Urteil des BVerwG vom 28.06.2012

Bekämpfung des Terrorismus, Strafverfahren, Innerstaatliches Recht, Psychologisches Gutachten

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 30.11
OVG 10 A 11241/10
Verkündet
am 28. Juni 2012
Harnisch
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Buchheister, Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
für Recht erkannt:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz
vom 13. Mai 2011 wird geändert.
Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungs- und des Revi-
sionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Aberkennung des Rechts, von einer in der
Tschechischen Republik erworbenen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch
zu machen.
Der Kläger, der bereits zuvor mehrfach unter anderem wegen Trunkenheitsfahr-
ten und Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt worden war, verlor im September
2004 durch Strafurteil seine deutsche Fahrerlaubnis wegen zweier Trunken-
heitsfahrten mit einer Blutalkoholkonzentration von jeweils über 2 Promille so-
wie Unfallflucht; zugleich wurde eine Wiedererteilungssperre von 18 Monaten
festgesetzt. Im April 2008 erwarb er eine tschechische Fahrerlaubnis der Klas-
se B; im Führerschein ist ein Wohnsitz in Tschechien eingetragen.
Im August 2009 beantragte der Kläger in Deutschland eine Fahrerlaubnis der
Klassen A, CE und BE. Der Beklagte gab ihm wegen der vorausgegangenen
Fahrerlaubnisentziehung auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur
Frage vorzulegen, ob zu erwarten sei, dass er auch künftig ein Kraftfahrzeug
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unter Alkoholeinfluss führen oder erhebliche Verkehrsverstöße begehen werde.
Der Kläger legte ein vom 7. Oktober 2009 datierendes Gutachten vor, in dem
diese Fragen bejaht werden; beim Kläger bestehe Alkoholabhängigkeit, eine
nach 2004 liegende Entwöhnungsbehandlung und eine einjährige Abstinenz
habe er nicht, wie in solchen Fällen erforderlich, nachgewiesen.
Der Kläger geriet in den Verdacht, am 3. Oktober 2009 erneut unter Alkoholein-
fluss gefahren zu sein und Unfallflucht begangen zu haben; eine Blutprobe er-
gab eine Blutalkoholkonzentration von 1,97 Promille. Der Kläger wurde vom
Strafgericht mit Urteil vom 7. Juli 2010 jedoch freigesprochen; zur Begründung
heißt es, die dem Kläger zur Last gelegten Straftaten seien aus tatsächlichen
Gründen nicht festgestellt worden.
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 18. November 2009 fest, dass die tsche-
chische Fahrerlaubnis den Kläger nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen in
Deutschland berechtige; zugleich lehnte er die beantragte Fahrerlaubnisertei-
lung ab. Mit Bescheid vom 30. November 2009 änderte der Beklagte die Fest-
stellung des Fehlens der Fahrberechtigung dahin ab, dass dem Kläger seine
tschechische Fahrerlaubnis wegen mangelnder Eignung zum Führen von Kraft-
fahrzeugen entzogen werde; der Eignungsmangel ergebe sich aus dem Gut-
achten vom 7. Oktober 2009. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Wider-
spruchsbescheid vom 19. April 2010 zurückgewiesen. Wegen der vom Kläger
beantragten Erteilung einer deutschen Fahrerlaubnis sei von ihm die Vorlage
eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu fordern gewesen. Es habe
ergeben, dass ihm wegen Alkoholabhängigkeit die Eignung zum Führen von
Kraftfahrzeugen fehle. Durch das Gutachten seien neue Tatsachen bekannt
geworden, die ein Einschreiten auch nach Maßgabe des unionsrechtlichen An-
erkennungsgrundsatzes rechtfertigten. Der Vorfall vom 3. Oktober 2009 habe
die vom Kläger behauptete Abstinenz widerlegt.
Der Antrag des Klägers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes blieb oh-
ne Erfolg. Er gab am 8. Dezember 2009 seine tschechische Fahrerlaubnis beim
Beklagten ab.
