Urteil des BVerwG vom 21.05.2008

Psychologisches Gutachten, Alkoholmissbrauch, Fahrrad, Entziehung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 32.07
Verkündet
VG 10 K 881/07
am 21. Mai 2008
Mitschke
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 21. Mai 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Dette, Liebler und
Prof. Dr. Rennert und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 14. Au-
gust 2007 wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.
Bei einer Polizeikontrolle wurde am 11. Februar 2005 gegen 01:25 Uhr festge-
stellt, dass der Kläger betrunken Fahrrad fuhr. Die Blutentnahme ergab eine
Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,09 Promille (BAK-Wert im Zeitpunkt
der Blutentnahme um 02:00 Uhr). Der Kläger wurde deswegen - und wegen
Beleidigung der ihn kontrollierenden Polizeibeamten - vom Amtsgericht Pots-
dam rechtskräftig nach §§ 185, 316 Abs. 1 und 2, § 52 StGB verurteilt. In den
beiden von der Beklagten angeforderten medizinisch-psychologischen Gutach-
ten wurde dem Kläger die Fähigkeit abgesprochen, zwischen Alkoholkonsum
und dem Führen von Kraftfahrzeugen hinreichend trennen zu können, da er
sein Trinkverhalten nicht stabil geändert habe. Daraufhin entzog die Beklagte
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dem Kläger mit Bescheid vom 13. Juli 2006 die Fahrerlaubnis zum Führen von
Kraftfahrzeugen der Klasse C1E, forderte ihn unter Fristsetzung zur Herausga-
be des Führerscheins auf, ordnete die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen
an und verband dies mit der Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall der
Nichtbeachtung. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Bescheid
vom 10. April 2007 zurück.
Die Vollziehung hat das Verwaltungsgericht Potsdam mit Beschluss vom
21. August 2006 ausgesetzt. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
hat diese Entscheidung mit Beschluss vom 13. März 2007 geändert und den
Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abgelehnt. Es hält
- anders als das Verwaltungsgericht - die Entziehung der Fahrerlaubnis auf der
Grundlage der medizinisch-psychologischen Gutachten für rechtmäßig.
Mit Urteil vom 14. August 2007 hat das Verwaltungsgericht Potsdam die ange-
fochtenen Bescheide aufgehoben. Zur Begründung wird ausgeführt: Da keine
Alkoholabhängigkeit belegt sei, stelle sich allein die Frage, ob beim Kläger ein
seine Kraftfahreignung ausschließender Alkoholmissbrauch vorliege. Nach
Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung (FeV) liege Alkoholmiss-
brauch vor, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen nicht hinreichend sicher von
einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum getrennt werden
könne. Der Verordnungsgeber nehme somit die Risiken aus einer beim Ver-
kehrsteilnehmer bestehenden Alkoholproblematik hin, solange er noch nicht mit
einem Kraftfahrzeug auffällig geworden sei. Das verbiete es, das Fehlen der
Kraftfahreignung allein mit dieser Alkoholproblematik zu begründen. Nr. 8.2 der
Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung knüpfe an einen Alkoholmissbrauch im
Sinne von Nr. 8.1 an, wenn dort für die (Wieder-)Annahme von Kraftfahreignung
eine gefestigte Änderung des Trinkverhaltens vorausgesetzt werde. Der Kläger
sei aber nicht mit einem Kraftfahrzeug, sondern nur mit einem Fahrrad ge-
fahren. Falle ihm damit kein Alkoholmissbrauch zur Last, könne von ihm auch
keine stabile Änderung seines Trinkverhaltens verlangt werden. § 13 Satz 1 Nr.
