Urteil des BVerwG vom 19.05.2005

Berechtigter, Enteignung, Erbengemeinschaft, Anteil

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 35.04
VG 1 A 179/01 HAL
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Mai 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht
van S c h e w i c k , Dr. D e t t e , L i e b l e r und Prof. Dr. R e n n e r t
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Halle vom 24. Mai 2004 geändert. Die Klage
wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
G r ü n d e :
I.
Die Beteiligten streiten um die Höhe der dem Kläger zu gewährenden Ausgleichsleis-
tung.
Eigentümer des 1946 auf besatzungshoheitlicher Grundlage entschädigungslos ent-
eigneten landwirtschaftlichen Gutes waren zum Zeitpunkt der Schädigung zu ¾ der
Kläger und zu ¼ seine Mutter als Erben des im Dezember 1945 verstorbenen Vaters
des Klägers. Die Mutter des Klägers verstarb 1976, der Kläger wurde ihr Alleinerbe.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 23. Juni 1998 stellte das Landesamt zur Rege-
lung offener Vermögensfragen Sachsen-Anhalt fest, dass dem Kläger dem Grunde
nach ein Anspruch auf Ausgleichsleistung zusteht.
Die Höhe der gekürzten Bemessungsgrundlage setzte der Beklagte mit Bescheid
vom 2. Juli 2001 auf 158 588,04 DM fest. Er ging dabei gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1 EntschG vom dreifachen des 1938 festgesetzten Einheitswertes abzüglich der
langfristigen Verbindlichkeiten aus, woraus sich eine Bemessungsgrundlage in Höhe
von 710 586,91 DM ergab. Die Kürzung nach § 7 Abs. 1 EntschG nahm der Beklagte
auf der Grundlage einer Gesamtschau gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG bezogen
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auf diesen Betrag vor. Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1
EntschG sei der Inhaber des vermögensrechtlichen Anspruchs am 29. September
1990 (Stichtagsberechtigter). Hier sei der Kläger zum Stichtag Inhaber zweier An-
sprüche gewesen, nämlich eines Anspruchs als unmittelbar Geschädigter und eines
Anspruchs aus dem von seiner Mutter ererbten Anteil. Wegen dieses Zusammentref-
fens zweier Ansprüche sei § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG anzuwenden, deshalb seien
die beiden Ansprüche zum Zwecke der Degression zusammenzurechnen.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht Halle mit Urteil vom
24. Mai 2004 den angefochtenen Bescheid teilweise aufgehoben und den Beklagten
verpflichtet, die gekürzte Bemessungsgrundlage für das enteignete Gut auf
194 470,38 DM festzusetzen. Zur Begründung führt das Verwaltungsgericht aus: Im
vorliegenden Fall habe eine Anteilsdegression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG zu
erfolgen. Zum Zeitpunkt der Enteignung im Februar 1946 sei der Vater des Klägers
bereits verstorben gewesen, geschädigt worden sei somit die aus dem Kläger und
seiner Mutter bestehende ungeteilte Erbengemeinschaft. Für die vom Beklagten vor-
genommene Gesamtschau sei kein Raum, da § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG Ansprüche
für mehrere Vermögenswerte voraussetze. Hier sei aber nur ein Vermögenswert,
nämlich das landwirtschaftliche Unternehmen enteignet worden. Dass sich nach dem
Tode seiner Mutter die Ansprüche der Erbengemeinschaft in der Person des Klägers
vereinigt hätten, ändere daran nichts.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner Revision. Zur Begründung
macht er geltend: Die Anwendbarkeit von § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG lasse sich nicht
damit verneinen, dass es sich nur um die Enteignung eines Vermögenswertes ge-
handelt habe. Vielmehr seien zwei Anteile an einem Gut und damit zwei Vermö-
genswerte zu entschädigen. Dem Gesetzeszusammenhang lasse sich entnehmen,
dass der Gesamtschau der Vorrang zukomme. Dahinter müsse § 7 Abs. 2 Satz 3
EntschG zurücktreten. Diese Vorschrift greife nur, wenn die seinerzeit Geschädigten
nunmehr auch Leistungsempfänger seien.
Der Kläger tritt der Revision entgegen.
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Verfahren. Er hält das Urteil des Verwaltungsgerichts für unzutreffend.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts,
im vorliegenden Fall habe keine Gesamtschau nach § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG zu
erfolgen, steht nicht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO).
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 AusglLeistG erhalten natürliche Personen, die Vermögens-
werte im Sinne des § 2 Abs. 2 VermG durch entschädigungslose Enteignungen auf
besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage in dem in Art. 3 des
Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) verloren haben, oder ihre Er-
ben oder weiteren Erben (Erbeserben) eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe die-
ses Gesetzes. Die Ausgleichsleistungen sind gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 AusglLeistG
- vorbehaltlich der hier nicht einschlägigen §§ 3 und 5 AusglLeistG - nach Maßgabe
der §§ 1 und 9 des Entschädigungsgesetzes zu erbringen. Sie werden gemäß § 2
Abs. 1 Satz 2 AusglLeistG, soweit das Ausgleichsleistungsgesetz nicht besondere
Regelungen enthält, nach den §§ 1 bis 8 des Entschädigungsgesetzes bemessen
und erfüllt.
