Urteil des BVerwG vom 12.03.2015

Rückforderung, Treu Und Glauben, Stadt, Amt

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Lastenausgleichsrecht einschließlich der Schadenfeststellungen
Rechtsquelle/n:
LAG § 319 Abs. 2 Satz 2; § 349 Abs. 5 Satz 3 und 4
BFG § 4 Abs. 1 Satz 2; § 33 Abs. 2
Rückforderungsrundschreiben Tz. 5.2.1.1; Tz. 8.4.5; Tz. 12.1,
BGB § 166
Titelzeile:
Zurechnung von Kenntnissen zwischen Ausgleichsämtern bei
der Rückforderung von Lastenausgleich
Stichworte:
Lastenausgleich; Hauptentschädigung; Mietwohngrundstücksregelung;
Schadensausgleich; Rückforderung; Rückforderungsbescheid; Ausschlussfrist für
die Rückforderung; Fristbeginn; Zuständigkeit; zuständige Behörde;
Rückforderungsamt; Ausgleichsbehörde; Ermittlung der
Rückforderungsvoraussetzungen; aktive Befragung; einheitliches
Feststellungsamt; Kenntnis der Rückforderungsvoraussetzungen; fristauslösende
Kenntnis; positive Kenntnis; Wissenszurechnung; Zurechnung von Kenntnissen;
Funktionsnachfolge; Rückforderungsrundschreiben; allgemeine
Verwaltungsvorschrift; Präsident des Bundesausgleichsamtes; Pflicht zur
Weiterleitung von Informationen; versäumte Weiterleitung; Verkehrsschutz;
gesetzliche Mitwirkungspflicht; Schutzwirkung der Informationspflicht.
Leitsatz:
1. Kenntnisse, die ein Rückforderungsamt gelegentlich seiner Ermittlungen
erlangt, werden anderen Ausgleichsbehörden grundsätzlich nicht fristauslösend
zugerechnet.
2. Eine Zurechnung von Wissen kann ausnahmsweise bei aktiven Ermittlungen
eines unzuständigen Rückforderungsamtes in Betracht kommen, wenn der zur
Rückzahlung Verpflichtete in der Annahme, das Amt sei zuständig, seinerseits
alles getan hat, um seine Mitwirkungspflicht aus § 349 Abs. 5 Satz 3 LAG zu
erfüllen.
Urteil des 3. Senats vom 12. März 2015 - BVerwG 3 C 6.14
I. VG Hannover vom 10. April 2013
Az: VG 5 A 5027/10
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 6.14
VG 5 A 5027/10
Verkündet
am 12. März 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Dr. Wysk,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Hannover vom 10. April 2013 wird zurück-
gewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung von Hauptentschädigung
nach dem Lastenausgleichsgesetz (LAG).
Zugunsten der Klägerin und zweier weiterer Geschädigter war mit Bescheid
vom 29. April 1982 über die einheitliche Feststellung von Vermögensschäden
nach dem Beweissicherungs- und Feststellungsgesetz (BFG) ein Wegnahme-
schaden an zwei Mietwohngrundstücken in Magdeburg festgestellt worden.
Den Bescheid erteilte das Ausgleichsamt des Landkreises Hannover als ein-
heitliches Feststellungsamt (§ 33 Abs. 2 BFG). Weitere Geschädigte waren die
Schwester der Klägerin und eine Tante. Der Klägerin wurde durch das Aus-
gleichsamt der Stadt Hannover Hauptentschädigung zuerkannt, für die Zuer-
kennung von Hauptentschädigung an die beiden anderen Geschädigten blieb
das Ausgleichsamt des Landkreises zuständig. Dementsprechend wurden die
Schadensakten getrennt geführt. Nach der Auflösung des Landkreises im Jahre
2001 gingen die Akten zur Weiterbearbeitung auf das Ausgleichsamt der Stadt
Hannover über.