2 Buchst. c FeV bestätige diese Wertung. Zwar werfe danach auch die
Trunkenheitsfahrt mit einem anderen als einem Kraftfahrzeug Eignungszweifel
auf, die durch eine Begutachtung zu klären seien. Doch dürfe nicht von
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vornherein unterstellt werden, dass ein Fahrerlaubnisinhaber, der bei der Fahrt
mit einem Fahrrad nicht das notwendige Verantwortungsbewusstsein gezeigt
habe, dies auch mit einem Kraftfahrzeug tun werde. Eine vom Gutachter prog-
nostizierte „Rückfallgefahr“ könne nur die künftige Verkehrsteilnahme mit einem
Fahrrad betreffen. Danach sei das von der PIMA GmbH erstellte Gutachten
- ebenso wie das vorangegangene Gutachten der DEKRA - keine brauchbare
Grundlage dafür, dem Kläger das Trennungsvermögen nach Nr. 8.1 abzuspre-
chen. Bereits der Ansatz des Gutachtens, Alkoholmissbrauch sei insbesondere
dann anzunehmen, wenn es zu einem Verlust der Kontrolle über den Alkohol-
konsum gekommen sei, wovon bei einem Alkoholpegel von mehr als 1,6 Pro-
mille auszugehen sei, entspreche nicht den rechtlichen Vorgaben. Ebenso sei
die Folgerung unhaltbar, die Kraftfahreignung des Klägers könne nur dann be-
stätigt werden, wenn er sein Trinkverhalten ausreichend und stabil geändert
habe. Hierfür setze der Verordnungsgeber nämlich Alkoholmissbrauch im Sinne
von Nr. 8.1 voraus. An dieser Auffassung werde trotz der gegenläufigen Be-
schwerdeentscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg fest-
gehalten.
Zur Begründung ihrer Sprungrevision macht die Beklagte geltend: Aus der Sys-
tematik von § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV ergebe sich, dass das Führen jedes Fahr-
zeugs mit einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,6 Promille ein Alko-
holmissbrauch im Rechtssinne sei, da dessen Buchstabe e ergänzend auch zu
Buchstabe c die Fälle erfasse, in denen sonst zu klären sei, ob Alkoholmiss-
brauch nicht mehr bestehe. Habe ein Radfahrer mit 2,09 Promille am Straßen-
verkehr teilgenommen, zeige dies, dass er keine hinreichende Kontrolle über
seinen Alkoholkonsum habe. Deshalb müsse durch ein medizinisch-
psychologisches Gutachten geklärt werden, ob weiterhin die naheliegende Ge-
fahr bestehe, dass der Betroffene trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit ein
Kraftfahrzeug führen werde. Insbesondere müsse darauf eingegangen werden,
ob ein Wandel beim Umgang mit Alkohol eingetreten und die Änderung des
Trinkverhaltens hinreichend stabil sei. Zwischen den Nummern 8.1 und 8.2 der
Anlage 4 bestehe kein Stufenverhältnis, demzufolge nur dann ein „Missbrauch“
und damit ein Eignungsmangel vorliege, wenn ein Kraftfahrzeug in alkoholisier-
tem Zustand geführt worden sei. Daher könne auch dann eine Änderung des
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Trinkverhaltens verlangt werden, wenn der Betreffende nur durch eine Fahrrad-
fahrt mit mehr als 1,6 Promille auffällig geworden sei. Diesen Vorgaben werde
das medizinisch-psychologische Gutachten der PIMA GmbH gerecht. Der Gut-
achter habe nachvollziehbar dargelegt, dass der Kläger sich mit seiner Trun-
kenheitsfahrt noch nicht so selbstkritisch und problemorientiert auseinanderge-
setzt habe, dass eine Verhaltensänderung zu erwarten sei. Vom Kläger geäu-
ßerte gute Vorsätze und die Behauptung von Alkoholabstinenz könnten die er-
forderliche langfristige Änderung des Trinkverhaltens nicht ersetzen.
Der Kläger tritt der Revision entgegen und verteidigt das Urteil des Verwal-
tungsgerichts.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt
sich am Verfahren. Er trägt vor, berechtigten Zweifeln an der Kraftfahreignung
des Klägers stehe nicht entgegen, dass er bislang nur als Radfahrer auffällig
geworden sei.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts
steht nicht im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), soweit es
angenommen hat, die Beklagte habe auf der Grundlage der zum Kläger erstat-
teten medizinisch-psychologischen Gutachten nicht von dessen fehlender Eig-
nung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgehen können. Das führt zur Ände-
rung des angegriffenen Urteils und zur Abweisung der Klage.
1. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrer-
laubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als
ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2
FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den
Anlagen 4, 5 oder 6 zur Fahrerlaubnisverordnung vorliegen oder erheblich oder
wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen
wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausge-
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schlossen ist. Diese Voraussetzungen für einen Führerscheinentzug ergänzen
in negativer Hinsicht das Erfordernis der Kraftfahreignung nach § 2 Abs. 4
Satz 1 StVG; danach ist zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet, wer die
notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheb-
lich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafge-
setze verstoßen hat.
Ermächtigt § 46 Abs. 1 FeV zur Entziehung der Fahrerlaubnis somit erst, wenn
die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen ist, enthält
§ 46 Abs. 3 FeV im Vorfeld dieser Entscheidung und mit einer niedrigeren Ein-
griffsschwelle die Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur weiteren Aufklärung
des Bestehens dieser Eignung. Nach § 46 Abs. 3 FeV finden, wenn Tatsachen
bekannt werden, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaub-
nis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, die
§§ 11 bis 14 entsprechend Anwendung. Gemäß § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c
FeV ordnet die Fahrerlaubnisbehörde an, dass ein medizinisch-psychologisches
Gutachten beizubringen ist, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr mit einer
Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt wurde. § 13 Satz 1
Nr. 2 Buchst. c FeV setzt nach seinem klaren Wortlaut nicht das Führen eines
Kraftfahrzeuges, sondern lediglich eines Fahrzeugs unter erheblichem Alkohol-
einfluss voraus. Daraus ergibt sich zugleich, dass nach der Wertung des
Verordnungsgebers ein Verhalten wie das des Klägers Bedenken an seiner Eig-
nung zum Führen von Kraftfahrzeugen rechtfertigt (vgl. BRDrucks 443/98
schluss> S. 6).
2. Auch wenn der Kläger wegen seiner Trunkenheitsfahrt rechtskräftig nach
§ 316 StGB verurteilt wurde, sind damit noch nicht die Voraussetzungen des
§ 46 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 FeV für die Entziehung seiner Fahrerlaubnis erfüllt.
Das ergibt sich aus dem systematischen Verhältnis dieser Regelung zu § 46
Abs. 3 und § 13 FeV. Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV ist eine solche
- beim Kläger bislang nur einmal festgestellte - Trunkenheitsfahrt mit einer Blut-
alkoholkonzentration von mehr als 1,6 Promille zunächst nur Anlass für die Ein-
holung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zur Vorbereitung der
Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde. Dies ist allerdings auch bei einer
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Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad der Fall. Erst diese Begutachtung ergibt, ob
ein die Kraftfahreignung ausschließender Alkoholmissbrauch nach Nr. 8.1 und
8.2 oder gar Alkoholabhängigkeit im Sinne von Nr. 8.3 der Anlage 4 zur Fahrer-
laubnisverordnung vorliegt.
3. Doch war die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 46 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1
FeV i.V.m. Nr. 8.1 und 8.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung gerecht-
fertigt. Die Beklagte konnte auf der Grundlage des Gutachtens der PIMA GmbH
davon ausgehen, dass der Kläger zum hierfür maßgeblichen Zeitpunkt des Er-
lasses des Widerspruchsbescheids (vgl. dazu u.a. Urteile vom 27. September
1995 - BVerwG 11 C 34.94 - BVerwGE 99, 249 <250> und vom 5. Juli 2001
- BVerwG 3 C 13.01 - Buchholz 442.16 § 15b StVZO Nr. 29
= NJW 2002, 78
m.w.N.) nicht hinreichend sicher zwischen dem Führen von Kraftfahrzeugen
und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum trennen konn-
te.
a) In Nr. 8 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung werden Alkoholmiss-
brauch und Alkoholabhängigkeit als die Fahreignung ausschließende Krankhei-
ten und Mängel benannt. Alkoholmissbrauch ist nach Nr. 8.1 dann anzuneh-
men, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beein-
trächtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann.