Streitig ist hier, ob der Beklagte den nach § 2 Abs. 1 AusglLeistG i.V.m. § 2 Abs. 1
Nr. 4 EntschG von der Bemessungsgrundlage abzuziehenden Kürzungsbetrag nach
§ 7 EntschG zu Recht im Wege der sog. Gesamtschau nach § 7 Abs. 2 Satz 1
EntschG ermittelt hat oder ob - wie Kläger und Verwaltungsgericht meinen - statt-
dessen eine Anteilsdegression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG zu erfolgen hatte.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG ist, wenn ein Berechtigter Ansprüche auf Entschä-
digung oder auf Ausgleichsleistung für mehrere Vermögenswerte hat, Absatz 1 auf
deren Summe anzuwenden. Gemäß § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG ist, wenn ein Ver-
mögenswert zu entschädigen ist, der zum Zeitpunkt der Entziehung mehreren Be-
rechtigten zugestanden hat, Absatz 1 auf jeden Anteil gesondert anzuwenden.
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1. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts stand das auf besatzungsho-
heitlicher Grundlage entschädigungslos enteignete Gut zum Schädigungszeitpunkt
im Gesamthandseigentum des Klägers mit einem Anteil von ¾ sowie seiner Mutter
mit einem Anteil von ¼.
Somit liegt ein Fall des § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG vor. Wie der Senat mit Urteil vom
16. September 2004 (BVerwG 3 C 32.03 - Buchholz 428.41 § 7 EntschG Nr. 1) be-
reits entschieden hat, ist Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG derje-
nige, der durch die den Entschädigungsanspruch oder den Anspruch auf Ausgleichs-
leistung auslösende Maßnahme unmittelbar geschädigt wurde. Dies waren hier der
Kläger und seine Mutter in ungeteilter Erbengemeinschaft. Im damaligen Urteil hat
der Senat ebenfalls bereits geklärt, dass die Anteilsdegression nach § 7 Abs. 2
Satz 3 EntschG nicht voraussetzt, dass der unmittelbar Geschädigte auch noch zum
Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Vermögensgesetzes gelebt hat. Ebenso wenig
wie das Erfordernis einer solchen auf den 29. September 1990 bezogenen Stich-
tagsberechtigung in § 7 Abs. 2 EntschG eine Stütze findet, ergibt sich aus Wortlaut,
Systematik oder Sinn und Zweck der Regelung ein Anhalt dafür, dass eine Anteils-
degression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG nur dann möglich ist, wenn die seinerzeit
unmittelbar Geschädigten nunmehr auch Leistungsempfänger sind. Der Wortlaut von
§ 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG stellt ebenso wie die Gesetzesbegründung allein auf den
Zeitpunkt der Entziehung des Vermögenswertes ab. Eine Beschränkung der Anteils-
degression, die mit dem Abstellen auf den derzeitigen Leistungsempfänger noch
weiter ginge als das im Urteil vom 16. September 2004 bereits verworfene Erforder-
nis einer auf den 29. September 1990 bezogenen Stichtagsregelung, lässt sich der
gesetzlichen Regelung nicht entnehmen.
2. Lag damit - bezogen auf den Zeitpunkt der Schädigung - ein Fall der Anteilsde-
gression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG vor, ist, wenn - wie hier - Anteile unmittel-
bar Geschädigter und damit auch die entsprechenden Wiedergutmachungsansprü-
che später in der Person eines Leistungsberechtigten zusammenfallen, gleichwohl
- allein - § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG anzuwenden.
a) Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG ist der Inhaber der Wieder-
gutmachungsansprüche im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Entschädigungs- und
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Ausgleichsleistungsgesetzes am 1. Dezember 1994. Das hat der Senat mit Urteil
vom heutigen Tage - BVerwG 3 C 19.04 - entschieden; hierauf wird verwiesen.
Berechtigter im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG war demnach der Kläger zum
einen als unmittelbar geschädigter Miterbe und zum anderen als Alleinerbe nach
seiner 1976 verstorbenen Mutter, die ebenfalls durch die Enteignung unmittelbar ge-
b) Auch im Übrigen sind hier die Voraussetzungen der Gesamtschau nach § 7 Abs. 2
Satz 1 EntschG in der Person des Klägers erfüllt. Ihm standen am 1. Dezember 1994
zwei verschiedene Ansprüche zu.