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Seine Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 5. Oktober 2010 abge-
wiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat diese Entscheidung geändert und die
angegriffenen Bescheide aufgehoben. Die Fahrerlaubnisentziehung verstoße
gegen den Anerkennungsgrundsatz nach der hier anwendbaren 3. EU-
Führerscheinrichtlinie. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts-
hofs setze die Entziehung der ausländischen Fahrerlaubnis ein nach deren Er-
teilung liegendes Verhalten oder nachträgliche Umstände voraus. Es genüge
nicht, wenn nachträglich ein negatives Fahreignungsgutachten erstellt und vom
Betroffenen vorgelegt werde. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts, wonach die Verwertbarkeit eines vorgelegten Fahreignungsgutachtens
nicht von der Rechtmäßigkeit der Beibringungsanordnung abhänge, könne nicht
auf den europarechtlichen Anerkennungsgrundsatz übertragen werden. Das
ergebe sich aus dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom
2. Dezember 2010 in der Rechtssache C-334/09, Scheffler; dort werde für die
Verwertbarkeit eines solchen Gutachtens verlangt, dass es sich nicht aus-
schließlich auf Umstände beziehe, die vor dem Zeitpunkt der Fahrerlaubniser-
teilung im Ausland lägen. So sei es aber bei den Umständen, auf die die Alko-
holabhängigkeit des Klägers zurückgeführt werde. Das Fehlen der Vorausset-
zungen für eine Wiederherstellung seiner Fahreignung - das Absolvieren einer
Entwöhnungsbehandlung und der Nachweis einer einjährigen Alkoholabsti-
nenz -, betreffe zwar zum Teil auch die Zeit nach der Erteilung der tschechi-
schen Fahrerlaubnis; es handele sich aber nicht um ein nachträgliches Verhal-
ten oder um einen nachträglich eingetretenen Umstand. Einer Verwertung des
Vorfalls vom 3. Oktober 2009 stehe zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten
Behördenentscheidung § 3 Abs. 3 StVG entgegen. Das gegen den Kläger ein-
geleitete Strafverfahren habe erst mit dem rechtskräftigen Urteil vom 7. Juli
2010 geendet.
Zur Begründung seiner Revision macht der Beklagte geltend: Das Berufungsge-
richt habe den Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 2. Dezember
2010 fehlinterpretiert. Ein nachträgliches Verhalten des Klägers im Sinne dieser
Rechtsprechung sei hier in der Beantragung einer deutschen Fahrerlaubnis zu
sehen. Dieser Antrag habe zur Erstellung des medizinisch-psychologischen
Gutachtens geführt, aus dem sich seine mangelnde Kraftfahreignung ergebe.
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Mit dem Schutz der anderen Verkehrsteilnehmer, den die EU-Führerschein-
richtlinie sicherstellen wolle, sei es unvereinbar, wenn die Fahrerlaubnisbehörde
abwarten müsse, bis sich das gutachtlich festgestellte Risiko realisiere und
möglicherweise irreparable Schäden einträten. Der Kläger sei am 3. Oktober
2009 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,97 Promille angetroffen worden.
Bei einem solchen Wert sei davon auszugehen, dass es sich nicht um einen
einmaligen Rückfall handle; vielmehr sei von einer nicht lückenlosen Abstinenz
auszugehen. § 3 Abs. 3 StVG hindere nicht daran, diesen Vorfall zu berücksich-
tigen. Nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung gelte das erstma-
lige Erreichen bzw. Überschreiten von 1,6 Promille auch ohne aktive Teilnahme
am Straßenverkehr als Beleg für einen gesundheitsschädigenden bzw. miss-
bräuchlichen Umgang mit Alkohol. Da der Betroffene nach einer Alkoholabhän-
gigkeit strikte Abstinenz wahren müsse, sei der Rückfall des Klägers unabhän-
gig vom Ausgang des Strafverfahrens für die Beurteilung seiner Kraftfahreig-
nung erheblich.
Der Kläger tritt der Revision entgegen.