Aus Nr. 8.2 ergibt sich, dass Eignung und bedingte Eignung nach Beendigung
des Missbrauchs wieder bejaht werden können, wenn die Änderung des Trink-
verhaltens gefestigt ist.
Die der Fahrerlaubnisbehörde in diesem Zusammenhang obliegende Beurtei-
lung der Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ist eine Prognose. Die auf
§ 3 Abs. 1 StVG und § 46 Abs. 1 FeV gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis
dient nicht - repressiv - der Ahndung vorangegangener Verkehrsverstöße, son-
dern der Abwehr von Gefahren, die künftig durch die Teilnahme von nicht zum
Führen von Kraftfahrzeugen geeigneten Fahrern am Straßenverkehr entstehen
können. Deshalb ist die in Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung
enthaltene Definition (vgl. BRDrucks 443/98 S. 260) sinngemäß dahingehend
zu ergänzen, dass Alkoholmissbrauch vorliegt, wenn zu erwarten ist, dass das
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Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Al-
koholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden kann. Dieser Blickwinkel
ist auch dem medizinisch-psychologischen Gutachten zugrunde zu legen, das
nach § 13 FeV beizubringen ist. Das bestätigen die in der Anlage 15 zur Fahr-
erlaubnisverordnung enthaltenen Grundsätze für die Durchführung der Unter-
suchungen und die Erstellung der Gutachten. Deren Buchstabe f hat speziell
die Fälle der §§ 13 und 14 FeV zum Gegenstand, also die Klärung von Eig-
nungszweifeln bei einer Alkoholproblematik oder bei der Einnahme von Betäu-
bungs- und Arzneimitteln. Nach dessen Satz 1 ist Gegenstand der Untersu-
chung auch das voraussichtliche künftige Verhalten des Betroffenen, insbeson-
dere ob zu erwarten ist, dass er nicht oder nicht mehr ein Kraftfahrzeug unter
Einfluss von Alkohol oder Betäubungsmitteln/Arzneimitteln führen wird. Das in
der Vergangenheit liegende Verhalten ist lediglich der Grund dafür, weshalb die
Kraftfahreignung kritisch zu überprüfen ist. Eine negative Prognose setzt, wie
der in Satz 1 von Buchstabe f als erstes genannte Fall belegt („dass er nicht ein
Kraftfahrzeug unter Einfluss von Alkohol führen wird“), keineswegs voraus, dass
es auch in der Vergangenheit bereits zu einer Trunkenheitsfahrt gerade mit
einem Kraftfahrzeug gekommen ist. Eine solche Annahme rechtfertigt auch
Satz 5 nicht, wonach zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis Bedingun-
gen vorliegen müssen, die zukünftig einen „Rückfall“ als unwahrscheinlich er-
scheinen lassen. Dieser Satz erfasst erkennbar nur einen Ausschnitt möglicher
Fallgestaltungen, wie bereits aus der Bezeichnung des maßgeblichen Zeit-
punkts deutlich wird. Dies hat das Verwaltungsgericht nicht hinreichend berück-
sichtigt, wenn es darauf abstellt, dass eine Rückfallgefahr hier nur die künftige
Verkehrsteilnahme mit einem Fahrrad betreffen könne.