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Mitte 1992 nahm das Ausgleichsamt des Landkreises Ermittlungen auf, ob die
Geschädigten über die Mietwohngrundstücke wieder frei verfügen konnten. Es
wandte sich zunächst an die Schwester der verstorbenen Tante, sodann an
Frau Gunda F., eine nichteheliche Tochter des vorverstorbenen Ehemanns der
Tante, die diese beerbt hatte, sowie mit Schreiben vom 24. Januar 1995 auch
an die Klägerin. Diese äußerte sich nicht schriftlich, sondern sprach zu einem
nicht aufklärbaren Zeitpunkt beim Ausgleichsamt des Landkreises vor. Erkennt-
nisse über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gewann das Amt
von dem Verwalter der Grundstücke in Magdeburg und aus dem Erbschein, der
dem Ausgleichsamt im Juni 1995 zuging. Danach konnten die drei Miteigentü-
merinnen über ihre Grundstücke wieder frei verfügen. Entsprechend forderte
das Ausgleichsamt des Landkreises von den beiden Miteigentümerinnen, für
die es zuständig war, die ihnen gewährte bzw. zugeflossene Hauptentschädi-
gung mit Rückforderungs- und Leistungsbescheiden von 1995 zurück. Das
Ausgleichsamt der Stadt Hannover als für die Klägerin zuständiges Rückforde-
rungsamt wurde über die Erkenntnisse nicht informiert. Von dem bei der Kläge-
rin eingetretenen Schadensausgleich erfuhr es erst anlässlich einer Durchsicht
der Schadensakten des ehemaligen Ausgleichsamtes des Landkreises am
21. Juli 2008. Die Rückforderung der ihr gewährten Hauptentschädigung in Hö-
he von 6 387,05 € folgte mit Bescheid vom 22. Juli 2010, der mit Bescheid vom
1. September 2010 berichtigt wurde. Die vornehmlich auf Verjährung der Rück-
forderung gestützte Beschwerde wies die Beschwerdestelle für Lastenaus-
gleichssachen bei dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport
mit Bescheid vom 23. September 2010 zurück.
Das Verwaltungsgericht hat die Anfechtungsklage gegen den Rückforderungs-
und Leistungsbescheid abgewiesen und ausgeführt, die Klägerin könne über
ihren Miteigentumsanteil seit der Wiederherstellung der Deutschen Einheit frei
verfügen, der Rückforderungsbetrag sei zutreffend ermittelt. Die Rückforderung
sei auch nicht wegen Verstreichens der Rückforderungsfrist ausgeschlossen;
weder die vierjährige noch die zehnjährige Frist nach § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG
seien abgelaufen. Zwar habe das Ausgleichsamt des Landkreises Hannover
bereits 1995 vom Schadensausgleich erfahren. Zuständig für die Rückforde-
rung von der Klägerin sei jedoch das Ausgleichsamt der Stadt Hannover, das
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von den Verhältnissen erst am 21. Juli 2008 erfahren habe. Die frühere Kennt-
nis des Rückforderungsamtes des Landkreises müsse das Ausgleichsamt der
Stadt nicht gegen sich gelten lassen. Die Regelung in Tz. 8.4.5 des Rückforde-
rungsrundschreibens des Bundesausgleichsamtes, wonach die Rückforde-
rungsfrist in Fällen einer aktiven Befragung der Beteiligten durch ein einheitli-
ches Feststellungsamt in der Regel sämtlichen Beteiligten gegenüber zu laufen
beginne, wenn das Feststellungsamt die nötige Kenntnis erworben habe, greife
nicht ein. Es sei schon zweifelhaft, ob alle Beteiligten, wie es danach erforder-
lich sei, schriftlich befragt worden seien; jedenfalls fehle es an einer aktiven
Mitwirkung der Klägerin. Ihre Behauptung, den Schadensausgleich bei ihrer
persönlichen Vorsprache bei dem Ausgleichsamt des Landkreises bestätigt zu
haben, sei nicht erwiesen. Abgesehen davon fehle es an einer erfolgreichen
aktiven Befragung, weil eine der Rückzahlungsverpflichteten den Schadens-
ausgleich nicht bestätigt habe. Tz. 8.4.5 des Rückforderungsrundschreibens sei
aber nur dann einschlägig, wenn die Kenntnis sämtlicher Rückforderungsvo-
raussetzungen auf einer Mitwirkung der Betroffenen beruhe. Ohne Konsequen-
zen bleibe auch, dass die Erkenntnisse nicht an das Ausgleichsamt der Stadt
weitergeleitet worden seien. Zwar sehe das Rückforderungsrundschreiben eine
enge Zusammenarbeit der Ämter vor; hieraus folge aber nicht, dass Kenntnisse
eines Feststellungs- und Rückforderungsamtes einem anderen ohne Weiteres
zuzurechnen seien. Es habe sich auch nicht um auf der Hand liegende Er-
kenntnismöglichkeiten gehandelt. Die Ausschlussfrist sei daher erst am
1. Januar 2009 in Gang gesetzt worden, die maßgebliche Vierjahresfrist bei
Bescheiderlass 2010 noch nicht abgelaufen gewesen.
Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansicht weiter, die Rückforderungs-
frist sei verstrichen gewesen. Es sei dem Rückforderungsamt der Stadt zuzu-
rechnen, dass einem anderen Rückforderungsamt schon 1995 der Schadens-
ausgleich und die Rückzahlungspflichtigen bekannt gewesen seien. Für den
Fristbeginn genüge es, dass die nötigen Erkenntnisse bei irgendeiner Behörde
der Ausgleichsverwaltung vorhanden seien. Dafür spreche schon der Wortlaut
des § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG, der im Unterschied zu Satz 3 nicht von der "zu-
ständigen Ausgleichsbehörde", sondern nur von einer "Ausgleichsbehörde"
spreche. Dasselbe ergebe sich aus den Entscheidungen des Bundesverwal-
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tungsgerichts vom 18. Mai 2010 - 3 C 23.09 - und vom 28. September 2011
- 3 C 38.10 -. Ermittele ein einheitliches Feststellungsamt, werde dies von den
Befragten stets als das maßgebliche Amt wahrgenommen, denn die Betroffe-
nen müssten nicht damit rechnen, dass sich eine unzuständige Behörde an sie
wende. Das Verwaltungsgericht überspanne die Anforderungen an die aktive
Befragung nach dem Rückforderungsrundschreiben. Es müsse ausreichen,
wenn die Ausgleichsbehörde die für die Rückforderung nötigen Erkenntnisse
von einem der Rückzahlungspflichtigen erhalte, die Frist laufe dann auch für
alle anderen. Das bestätige der Präsident des Bundesausgleichsamtes in ei-
nem Schreiben vom 30. Juli 1998. Mehr als zehn Jahre nach der Rückforde-
rung von den anderen Miteigentümern habe sie, die Klägerin, auch nicht mehr
damit rechnen müssen, noch in Anspruch genommen zu werden. Jedenfalls
aber sei die vierjährige Frist im Jahre 2001 angelaufen, als die Schadensakten
auf das zuständige Rückforderungsamt übergegangen seien. Dadurch sei die-
ses Amt unmittelbar in den Besitz aller nötigen Kenntnisse gelangt.
Die Beklagte tritt dem Revisionsbegehren entgegen. Es komme allein auf die
Kenntnis des für die Klägerin zuständigen Ausgleichsamtes an. Die Kenntnis
des einheitlichen Feststellungsamtes könne diesem nicht zugerechnet werden,
weil es der Klägerin nicht als zuständiges Rückforderungsamt entgegengetreten
sei. Die Voraussetzungen der aktiven Befragung nach Tz. 8.4.5 des Rückforde-
rungsrundschreibens habe die Klägerin nicht nachgewiesen. Zudem habe sie
nicht annehmen können, ihrer gesetzlichen Mitwirkungspflicht nachgekommen
zu sein.
II
Die Revision ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage ohne Ver-
stoß gegen Bundesrecht abgewiesen und dabei die im Revisionsverfahren
zentrale Frage, ob die Rückforderung wegen Verstreichens der dafür geltenden
Frist ausgeschlossen ist, im Ergebnis zu Recht verneint.
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1. Nach § 349 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 342 Abs. 3 Satz 1 und 2 LAG sind die zu-
viel gewährten Ausgleichsleistungen zurückzufordern, wenn nach dem 31. De-
zember 1989 ein Schaden, für den Lastenausgleich gewährt worden ist, ganz
oder teilweise ausgeglichen wird. Der zugunsten der Klägerin und der weiteren
Geschädigten festgestellte Wegnahmeschaden an Mietwohngrundstücken in
Magdeburg war am 3. Oktober 1990 ausgeglichen. Die Anerkennung eines
Wegnahmeschadens beruhte darauf, dass die in der Bundesrepublik befindli-
chen Eigentümer keinen Zugriff auf ihr Grundvermögen hatten. Die tatsächliche
Unmöglichkeit, über ein im Schadensgebiet befindliches Wirtschaftsgut zu ver-
fügen, stand gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 BFG einer Wegnahme gleich. Diese La-
ge war infolge der Wiedervereinigung und der damit einhergehenden Wiederer-
langung der vollen Verfügungsmöglichkeit über diese Vermögenswerte besei-
tigt, der Wegnahmeschaden galt gemäß § 349 Abs. 3 Satz 2 LAG als in voller
Höhe ausgeglichen (zu dieser so genannten Mietwohngrundstücksregelung vgl.