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Aufhebung der angefochtenen Bescheide (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Vo-
raussetzungen für eine Aberkennung des Rechts des Klägers, von seiner in der
Tschechischen Republik erworbenen Fahrerlaubnis der Klasse B in Deutsch-
land Gebrauch zu machen, sind erfüllt. Der Aberkennungsentscheidung des
Beklagten steht weder der unionsrechtliche Anerkennungsgrundsatz noch
- anders als das Berufungsgericht meint - das Berücksichtigungsverbot des § 3
Abs. 3 StVG entgegen. Das Berufungsurteil verstößt insoweit gegen Bundes-
recht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
1. Maßgeblich für die Rechtmäßigkeit der Aberkennung ist die Sach- und
Rechtslage zum Zeitpunkt der angefochtenen Verfügungen (stRspr; vgl. u.a.
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BVerwG, Urteil vom 28. April 2010 - BVerwG 3 C 2.10 - BVerwGE 137, 10 <11>
m.w.N.), hier also des Widerspruchsbescheids vom 19. April 2010.
Zugrunde zu legen sind danach das Straßenverkehrsgesetz - StVG - in der
Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl I S. 310, ber. S. 919),
hier zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung des Beschlus-
ses des Rates 2008/615/JI vom 23. Juni 2008 zur Vertiefung der grenzüber-
schreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus
und der grenzüberschreitenden Kriminalität (EGBes615/2008UmsG) vom
31. Juli 2009 (BGBl I S. 2507), und die Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV - vom
18. August 1998 (BGBl I S. 2214), hier zuletzt geändert durch die Sechsund-
vierzigste Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
vom 5. August 2009 (BGBl I S. 2631).
Offenbleiben kann, ob sich der unionsrechtliche Maßstab - wie das Berufungs-
gericht angenommen hat - aus der 3. EU-Führerscheinrichtlinie, der Richtlinie
2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember
2006 über den Führerschein (ABl EU L Nr. 403 S. 18), hier zuletzt geändert
durch die Richtlinie 2009/113/EG der Kommission vom 25. August 2009
(ABl EU L Nr. 223 S. 31), ergibt, oder ob noch die 2. EU-Führerscheinrichtlinie,
die Richtlinie des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein 91/439/EWG
(ABl EG L Nr. 237 S. 1), zugrunde zu legen ist, die im hier maßgeblichen Zeit-
punkt zuletzt durch die Richtlinie 2009/112/EG der Kommission vom 25. August
2009 (ABl EU L Nr. 223 S. 26) geändert wurde.
Der erkennende Senat geht in Übereinstimmung mit der überwiegenden Auf-
fassung der Instanzgerichte und dem deutschen Verordnungsgeber bislang da-
von aus, dass die 3. EU-Führerscheinrichtlinie, soweit es um die Anerkennung
oder die Entziehung einer ausländischen EU-/EWR-Fahrerlaubnis geht, nur auf
solche Fahrerlaubnisse Anwendung findet, die ab dem 19. Januar 2009 im
EU-/EWR-Ausland erteilt worden sind (vgl. zuletzt Urteil vom 25. August 2011
- BVerwG 3 C 25.10 - BVerwGE 140, 256 Rn. 12; ebenso bereits Urteil vom
28. April 2010 a.a.O. Rn. 11). Er entnimmt das Art. 18 der Richtlinie
2006/126/EG, wonach Art. 2 Abs. 1 sowie Art. 11 Abs. 1 und 3 bis 6 mit den
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Regelungen über den Entzug, die Ersetzung und die Anerkennung von Führer-
scheinen ab dem 19. Januar 2009 gelten, in Verbindung mit dem
5. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, wonach vor dem Beginn der Anwendung
dieser Richtlinie erworbene Fahrerlaubnisse unberührt bleiben sollen. Das legt
den Schluss nahe, dass die 3. EU-Führerscheinrichtlinie keine Geltung für vor
dem 19. Januar 2009 erworbene Fahrerlaubnisse beansprucht (vgl. Urteil vom
25. August 2011 a.a.O. Rn. 12). Diese Sichtweise hat den Vorzug, dass sich die
Erteilungsvoraussetzungen, für die der Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaub-
nis maßgeblich ist, und von deren Erfüllung wiederum die Reichweite der den
Aufnahmemitgliedstaat treffenden Anerkennungspflicht abhängt, nach demsel-
ben unionsrechtlichen Maßstab beurteilen, ungeachtet dessen, ob der Aufnah-
memitgliedstaat diese Fahrerlaubnis vor oder nach dem 19. Januar 2009 ent-
zieht. Demgegenüber nimmt der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 1. März
2012 - Rs. C-467/10, Baris Akyüz - (NJW 2012, 1341 <1342> Rn. 31 ff.) an,
dass Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG seit dem
19. Januar 2009 unabhängig davon anwendbar seien, ob der Führerschein
ausgestellt wurde, bevor die genannten Vorschriften anwendbar wurden. Des-
halb sei diese Richtlinie in Bezug auf eine Fahrt anwendbar, die der Betroffene
mit dieser Fahrerlaubnis nach dem 19. Januar 2009 durchgeführt hat (a.a.O.