b) Nach der Wertung des Verordnungsgebers begründet, wie § 13 Satz 1
Buchst. c FeV zweifelsfrei zu entnehmen ist, auch die Trunkenheitsfahrt mit
einem Fahrrad bei Vorliegen eines Blutalkoholgehalts von mindestens 1,6 Pro-
mille Zweifel an der Kraftfahreignung des Betroffenen. Dies beruht darauf, dass
nach dem aktuellen Stand der Alkoholforschung eine Blutalkoholkonzentration
ab 1,6 Promille auf deutlich normabweichende Trinkgewohnheiten und eine
ungewöhnliche Giftfestigkeit hindeutet (vgl. BRDrucks 443/98
S. 6).
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Dass mit einer entsprechenden Alkoholgewöhnung ein erhöhtes Gefährdungs-
potenzial einhergeht, bestätigen auch die Begutachtungs-Leitlinien zur Kraft-
fahreignung, die als Niederschlag sachverständiger Erfahrung von Gewicht sind
(vgl. Urteil vom 27. September 1995 - BVerwG 11 C 34.94 - a.a.O. S. 252). In
ihrer Nr. 3.11 befassen sich diese Leitlinien mit Alkoholmissbrauch und
-abhängigkeit als Mängeln, die die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen
ausschließen. Danach ist die Annahme eines chronischen Alkoholkonsums mit
besonderer Gewöhnung und Verlust der kritischen Einschätzung des Verkehrs-
risikos gerechtfertigt, wenn bei Kraftfahrern im Straßenverkehr Werte um oder
über 1,5 Promille angetroffen werden. Bei solchen Menschen pflege in der Re-
gel ein Alkoholproblem vorzuliegen, das die Gefahr weiterer Alkoholauffälligkeit
im Straßenverkehr in sich berge. Häufiger Alkoholkonsum führe zur Gewöh-
nung an die Giftwirkung und damit zur Unfähigkeit einer realistischen Einschät-
zung der eigenen Alkoholisierung und des dadurch ausgelösten Verkehrsrisi-
kos. Wegen der durch die allgemeine Verfügbarkeit von Alkohol begünstigten
hohen Rückfallgefahr seien strenge Maßstäbe anzulegen, bevor eine positive
Prognose zum Führen von Kraftfahrzeugen gestellt werden könne. Vorausset-
zung sei eine ausreichende Veränderung des Trinkverhaltens, die stabil und
motivational gefestigt sein müsse. Diesen Erkenntnissen tragen die Nr. 8.1 und
8.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverordnung Rechnung.
Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht anerkannt, dass ein stark
alkoholisiert angetroffener Fahrradfahrer zur Beibringung eines medizinisch-
psychologischen Gutachtens verpflichtet werden kann. Bei einem Fahrerlaub-
nisinhaber, der sich mit hoher Blutalkoholkonzentration am Straßenverkehr
beteilige und damit eine Verkehrsstraftat nach § 316 StGB begehe, sei in der
Regel bei vernünftiger lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis be-
gründet, er werde in alkoholisiertem Zustand nicht stets die nötige Selbstkon-
trolle aufbringen, vom Führen eines Kraftfahrzeuges abzusehen. Die Teilnahme
am Straßenverkehr in erheblich alkoholisiertem Zustand lasse häufig den
Schluss zu, dass der Betreffende auch künftig, und zwar auch mit einem Kraft-
fahrzeug, betrunken am Straßenverkehr teilnehmen könnte (Beschluss vom
24. Januar 1989 - BVerwG 7 B 9.89 - Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 85; Urteil
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vom 27. September 1995 - BVerwG 11 C 34.94 - a.a.O. S. 253; Beschluss vom
9. September 1996 - BVerwG 11 B 61.96 - juris).
Dabei ist zu beachten, dass die Teilnahme am Straßenverkehr unter erhebli-
cher Alkoholisierung mit jedem Fahrzeug eine Gefahr für die Sicherheit des
Straßenverkehrs bedeutet. Diese Einschätzung liegt auch § 316 StGB zugrun-
de, der nicht nur die Trunkenheitsfahrt mit einem Kraftfahrzeug unter Strafe
stellt. Insbesondere wenn der Betreffende eine solche Gefährdung in der Ver-
gangenheit bereits verursacht hat, muss sichergestellt werden, dass er das Ri-
siko für die Verkehrssicherheit nicht noch dadurch erhöht, dass er in der Zu-
kunft möglicherweise sogar ein Kraftfahrzeug in alkoholisiertem Zustand fährt.