Zwar sieht § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG eine Summierung der Ansprüche auf Wieder-
gutmachung zum Zwecke der Degression nach § 7 Abs. 1 EntschG nur vor, wenn ein
Berechtigter Ansprüche für mehrere Vermögenswerte hat. Im vorliegenden Fall stand
das enteignete Gut im Zeitpunkt der entschädigungslosen Enteignung im Ge-
samthandseigentum der aus dem Kläger und seiner Mutter bestehenden ungeteilten
Erbengemeinschaft. Bei dem sich aus dieser Enteignung ergebenden Wiedergutma-
chungsanspruch handelte es sich - bei einer rein zivilrechtlichen Betrachtung - um
einen Anspruch, der der Erbengemeinschaft zur gesamten Hand zustand. Insoweit
bliebe es auch bei nur einem Anspruch, wenn Anteile am von der Enteignung betrof-
fenen Grundstück bei einem der Anspruchsberechtigten zusammenfielen.
Doch wird im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsrecht durch § 7 Abs. 2 Satz 3
EntschG im Fall einer Anteilsdegression trotz einer gesamthänderischen Zuordnung
des geschädigten Vermögenswertes der gesamthänderische Verbund zum Zwecke
der Berechnung von Entschädigung und Ausgleichsleistung gerade aufgelöst (Urteil
vom 19. September 2004 - BVerwG 3 C 32.03 - Buchholz 428.41 § 7 EntschG Nr. 1).
Die Mitberechtigungen an dem einen Vermögenswert werden wie gesonderte Ver-
mögenswerte behandelt. Dies rechtfertigt es, im Falle eines späteren Zusammenfal-
lens solcher Mitberechtigungen in einer Person auch im Rahmen von § 7 Abs. 2
Satz 1 EntschG dieselbe Fiktion zugrunde zu legen. Wird damit in § 7 Abs. 2 Satz 3
EntschG ein in Gesamthandseigentum stehender Vermögenswert nach Anteilen ge-
trennt der Degression unterworfen, setzt sich diese Fiktion in der Weise fort, dass es
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sich bei einem späteren Zusammenfallen solcher Anteile um "Ansprüche für mehrere
Vermögenswerte" im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG handelt. Entsprechendes
gilt für die spätere Vereinigung mehrerer Anteile einer Bruchteilsgemeinschaft, die in
§ 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG ebenso behandelt wird.
Diese Wertung steht im Einklang mit Sinn und Zweck der Degressionsregelung. Den
Kürzungsregelungen in § 7 Abs. 1 und 2 EntschG liegt die Annahme des Gesetzge-
bers zugrunde, vermögende Personen könnten einen vergleichsweise höheren Soli-
darbeitrag leisten, der auch in der Kürzung ihres Entschädigungsanspruches beste-
hen könne. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass demjenigen, dem vergleichswei-
se viel zustehe, am ehesten eine Kürzung zugemutet werden könne (BTDrucks
12/4887 S. 36). Dies spricht dafür, in einem Fall wie hier die Gesamtschauregelung
und die damit verbundene stärkere Degression anzuwenden. Der Grund für die mit
der Anteilsdegression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG verbundene Privilegierung,
dass nämlich der durch den Eingriff Betroffene nur hinsichtlich seines Anteils unmit-
telbar geschädigt wurde, ist bei einem späteren Zusammenfallen mehrerer Anteile
und daraus resultierender Wiedergutmachungsansprüche in einer Person wieder
entfallen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Dette
Liebler Prof. Dr. Rennert
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf
18 346,35 € festgesetzt.
Prof. Dr. Driehaus Liebler Prof. Dr. Rennert
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AusglLeistG
§ 2 Abs. 1 Satz 2
§ 2 Abs. 1 Satz 3
EntschG
§ 7 Abs.1
§ 7 Abs. 2 Satz 1
§ 7 Abs. 2 Satz 3
Stichworte:
Höhe des Anspruchs; Anspruch; Kürzung; Kürzungsbetrag; Kürzungsbeträge; De-
gression; Anteilsdegression; Gesamtschau; Erbe; Erbengemeinschaft; Ge-
samthandsgemeinschaft; Bruchteilsgemeinschaft; Berechtigter; Geschädigter; unmit-
telbar Geschädigter; Stichtag; Stichtagsberechtigter; Stichtagsberechtigung.
Leitsätze:
Die Anteilsdegression im Sinne von § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG ist nicht nur in den
Fällen anzuwenden, in denen der unmittelbar Geschädigte auch derjenige ist, der die
Wiedergutmachungsleistung beansprucht (Fortführung des Urteils vom 16. Septem-
ber 2004 - BVerwG 3 C 32.03 - Buchholz 428.41 § 7 EntschG Nr. 1).
Liegt - bezogen auf den Zeitpunkt der Schädigung bis zum Stichtag am 1. Dezember
1994 - ein Fall der Anteilsdegression nach § 7 Abs. 2 Satz 3 EntschG vor und fallen
Anteile unmittelbar Geschädigter und damit die entsprechenden Wiedergutma-
chungsansprüche in der Person eines Leistungsberechtigten zusammen, ist eine
Gesamtschau nach § 7 Abs. 2 Satz 1 EntschG vorzunehmen.
Urteil des 3. Senats vom 19. Mai 2005 - BVerwG 3 C 35.04
I. VG Halle vom 24.05.2004 - Az.: VG 1 A 179/01 HAL -