8 kV/m nicht um eine Fläche handelt.
Etwas Anderes lässt sich aber dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen. Der
Senat hat aus dem prognostizierten Messwert der Sache nach geschlossen
(„damit“), dass sich die elektrische Feldstärke dem Grenzwert von 5,0 kV/m nä-
here und eine deutlich dem Grenzwert angenäherte Feldstärke absehbar auf
einer nicht unerheblichen Länge der Trasse Wohnbebauung betreffen werde
(Rn. 39). Die Beigeladenen hätte sich in der mündlichen Verhandlung rechtli-
ches Gehör verschaffen können, um geltend zu machen, dass die Immissions-
belastung auf den Wohngrundstücken von dem Ergebnis der vorliegenden Be-
rechnung wesentlich abweiche. Dies hat sie unterlassen. Auch mit ihrer Anhö-
rungsrüge macht sie dies nicht geltend; vielmehr beziffert sie selbst die elektri-
sche Feldstärke für ein Wohngrundstück in B. auf 3,3 kV/m.
II. Die Gegenvorstellung ist unzulässig, wäre aber auch unbegründet.
1. Die Gegenvorstellung ist nicht statthaft und damit unzulässig. Die Zulässig-
keit einer Gegenvorstellung erfordert jedenfalls, dass das Gericht nach der
maßgebenden gesetzlichen Regelung zu einer Abänderung seiner vorange-
gangenen Entscheidung befugt ist (BVerfG, Beschluss vom 25. November 2008
- 1 BvR 848/07 - BVerfGE 122, 190 <203>; BVerwG, Beschluss vom 3. Mai
2011 - BVerwG 6 KSt 1.11 - Buchholz 310 § 158 VwGO Nr. 13 Rn. 3). Daran
fehlt es hier: Das Urteil des Senats ist formell und materiell rechtskräftig. Mit der
Rechtskraft ist zwischen den Beteiligten eine Bindungswirkung eingetreten. Sie
schützt aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens davor, dass
die ergangene Entscheidung ohne Weiteres wieder in Frage gestellt werden
kann (Beschluss vom 3. Mai 2011 a.a.O.; vgl. auch Beschluss vom 5. August
2010 - BVerwG 2 C 30.10 - juris Rn. 8). Die Rechtskraft verhindert ferner im
öffentlichen Interesse, dass ein bereits entschiedener Streit immer wieder den
Gerichten unterbreitet wird (BVerfG, Beschluss vom 25. November 2008
a.a.O.). Der Senat ist daher gehindert, auf die Gegenvorstellung der Beigelade-
nen hin die Rechtskraft des Urteils ohne gesetzliche Grundlage zu überwinden.
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2. Abgesehen davon liegen auch nicht die Voraussetzungen vor, unter denen in
der Rechtsprechung die Zulässigkeit einer Gegenvorstellung gegen rechtskräf-
tige Entscheidungen erwogen wird. Dies soll in Betracht kommen, wenn eine
Entscheidung offensichtlich dem Gesetz widerspricht, grobes prozessuales Un-
recht enthält, wenn sie auf schwerwiegenden Grundrechtsverstößen beruht
oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (zusammenfassend Beschluss vom
3. Mai 2011 a.a.O. Rn. 5 m.w.N.). Hieran fehlt es.
a) Soweit die Beigeladene wegen einer behaupteten Abweichung von einer
Rechtsauffassung des 7. Senats in dem Beschluss vom 28. Februar 2013
(BVerwG 7 VR 13.12 - UPR 2013, 345 Rn. 16) ein Vorgehen nach § 11 Abs. 2
und 3 VwGO für erforderlich hält, hätte es ihr oblegen, ein solches Vorgehen in
der mündlichen Verhandlung anzuregen und so den nunmehr behaupteten Ver-
fahrensfehler zu verhindern (vgl. Beschluss vom 23. August 2006 - BVerwG 4 A
1075.04 - m.w.N.). Dies hat sie nicht getan, obwohl die zum damaligen Zeit-
punkt noch vorläufige Rechtsauffassung des Senats zum Begriff der erhebli-
chen nachteiligen Umweltauswirkungen im Sinne von § 3c Satz 1 UVPG in der
mündlichen Verhandlung erörtert worden ist. Für ein Vorgehen nach § 11
Abs. 2 und 3 VwGO bestand aber auch kein Anlass. Denn mit Wirkung zum
1. Juli 2013 war das Recht des Ausbaus von Energieleitungen mit Ausnahme
des durch Urteil vom 18. Juli 2013 abgeschlossenen Verfahrens BVerwG 7 A
4.12 (BVerwGE 147, 184) in die Zuständigkeit des 4. Senats übergegangen.
Der 7. Senat war damit nicht mehr mit der Frage befasst, welche Bedeutung die
Grenzwerte der 26. BImSchV für den Begriff der erheblichen nachteiligen Um-
weltauswirkungen nach § 3c Satz 1 UVPG bei planfeststellungspflichtigen Nie-
derfrequenzanlagen haben (vgl. Urteil vom 5. Juni 1986 - BVerwG 3 C 14.85 -
BVerwGE 74, 251 <254>).
b) Entgegen der Auffassung der Beigeladenen ist der Senat bei seiner Ent-
scheidung nicht von einer Rechtsauffassung des 9. Senats in dessen Urteil vom
20. Dezember 2011 (BVerwG 9 A 31.10 - BVerwGE 141, 282) abgewichen. Die
von der Beigeladenen als Beleg angeführten Darlegungen in Randnummer 38
tragen das angegriffene Urteil nicht (vgl. Rn. 39). Der Senat hat sich auch in
Randnummer 39 nicht in Widerspruch zur Rechtsauffassung des 9. Senats ge-
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setzt, wonach nachträglich gewonnene Erkenntnisse für die Tragfähigkeit des
Ergebnisses der Vorprüfung nicht maßgeblich sein können (Urteil vom 20. De-
zember 2011 a.a.O. Rn. 29). Denn die Prognose zu den erwartenden Immissio-
nen aus Mai 2010 lag im Zeitpunkt der erneuten UVP-Vorprüfung bereits vor.
Es handelte sich nicht um nachträglich gewonnene Erkenntnisse.
c) Für eine Verletzung der Berufsfreiheit der Beigeladenen aus Art. 12 Abs. 1
GG ist nichts ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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