c) Ausgehend hiervon ist die Eignung für das Führen von Kraftfahrzeugen we-
gen Alkoholmissbrauchs zu verneinen, wenn nach der zurückliegenden Trun-
kenheitsfahrt mit einem Fahrrad und ihren Begleitumständen sowie dem bishe-
rigen und zu erwartenden Umgang des Betroffenen mit Alkohol die Gefahr be-
steht, dass er künftig auch ein Kraftfahrzeug unter unzulässigem Alkoholein-
fluss führen wird. Dies ist nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnisverord-
nung dann anzunehmen, wenn er zwischen dem Führen von Kraftfahrzeugen
und einem die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholgenuss nicht hinrei-
chend sicher trennen kann. Wird beim Betroffenen ein chronisch überhöhter
Alkoholkonsum und eine damit einhergehende Alkoholgewöhnung und die Un-
fähigkeit zu einer realistischen Einschätzung des eigenen Alkoholpegels sowie
der daraus bei einer Teilnahme am Straßenverkehr drohenden Gefahren fest-
gestellt, setzt die Bejahung der Kraftfahreignung regelmäßig eine gefestigte
Änderung des Trinkverhaltens voraus. Dies ist Nr. 8.2 der Anlage 4 zur Fahrer-
laubnisverordnung zu entnehmen, die auf die Beendigung des (Alkohol-)
Missbrauchs und damit auf das Entfallen der sich aus dem mangelnden Tren-
nungsvermögen ergebenden Gefahren abstellt. Sie setzt hierfür eine gefestigte
Änderung des Trinkverhaltens voraus.
Diesen Fragen ist in dem medizinisch-psychologischen Gutachten nachzuge-
hen, das nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV einzuholen ist. Dabei sind die
Umstände der in der Vergangenheit bereits zu verzeichnenden Trunkenheits-
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fahrt, das Trinkverhalten des Betroffenen anhand seiner Vorgeschichte und
Entwicklung sowie sein Persönlichkeitsbild unter dem Blickwinkel näher aufzu-
klären und zu bewerten, ob für die Zukunft auch die Gefahr einer Trunkenheits-
fahrt mit einem Kraftfahrzeug besteht. Insoweit kommt es darauf an, ob die
Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad Ausdruck eines Kontrollverlustes war, der
genauso gut zu einer Verkehrsteilnahme mit einem Kraftfahrzeug führen kann.
Ist danach vom Betroffenen eine Änderung seines Trinkverhaltens zu fordern,
muss diese hinreichend stabil sein, damit die Eignung zum Führen von Kraft-
fahrzeugen bejaht werden kann. Dies setzt unter anderem ein angemessenes
Problembewusstsein und eine hinreichende Integration der Änderung in das
Gesamtverhalten voraus. Der Änderungsprozess muss vom Betroffenen nach-
vollziehbar aufgezeigt werden (vgl. auch Nr. 3.11.1 Buchst. b der Begutach-
tungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung).
Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Verordnungsgeber nehme unter-
halb der Schwelle der Alkoholabhängigkeit die Risiken für den Straßenverkehr
ausdrücklich hin, die allein auf einer Alkoholproblematik eines bislang nicht mit
einem Kraftfahrzeug auffällig gewordenen Kraftfahrers beruhen, findet in der
Fahrerlaubnisverordnung keine Stütze, wie schon § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c
FeV zu entnehmen ist. Freilich genügt, wie diese Regelung ebenfalls zeigt, ein
in der Vergangenheit festgestellter Alkoholpegel von 1,6 Promille oder mehr
allein noch nicht dazu, um automatisch die Kraftfahreignung zu verneinen.