Rn. 33), auch wenn sie bereits am 24. November 2008 ausgestellt worden war.
Zugleich stellt der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 1. März 2012
aber fest, dass die von ihm zur 2. EU-Führerscheinrichtlinie entwickelten Grund-
sätze auf die 3. EU-Führerscheinrichtlinie zu übertragen seien (a.a.O.
Rn. 60 ff.). Damit gelten zwar auch unter der neuen Richtlinie die strengen Vor-
gaben des unionsrechtlichen Anerkennungsgrundsatzes (a.a.O. Rn. 40 ff.),
doch ist der Aufnahmemitgliedstaat auch unter der Geltung der 3. EU-
Führerscheinrichtlinie etwa dann zur Nichtanerkennung der ausländischen
Fahrerlaubnis berechtigt, wenn sie unter einem im Sinne der Entscheidungen
vom 26. Juni 2008 (EuGH, Rs. C-329/06 u. C-343/06, Wiedemann und Funk -
Slg. 2008, I-4635, Rs. C-334/06 u.a., Zerche u.a. - Slg. 2008, I-4691) offensicht-
lichen Verstoß gegen das unionsrechtliche Wohnsitzerfordernis erteilt wurde
(a.a.O. Rn. 64 ff.). Im daran anschließenden Urteil vom 26. April 2012
- Rs. C-419/10, Hofmann -, bei dem ebenfalls die 3. EU-Führerscheinrichtlinie
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zur Anwendung kam, unterstreicht der Europäische Gerichtshof erneut die
Übertragbarkeit seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. insbesondere Rn. 47
und Rn. 65); konkret angesprochen werden dort das unionsrechtliche Erforder-
nis eines ordentlichen Wohnsitzes im Ausstellermitgliedstaat und die Fälle eines
offensichtlichen Verstoßes dagegen sowie die Fälle, in denen die ausländische
EU-/EWR-Fahrerlaubnis während einer noch laufenden Sperrfrist erteilt wurde.
Im Hinblick darauf kann davon ausgegangen werden, dass die Grundsätze aus
dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofs vom 2. Dezember 2010
- Rs. C-334/09, Scheffler (NJW 2011, 587), der noch zur Richtlinie 91/439/EWG
ergangen ist, ebenfalls auf die 3. EU-Führerscheinrichtlinie anwendbar sind.