auch Tz. 5.2.1.1 des Rückforderungsrundschreibens des Bundesausgleichsam-
tes i.d.F. vom 29. Januar 2013 sowie BVerwG, Beschluss vom 9. September
2004 - 3 B 42.04 - juris Rn. 6).
2. Die Rückforderung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Ausschlussfrist
des § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des
Rückforderungsbescheides abgelaufen gewesen wäre.
a) Die Frist beginnt nach § 349 Abs. 5 Satz 4 Halbs. 1 LAG nach dem Kalender-
jahr, in dem die Ausgleichsbehörde von dem Schadensausgleich und von der
Person des Verpflichteten Kenntnis erlangt hat. Fristauslösend ist die Kenntnis
der für die Rückforderung zuständigen Behörde, unerheblich, ob die Kenntnis
bei einer anderen Behörde der Ausgleichsverwaltung vorhanden ist. Dass es
allein auf die Kenntnis der zuständigen Rückforderungsbehörde ankommt,
ergibt sich deutlich aus dem Gesetz und erklärt sich aus den Notwendigkeiten
einer Massenverwaltung, die den gesamten Lastenausgleich rückabzuwickeln
hat und dabei auf Informationen Dritter und die Erkenntnisse und Ergebnisse
anderer Verwaltungsverfahren, die zum Schadensausgleich führen (vgl. etwa
§ 349 Abs. 3 Satz 4 und 5 LAG), angewiesen ist. Der Senat hat das wiederholt
klargestellt (BVerwG, Beschlüsse vom 9. September 2004 - 3 B 42.04 - juris
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Rn. 7 und vom 25. Juli 2007 - 3 B 4.07 - juris Rn. 6), aus den von der Klägerin
angeführten Entscheidungen ergibt sich nichts anderes. Hieran ist festzuhalten.
Wenn in Satz 3 von "der zuständigen Ausgleichsbehörde" die Rede ist, in
Satz 4 aber nur von der "Ausgleichsbehörde", bedeutet das keinen Unterschied,
sondern eine bloße sprachliche Verkürzung. Satz 4 spart ein Wort ein, das sich
aus dem Zusammenhang und dem Rückbezug auf Satz 3 von selbst versteht.
b) Örtlich zuständig für die Rückforderung war bereits 1995 das Ausgleichsamt
der Stadt Hannover, bei dem die Akten der Klägerin geführt wurden. Das ergibt
sich aus Tz. 12.1 des Rückforderungsrundschreibens, wonach die örtliche Zu-
ständigkeit des Rückforderungsamtes aus Gründen der Verwaltungsvereinfa-
chung "eingefroren“ ist. Für die Rückforderung in abgeschlossenen Gewäh-
rungsfällen ist das Ausgleichsamt zuständig, bei dem sich am 31. Juli 1992 die
Hauptentschädigung-Zuerkennungsakte befand. Mangels normativer Festle-
gung der Zuständigkeit war der Präsident des Bundesausgleichsamtes nach
Art. 120a Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. § 319 Abs. 2 Satz 2 LAG zu einer Bestim-
mung durch allgemeine Verwaltungsvorschrift im Sinne des Art. 85 Abs. 2 GG
ermächtigt.
c) Fristauslösend ist die positive Kenntnis von dem Schadensausgleich und von
der Person des Verpflichteten, gleichgültig, worauf sie beruht (BVerwG, Be-
schluss vom 4. Juni 2009 - 3 B 112.08 - ZOV 2009, 256 f.) und ob oder inwie-
weit sich die Ausgleichsbehörde um Kenntniserlangung bemüht hat (BVerwG,
Beschlüsse vom 19. August 2008 - 3 B 3.08 - Buchholz 427.3 § 349 LAG Nr. 18
Rn. 5 und vom 3. November 2009 - 3 B 41.09 - ZOV 2010, 31). Diese positive
Kenntnis hat das Ausgleichsamt der Stadt Hannover nach den bindenden Fest-
stellungen des Verwaltungsgerichts am 21. Juli 2008 erlangt, sodass die Vier-
jahresfrist am 1. Januar 2009 begonnen hatte und bei Bescheiderlass im Jahre
2010 nicht abgelaufen war.