4. Danach trägt das von der PIMA GmbH erstellte medizinisch-psychologische
Gutachten die Annahme der Beklagten, dass der Kläger zum maßgeblichen
Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids wegen künftig zu befürch-
tendem Alkoholmissbrauch im Sinne von Nr. 8.1 und 8.2 der Anlage 4 zur
Fahrerlaubnisverordnung ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen war.
a) Es unterliegt uneingeschränkt der Nachprüfung im Revisionsverfahren, ob
die Vorinstanz zu Recht den Einwand erhoben hat, ein Sachverständigengut-
achten habe den zutreffenden rechtlichen Ansatzpunkt verfehlt oder für die Be-
urteilung der Kraftfahreignung wesentliche Fragen unbeachtet gelassen. Ergibt
diese revisionsgerichtliche Überprüfung, dass das Tatsachengericht seinerseits
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den zugrunde zu legenden rechtlichen Maßstab verkannt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO) und ein Sachverständigengutachten deshalb unter einem unzutreffen-
den Blickwinkel gewürdigt und danach zu Unrecht für untauglich gehalten hat,
kann das Revisionsgericht nun selbst, ausgehend vom richtigen rechtlichen
Maßstab, eine Würdigung dieses Gutachtens vornehmen, wenn es - wie hier -
vollständig vorliegt und weitere Tatsachenermittlungen nicht erforderlich sind
(vgl. u.a. Urteil vom 12. Dezember 2001 - BVerwG 8 C 17.01 - BVerwGE 115,
302 <309> m.w.N.).
b) Im vorliegenden Fall erweisen sich - wie bereits gezeigt - die rechtliche Prä-
misse und damit der Haupteinwand des Verwaltungsgerichts als unzutreffend,
das annimmt, die Bejahung der Kraftfahreignung des Klägers könne nicht von
einer stabilen Änderung seines Trinkverhaltens abhängig gemacht werden, da
es bislang nur zu einer Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad gekommen sei. Da-
mit ist aber auch dem daraus vom Verwaltungsgericht hergeleiteten Schluss,
die Gutachten seien nicht verwertbar, die Grundlage entzogen.
Ebenso wenig ist der im verwaltungsgerichtlichen Urteil erhobene Vorwurf ge-
rechtfertigt, im Gutachten der PIMA GmbH seien die charakterlichen Einstel-
lungen des Klägers, wie sie insbesondere vor dem Hintergrund der individuellen
Verkehrsvorgeschichte abzuleiten seien, nicht hinterfragt und ausgewertet wor-
den. Das medizinisch-psychologische Gutachten enthält hierzu die erforderli-
chen Feststellungen und Wertungen. Bei der etwa 50minütigen psychologi-
schen Exploration des Klägers durch den von der PIMA GmbH eingesetzten
Diplom-Psychologen ging es gerade um Fragen seines bisherigen Trinkverhal-
tens, dessen Gründe und Umfang, die Einstellung des Klägers hierzu und um
die Motivation für die vom Kläger behauptete Verhaltensänderung. Es wurde
auch gezielt danach gefragt, wie es zur Trunkenheitsfahrt am 11. Februar 2005
gekommen war. Bei der Auswertung der Angaben des Klägers konnte der Gut-
achter allerdings - trotz intensiver Nachfragen - nicht nachvollziehen, durch wel-
che persönlichen Gründe die beim Kläger problematische Alkoholbeziehung
entstehen konnte, ebenso wenig konnte er eine hinreichend realistische und
kritische Selbsteinschätzung erkennen. Der Gutachter vermisste eine nachvoll-
ziehbare Auseinandersetzung des Klägers mit seiner Alkoholbeziehung und den
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persönlichen Faktoren für deren Entstehung und Aufrechterhaltung und damit
eine Gewähr für die Stabilität der vom Kläger behaupteten Verhaltensänderung.
Nach all dem sah der Gutachter die aus dem früheren Trinkverhalten begründ-
baren erhöhten Risiken nicht als nachhaltig reduziert an; dabei war er sich be-
wusst, dass Anlass für die Zweifel nicht die Trunkenheitsfahrt mit einem
Kraftfahrzeug, sondern mit einem Fahrrad gewesen war.