Der Europäische Gerichtshof hat dort entschieden, dass die Fahrerlaubnisbe-
hörde des Aufnahmemitgliedstaates ein nach Erteilung der ausländischen
EU-/EWR-Fahrerlaubnis erstattetes und ihr vom Betroffenen vorgelegtes Fahr-
eignungsgutachten dann zu dessen Lasten verwerten darf, wenn es jedenfalls
einen partiellen Bezug zu einem nach der Ausstellung dieses Führerscheins
festgestellten Verhalten des Betroffenen hat und sich nicht ausschließlich auf
vor diesem Zeitpunkt liegende Umstände bezieht (a.a.O. Rn. 75 ff.). Damit ist
die Fahrerlaubnisbehörde des Aufnahmemitgliedstaates auch unter der Geltung
der 3. EU-Führerscheinrichtlinie grundsätzlich berechtigt, dem Inhaber einer
ausländischen EU-/EWR-Fahrerlaubnis bei einem entsprechenden nachträgli-
chen Verhalten oder nachträglichen Umständen das Recht zum Gebrauchma-
chen von dieser Fahrerlaubnis im Inland abzuerkennen, so wie es der Europäi-
sche Gerichtshof bereits in unter die 2. EU-Führerscheinrichtlinie zu subsumie-
renden Fällen gebilligt hatte; die entsprechende Regelung befindet sich nun in
Art. 11 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2006/126/EG.
Das kann den genannten Urteilen mit der gebotenen Eindeutigkeit („acte clair“)
entnommen werden. Im Urteil vom 26. April 2012 heißt es (a.a.O. Rn. 65): „Da-
zu ist indessen festzustellen, dass der Unterschied im Wortlaut von Art. 8
Abs. 4 der Richtlinie 91/439 und Art. 11 der Richtlinie 2006/126 nicht geeignet
ist, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Voraussetzungen
in Frage zu stellen, unter denen die Anerkennung eines Führerscheins aufgrund
der Bestimmungen der Richtlinie 91/439 abgelehnt werden konnte und nun-
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mehr aufgrund der Bestimmungen der Richtlinie 2006/126 abgelehnt werden
muss.“ Einer (weiteren) Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bedarf es
deshalb nicht.
2. Die Voraussetzungen von § 3 Abs. 1 StVG sowie § 46 Abs. 1 und 5 FeV für
die Aberkennung des Rechts des Klägers, von seiner in der Tschechischen Re-
publik erworbenen Fahrerlaubnis der Klasse B in Deutschland Gebrauch zu
machen, liegen vor. Die Fahrerlaubnisbehörde durfte das ihr vom Kläger vorge-
legte medizinisch-psychologische Gutachten nach dem deutschen Fahrerlaub-
nisrecht auch verwerten.
a) Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahr-
erlaubnisbehörde dem Inhaber einer Fahrerlaubnis, der sich als ungeeignet
zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das
gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder
Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt
gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und
dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. Bei
einer ausländischen Fahrerlaubnis hat die Entziehung, wie sich aus § 3 Abs. 1
Satz 2 StVG und § 46 Abs. 5 FeV ergibt, die Wirkung einer Aberkennung des
Rechts, von dieser Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen; das Recht
zum Führen von Fahrerlaubnissen im Inland erlischt.
Dem vom Kläger der Fahrerlaubnisbehörde vorgelegten medizinisch-psycho-
logischen Gutachten ist zu entnehmen, dass er zum maßgeblichen Zeitpunkt
der letzten Behördenentscheidung nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen ge-
eignet war. Die Gutachter gelangen zu dem Ergebnis, dass der Kläger auch
zukünftig ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde; es müsse damit
gerechnet werden, dass er auch künftig erheblich gegen strafrechtliche Be-
stimmungen verstoßen werde. Aufgrund der Verkehrsvorgeschichte, die von
zahlreichen Trunkenheitsfahrten und damit zusammenhängenden Verkehrs-
straftaten gekennzeichnet sei, und der eigenen Angaben des Klägers müsse
davon ausgegangen werden, dass bei ihm eine Alkoholabhängigkeit bestehe.