d) Das zuständige Ausgleichsamt hat die fristauslösenden Kenntnisse nicht
schon im Jahr 2001 erlangt, als ihm die Akten des Ausgleichsamtes des Land-
kreises Hannover - nach dessen Auflösung - zur zuständigkeitsgemäßen Wei-
terbearbeitung zugeleitet wurden. In Fällen solcher Funktionsnachfolge von Äm-
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tern verschiedener Verwaltungsträger muss das nachfolgende Amt die Kenntnis
des Funktionsvorgängers von im Rechtsverkehr erheblichen Umständen nur
dann gegen sich gelten lassen, wenn dieser für die Verwaltungsaufgabe vor
dem Funktionswechsel zuständig war. Nur dann darf der Bürger darauf vertrau-
en, dass die Verwaltung das ihr zuständigkeitsgemäß vermittelte, typischer-
weise aktenmäßig festgehaltene Wissen so organisiert, dass es bis zum Ab-
schluss eines Verwaltungsverfahrens verfügbar bleibt und dass ihm durch sei-
nem Einfluss entzogene Umstrukturierungen keine Nachteile entstehen (vgl.
BGH, Urteil vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 - BGHZ 132, 30 <35 ff.>). Die-
se Erwägungen gelten nicht für Kenntnisse, die der Funktionsvorgänger nicht
als zuständige Behörde, sondern bei der Wahrnehmung anderer Verwaltungs-
aufgaben beiläufig gewonnen und in seinen Akten niedergelegt hat und die
nicht für seinen Zuständigkeitsbereich rechtserheblich waren. Unter solchen
Voraussetzungen fehlt es an der Kontinuität der Zuständigkeiten, die es recht-
fertigt, die einmal erworbene Kenntnis ungeachtet des Funktionswechsels als
fortbestehend zu betrachten. Der Bürger kann auch nicht ernstlich darauf ver-
trauen, dass aktenkundige Kenntnisse einer bisher unzuständigen Behörde, die
infolge eines - aus seiner Sicht zufälligen - Wechsels von Zuständigkeiten und
der damit verbundenen Aktenübernahme in den Bereich der zuständigen Be-
hörde gelangen, in dem Moment der Aktenübernahme als der neuen Behörde
bekannt gelten. Vielmehr bleibt es in solchen Fällen auch unter dem Gesichts-
punkt des Verkehrsschutzes bei dem Grundsatz, dass positive Kenntnis im Sin-
ne des § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG erst dann gegeben ist, wenn dem zuständigen
Ausgleichsamt der rechtserhebliche Sachverhalt tatsächlich bekannt ist. Ist die-
ser von einem unzuständigen Ausgleichsamt ermittelt worden, erlangt das zu-
ständige Amt bei einer durch Zuständigkeitswechsel veranlassten Aktenüber-
nahme erst in dem Zeitpunkt Kenntnis, in dem der mit der Sachbearbeitung be-
traute Bedienstete die rechtserheblichen Umstände den Akten entnimmt, hier
also am 21. Juli 2008.
3. Die Kenntnisse der Ausgleichsbehörde des Landeskreises aus dem Jahre
1995 muss die zuständige Ausgleichsbehörde auch nicht aus anderen Gründen
gegen sich gelten lassen. Für eine Zurechnung dieses Wissens an die zustän-
dige Ausgleichsbehörde fehlt eine Rechtsgrundlage.