Ebenfalls zu Unrecht hält das Verwaltungsgericht das Gutachten für untauglich,
weil die Sachverständigen der Frage nicht nachgegangen seien, ob der Kläger
bewusst ein Fahrrad benutzt habe, um eine Trunkenheitsfahrt mit einem Kraft-
fahrzeug zu vermeiden. Inwieweit der Gesichtspunkt einer Vermeidungsstrate-
gie vom Grundsatz her tragfähig ist, kann offenbleiben. Selbst wenn dem zuzu-
stimmen wäre, könnte daraus jedenfalls für den vorliegenden Fall kein Defizit
des Gutachtens hergeleitet werden, das dessen Verwertung entgegensteht. Der
Kläger war nach seinen eigenen Angaben nämlich zu Fuß zu der Feier ge-
gangen, bei der er in der Folge den kritischen Alkoholpegel erreichte. Damit
stellt sich die Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad aber nicht als mögliches Ent-
lastungselement und Ausfluss einer Strategie zur Vermeidung der Fahrt mit
einem Kraftfahrzeug dar, sondern weckt zusätzliche Zweifel, ob der Kläger,
selbst wenn er in nüchternem Zustand einen entsprechenden Vorsatz gehabt
hat, auch unter Alkoholeinfluss vom Führen eines Fahrzeuges absehen wird. In
diesem Sinn hat auch das DEKRA-Gutachten das Verhalten des Klägers ge-
würdigt.
Auch ansonsten ist das von der Beklagten herangezogene medizinisch-
psychologische Gutachten nicht zu beanstanden. Insbesondere ist kein Verstoß
gegen die in der Anlage 15 zur Fahrerlaubnisverordnung aufgestellten Grund-
sätze für die Durchführung der Untersuchungen und die Erstellung der Gutach-
ten ersichtlich. Die Wertungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen
sind ohne Weiteres nachvollziehbar. Sie können, nachdem weitere tatsächliche
Feststellungen nicht getroffen werden müssen, der revisionsgerichtlichen Ent-
scheidung zugrunde gelegt werden.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Kley
Dr. Dette
Liebler
Prof. Dr. Rennert
Dr. Bumke
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Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Straßenverkehrsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
StVG
§ 3 Abs. 1
FeV
§ 13 Satz 1 Nr. 2
§ 46 Abs. 1 und 3
Stichworte:
Alkohol; Alkoholmissbrauch; Alkoholauffälligkeit; Alkoholproblematik; Alkohol-
gewöhnung; Alkoholkonsum; Blutalkoholgehalt; Promille; Trunkenheit; Trink-
verhalten; Straßenverkehr; Fahrrad; Radfahrer; Trunkenheitsfahrt mit einem
Fahrrad; Kraftfahreignung; Fahrerlaubnisverordnung; Fahruntüchtigkeit; Eig-
nung; Eignungsmangel; Entziehung der Fahrerlaubnis; Führerschein; Führer-
scheinentzug; Prognose; medizinisch-psychologisches Gutachten; Trennungs-
vermögen; stabile Änderung des Trinkverhaltens.
Leitsatz:
Hat ein Fahrerlaubnisinhaber als Radfahrer mit einem Blutalkoholgehalt von 1,6
Promille oder mehr am Straßenverkehr teilgenommen, darf ihm die Fahrerlaub-
nis entzogen werden, wenn zu erwarten ist, dass er künftig auch ein Kraftfahr-
zeug in fahruntüchtigem Zustand führen wird. Bei chronisch überhöhtem Alko-
holkonsum und damit einhergehender Unfähigkeit zu einer realistischen Ein-
schätzung der bei einer Teilnahme am Straßenverkehr drohenden Gefahren
setzt die Bejahung der Kraftfahreignung regelmäßig eine stabile Änderung des
Trinkverhaltens voraus.
Urteil des 3. Senats vom 21. Mai 2008 - BVerwG 3 C 32.07
I. VG Potsdam vom 14.08.2007 - Az.: VG 10 K 881/07 -