Den Nachweis der Überwindung des Suchtverhaltens, eine nachgewiesene ein-
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jährige Abstinenz nach Abschluss einer Entgiftungs- und Entwöhnungsbehand-
lung, habe er nicht erbracht (vgl. S. 17 ff. des medizinisch-psychologischen Gut-
achtens). Damit liegt beim Kläger Alkoholabhängigkeit im Sinne von Nr. 8.3 der
Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung vor. Nach Nr. 8.4 setzt die Wiederher-
stellung der Eignung in Fällen von Alkoholabhängigkeit voraus, dass nach einer
Entwöhnungsbehandlung die Abhängigkeit nicht mehr besteht und in der Regel
ein Jahr Abstinenz nachgewiesen ist.
b) Das deutsche Fahrerlaubnisrecht erlaubt - für sich genommen - die Verwer-
tung dieses Gutachtens und eine darauf gestützte Fahrerlaubnisentziehung.
Wegen des vom Kläger gestellten Antrags auf Erteilung einer weitergehenden
deutschen Fahrerlaubnis durfte der Beklagte von ihm zur Vorbereitung der Ent-
scheidung über diesen Antrag gemäß § 13 FeV die Vorlage eines medizinisch-
psychologischen Gutachtens verlangen. Außerdem sind gemäß § 46 Abs. 3
FeV im Hinblick auf eine mögliche Fahrerlaubnisentziehung die §§ 11 bis 14
entsprechend anzuwenden, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken
begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahr-
zeuges ungeeignet oder bedingt geeignet ist. Hier lagen wegen der Trunken-
heitsfahrten des Klägers und der deshalb erfolgten Fahrerlaubnisentziehung die
Voraussetzungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b bis d FeV vor; dabei konnte
jedenfalls auf die im Verkehrszentralregister noch nicht getilgte Verurteilung aus
dem Jahr 2004 zurückgegriffen werden.
Abgesehen davon kommt es nach dem deutschen Fahrerlaubnisrecht auf die
Rechtmäßigkeit der Gutachtensanforderung nicht an, wenn der Betroffene - wie
hier der Kläger - der Fahrerlaubnisbehörde dieses Gutachten jedenfalls vorge-
legt hat. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass nach innerstaatlichem Recht
ein solches Gutachten verwertbar ist (stRspr; vgl. zuletzt Urteil vom 28. April
2010 a.a.O. Rn. 19 m.w.N.); das gilt unabhängig davon, ob eine formelle be-
hördliche Anforderung oder aber - wie hier - eine entsprechende Vereinbarung
mit dem Betroffenen erfolgt ist.
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c) „Überspielt" werden kann damit freilich nur eine möglicherweise rechtswidrige
Gutachtensanforderung (a.a.O. Rn. 27). Nur darum ging es auch im Urteil des
erkennenden Senats vom 28. April 2010, wo darüber hinaus dargelegt wird,
dass und weshalb auch das Unionsrecht insofern die Verwertung eines solchen
Gutachtens nicht hindert (a.a.O. Rn. 29 ff.). Anders liegt der Fall, wenn das der
Fahrerlaubnisbehörde vorgelegte Gutachten ausschließlich auf Erkenntnissen
aufbaut, die nach dem unionsrechtlichen Anerkennungsgrundsatz in der Ausle-
gung, die er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs gefunden
hat, für eine Aberkennung durch den Aufnahmemitgliedstaat nicht ausreichen.
Im damaligen Fall stand das nicht in Rede; vielmehr beruhte die Feststellung
der Nichteignung des Fahrerlaubnisinhabers im dort vorgelegten Gutachten
auch auf Erkenntnissen, die die Zeit nach der Erteilung der ausländischen Fahr-
erlaubnis betrafen (a.a.O. Rn. 26).
3. Die Aberkennung des Rechts des Klägers, von seiner tschechischen Fahr-
erlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen, verstößt nicht gegen den in der
2. und in der 3. EU-Führerscheinrichtlinie enthaltenen Grundsatz, dass die in
einem anderen Mitgliedstaat erteilte EU-/EWR-Fahrerlaubnis anzuerkennen ist.