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a) Die Rechtsgrundlage kann nicht in Tz. 8.4.5 des Rückforderungsrundschrei-
bens gesehen werden. Die Anwendung dieser Bestimmung würde zu einer ma-
teriellen Verkürzung von Rückforderungsansprüchen führen, weil die Aus-
gleichsverwaltung dadurch angehalten wird, von der Geltendmachung von An-
sprüchen abzusehen, die objektiv noch durchsetzbar sind. Zu einer derart an-
spruchsverkürzenden Regelung ist der Präsident des Bundesausgleichsamtes
nicht ermächtigt. Auch Art. 120a GG erlaubt ihm nicht, durch Verwaltungsvor-
schrift vom Gesetz abzuweichen oder ihm einen Inhalt zuzuschreiben, der sich
mit der objektiven Rechtslage als unvereinbar erweist (vgl. BVerwG, Urteil vom
12. Juli 2012 - 5 C 14.11 - BVerwGE 143, 314 Rn. 30; Beschluss vom
13. November 1987 - 3 B 14.87 - Buchholz 427.6 § 30 BFG Nr. 5 S. 2). Daher
kann Tz. 8.4.5 des Rückforderungsrundschreibens nur Bedeutung haben, so-
weit darin im Sinne einer norminterpretierenden Verwaltungsvorschrift rechts-
fehlerfrei erläutert wird, was sich für die geregelte Fallkonstellation aus Gesetz
und Recht ergibt. Nichts anderes gilt für das Rundschreiben des Präsidenten
des Bundesausgleichsamtes von 1998, auf das die Klägerin sich beruft.
b) Die Klägerin kann ihre Auffassung auch nicht auf die Grundsätze der Wis-
senszurechnung entsprechend § 166 BGB stützen, die allerdings auch im öf-
fentlichen Recht Geltung beanspruchen (vgl. dazu Schramm, in: MünchKomm-
BGB, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, § 166 Rn. 24 und Schilken, in: Staudinger, BGB,
§ 166 Rn. 40). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass zwi-
schen verschiedenen Behörden (desselben oder eines anderen Rechtsträgers)
im Grundsatz keine Zurechnung von Kenntnissen stattfindet. Aus Respekt vor
der behördlichen Zuständigkeitsordnung hat die Beurteilung behördlichen Han-
delns nur auf das bei der zuständigen Behörde vorhandene Wissen abzustel-
len. Für die mit einer Wissenszurechnung verbundene Durchbrechung von ge-
setzlichen Zuständigkeitsgrenzen bietet der Rechtsgedanke des § 166 BGB
allein keine Grundlage (stRspr; vgl. BGH, Urteile vom 4. Februar 1997 - VI ZR
306/95 - BGHZ 134, 343 <348>, vom 15. Dezember 2005 - IX ZR 227/04 -
NJW-RR 2006, 771 Rn. 13 und vom 30. Juni 2011 - IX ZR 155/08 - BGHZ 190,
201 Rn. 16 ff.; Beschluss vom 29. Juni 2006 - IX ZR 167/04 - juris Rn. 3; eben-
so BSG, Urteil vom 17. April 2008 - B 13 R 123/07 R - BSGE 100, 215 Rn. 20
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und VGH München, Beschluss vom 2. Mai 2013 - 4 ZB 12.1393 - BayVBl. 2014,
81 Rn. 10).
Zwar sind Ausnahmen anerkannt, nach denen in Anwendung vorrangiger
Rechtsgrundsätze eine Wissenszurechnung auch zwischen verschiedenen Be-
hörden geboten ist. So muss etwa eine Behörde, die eine andere mit der Erle-
digung ihrer Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, sich das Wis-
sen zurechnen lassen, das die ausführende Behörde in diesem Rahmen erlangt
(BGH, Beschluss vom 14. Februar 2013 - IX ZR 115/12 - MDR 2013, 620 Rn. 4;
Urteile vom 25. Juni 1996 - VI ZR 117/95 - BGHZ 133, 129 <138> und vom
4. Februar 1997- VI ZR 306/95 - BGHZ 134, 343 <347 f.>
.). Eine Zurechnung
kann auch aus Gründen des Verkehrsschutzes geboten sein, wenn etwa der
Beteiligte eines Verwaltungsverfahrens berechtigterweise darauf vertrauen darf,
dass das von einem Bediensteten erlangte Wissen in einer Verwaltungseinheit
übergreifend verfügbar ist. Die Risiken einer Wissensaufteilung hat derjenige zu
tragen, der sie veranlasst hat und durch zweckmäßige Organisation beherr-
schen kann (vgl. BGH, Urteil vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 - BGHZ 132,
30 <35 f., 38 f.).