Die Voraussetzungen für eine Ausnahme von diesem Grundsatz, die der Euro-
päische Gerichtshof nach wie vor nur unter engen Voraussetzungen zulässt, lie-
gen im Fall des Klägers vor.
a) Das folgt allerdings nicht allein aus dem medizinisch-psychologischen Gut-
achten, das der Kläger der Fahrerlaubnisbehörde vorgelegt hat. Denn das setzt,
wie der Europäische Gerichtshof in der bereits erwähnten Rechtssache Scheff-
ler klargestellt hat, voraus, dass in dem Gutachten die Annahme fehlender
Fahreignung zumindest auch auf ein nach der Erteilung der ausländischen EU-
Fahrerlaubnis liegendes Verhalten des Betroffenen oder nachträgliche Umstän-
de gestützt wird.
aa) Ein solches nachträgliches Verhalten sieht der Beklagte zu Unrecht bereits
darin, dass der Kläger nach dem Erwerb der tschechischen Fahrerlaubnis in
Deutschland zusätzlich eine Fahrerlaubnis der Klassen A, BE und CE beantragt
hat. Die mangelnde Eignung des Klägers ergibt sich erst aus dem von ihm vor-
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gelegten medizinisch-psychologischen Gutachten. Es kommt daher auf den
Inhalt dieses Gutachtens an, und zwar insbesondere darauf, ob die dort für die
Feststellung der Nichteignung herangezogenen Umstände diesen Schluss auch
nach den Vorgaben des Unionsrechts tragen können.
bb) Das ist hier nicht der Fall. Die hierzu in der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs und des erkennenden Senats entwickelten Anforderungen,
die - anders als das Berufungsgericht annimmt - der Sache nach deckungs-
gleich sind, werden nicht erfüllt. Nach dem Beschluss des Europäischen Ge-
richtshofs vom 2. Dezember 2010 (a.a.O.) darf die Nichtanerkennung einer aus-
ländischen Fahrerlaubnis nicht auf ein vom Betroffenen vorgelegtes negatives
Fahreignungsgutachten gestützt werden, wenn dieses Gutachten zwar nach
dem Zeitpunkt der Ausstellung dieses Führerscheins und auf der Grundlage
einer nach diesem Zeitpunkt durchgeführten Untersuchung des Betroffenen
erstellt wurde, aber keinen, sei es auch nur partiellen Bezug zu einem nach
Ausstellung dieses Führerscheins festgestellten Verhalten des Betroffenen hat
und sich ausschließlich auf vor diesem Zeitpunkt liegende Umstände bezieht
(a.a.O. Rn. 72 und 77). Die Prüfung, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt
sind, weist der Europäische Gerichtshof dem nationalen Gericht zu, das allein
eine umfassende Kenntnis des Rechtsstreits habe (a.a.O. Rn. 76). Das deckt
sich mit der Aussage in dem - noch vor diesem Beschluss ergangenen - Urteil
des erkennenden Senats vom 28. April 2010, dass nach dem Unionsrecht eine
Maßnahme des Aufnahmemitgliedstaates zulässig ist, die nicht allein auf ein
Verhalten oder Umstände gestützt ist, die bereits zum Zeitpunkt der Erteilung
der ausländischen Fahrerlaubnis vorliegen, sondern auch auf ein Verhalten
oder Umstände nach der Fahrerlaubniserteilung. Denn solche Umstände konn-
ten vom Ausstellermitgliedstaat nicht berücksichtigt werden. Damit wird - ent-
sprechend der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs - einerseits ein Eingriff
in die Zuständigkeiten und Befugnisse des Ausstellermitgliedstaates vermieden,
andererseits aber verhindert, dass eine die Verkehrssicherheit gefährdende
zeitliche Lücke bei der Überprüfung der Fahreignung entsteht (a.a.O. Rn. 24).