Diese Erwägungen bieten aber im Fall der Klägerin keine taugliche Grundlage
für eine Zurechnung. Als Ansatzpunkte hierfür kommen nach den Feststellun-
gen des Verwaltungsgerichts nur der Schutz der Klägerin infolge der "aktiven
Befragung“ durch das Rückforderungsamt des Landkreises und dessen Ver-
säumnis in Betracht, maßgebliche Erkenntnisse weiterzuleiten. Die Klägerin
durfte jedoch nicht infolge der Ermittlungen des Landkreises annehmen, dass
die Ausschlussfrist nach § 349 Abs. 5 Satz 4 LAG auch ihr gegenüber schon im
Jahre 1995 ausgelöst worden ist. Es mag insofern einem Rückzahlungspflichti-
gen in Fällen der "aktiven Befragung“ im Sinne der Tz. 8.4.5 des Rückforde-
rungsrundschreibens nicht zum Nachteil gereichen, dass das befragende Amt
nicht für ihn zuständig ist. Den Befragten ist nicht abzuverlangen, die behördli-
che Zuständigkeitsordnung zu durchschauen, sodass es genügen kann, wenn
ein ehemals für die Schadensfeststellung zuständiges einheitliches Feststel-
lungsamt tätig wird und den objektiven Anschein einer für die Rückforderung
fortbestehenden Zuständigkeit nicht ausräumt. Zur Entstehung einer Vertrau-
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ensgrundlage muss der Rückzahlungspflichtige aber seinerseits alles getan
haben, um die Rückforderungsfrist, die für jeden Verpflichteten gesondert läuft,
in Gang zu setzen. Dazu muss er gegenüber dem um Informationen nachsu-
chenden (unzuständigen) Amt, wiewohl diesem gegenüber nicht anzeigepflich-
tig, seine Mitwirkungspflicht gemäß den Vorgaben des § 349 Abs. 5 Satz 3 LAG
einschränkungslos erfüllt und aus seiner Sicht die Voraussetzungen geschaffen
haben, damit der ihm gezahlte Lastenausgleich zurückgefordert werden kann.
Eine solche Erfüllung der Mitwirkungspflichten hat das Verwaltungsgericht für
die Klägerin nicht festgestellt. Es hat zwar angenommen, dass die Klägerin - zu
einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt - beim Ausgleichsamt des Landkreises
vorgesprochen hat; jedoch ist im Dunkeln geblieben, ob dies rechtzeitig ge-
schehen ist und sie dabei die ihre Person betreffenden Angaben gemacht hat.
Die Sachverhaltswürdigung des Verwaltungsgerichts hat die Klägerin im Revi-
sionsverfahren nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen, sie ist
daher für den Senat bindend (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Das Verwaltungsgericht ist im Ergebnis auch zutreffend davon ausgegangen,
dass der Klägerin nicht zugutekommt, dass der Landkreis das für die Klägerin
zuständige Rückforderungsamt nicht informiert hat. Zwar verstieß dieses Unter-
lassen gegen die ausdrückliche und die nachgeordneten Ämter bindende An-
weisung in Tz. 12.5 Satz 10 des Rückforderungsrundschreibens. Deshalb ist
die Klägerin aber nicht so zu behandeln, als sei das für sie zuständige Aus-
gleichsamt umgehend - nämlich noch im Jahr 1995 - in Kenntnis gesetzt wor-
den und die mangels Mitwirkung der Klägerin ausgelöste Zehnjahresfrist (§ 349
Abs. 5 Satz 4 Halbs. 2 LAG) am 31. Dezember 2005, also vor Erlass des ange-
fochtenen Bescheides abgelaufen. Veranlassung, die Klägerin nach Treu und
Glauben oder nach dem Grundgedanken des sozialrechtlichen Herstellungsan-
spruchs (dazu BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2011 - 3 C 36.10 - BVerwGE 140,
103 Rn. 22 f. so zu stellen, als hätte der Landkreis seine Informationspflicht er-
füllt, besteht nicht. Denn die Verpflichtung zur Informationsweiterleitung entfaltet
keine Schutzwirkung zugunsten von Rückzahlungspflichtigen; sie soll lediglich
im Interesse der Verwaltung sicherstellen, dass begründete Ansprüche recht-
zeitig geltend gemacht werden können.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Kley
Liebler
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
Rothfuß
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