Es reicht aus, dass im Gutachten als Prognosebasis auch auf nachträgliche
Umstände rekurriert und hieraus auf die neuerliche Ungeeignetheit des betref-
fenden Fahrerlaubnisinhabers geschlossen wird (a.a.O. Rn. 25). Übereinstim-
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mung mit dem Europäischen Gerichtshof besteht auch insoweit, als der nach-
trägliche Umstand nicht gerade in einem Verkehrsverstoß gelegen haben muss
(vgl. EuGH a.a.O. Rn. 75 und BVerwG a.a.O. Rn. 25).
cc) Hier fehlt nach der im medizinisch-psychologischen Gutachten gegebenen
Begründung für die mangelnde Fahreignung des Klägers der erforderliche zu-
mindest partielle zeitliche Bezug auf die Zeit nach Erteilung der tschechischen
Fahrerlaubnis.
Das medizinisch-psychologische Gutachten knüpft wesentlich an die Trunken-
heitsfahrten des Klägers aus dem Jahr 2004 sowie an sein Trinkverhalten in der
Zeit davor an und damit an Umstände, die zeitlich vor der Erteilung der tsche-
chischen Fahrerlaubnis im April 2008 liegen. Daraus entnehmen die Gutachter,
dass der Kläger bis zu der von ihm behaupteten Alkoholabstinenz, die er seit
Dezember 2004 eingehalten haben will, alkoholabhängig gewesen sei. Den er-
forderlichen Nachweis, dass er diese Alkoholabhängigkeit in der Zeit danach
überwunden habe, habe der Kläger nicht geführt. Die „Begutachtungsleitlinien
zur Kraftfahreignung“ des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin ließen für
die Wiederherstellung der Kraftfahreignung nicht die bloße Behauptung der Ab-
stinenz genügen, sondern erforderten in der Regel den Nachweis einer erfolg-
reichen Entwöhnungsbehandlung und einer danach liegenden einjährigen Ab-
stinenz. Diese Anforderungen habe der Kläger nach den Feststellungen der
Gutachter im hier maßgeblichen Zeitraum von 2004 bis zum Zeitpunkt seiner
Begutachtung nicht erfüllt.
Diese Argumentation erweist sich deshalb nicht als tragfähig, weil der Kläger
wegen der Erteilung der tschechischen Fahrerlaubnis im April 2008 im Ergebnis
so behandelt werden muss, als habe er einen solchen Nachweis zu diesem
Zeitpunkt geführt. Das liegt in der Konsequenz der Rechtsprechung des Euro-
päischen Gerichtshofs, der davon ausgeht, dass der Besitz eines von einem
anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins als Nachweis dafür anzuse-
hen sei, dass der Betroffene am Ausstellungstag die Voraussetzung der Eig-
nung erfüllt habe. Dementsprechend ist es nun Aufgabe der deutschen Fahr-
erlaubnisbehörde, einen Rückfall des früher alkoholabhängigen Betroffenen in
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den Alkoholkonsum oder einen sonstigen nachträglichen Umstand für dessen
mangelnde Fahreignung aufzuzeigen, um den Zugriff auf seine im Ausland er-
teilte Fahrerlaubnis zu rechtfertigen. Die Bezugnahme auf das vorgelegte Gut-
achten, das ausschließlich an alte, durch die Erteilung der tschechischen Fahr-
erlaubnis überholte Eignungsmängel anknüpft und daraus Verhaltensanforde-
rungen ableitet, reicht darum nicht aus.
b) Ein solcher nach der Erteilung der ausländischen EU-Fahrerlaubnis liegender
Umstand ergibt sich aber aus der beim Kläger am 3. Oktober 2009 entnomme-
nen Blutprobe und dem dabei festgestellten Alkoholpegel von 1,97 Promille.
Diese Tatsache darf auch verwertet werden. Innerstaatliches Recht, insbeson-
dere der vom Berufungsgericht herangezogene § 3 Abs. 3 StVG, steht dem
nicht entgegen.
Nach § 3 Abs. 3 StVG darf, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein
Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69
des Strafgesetzbuches in Betracht kommt, die Fahrerlaubnisbehörde den
Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsver-
fahren nicht berücksichtigen. Diese Regelung wird für die Zeit nach dem Ab-
schluss des Strafverfahrens durch § 3 Abs. 4 StVG ergänzt. Nach dessen
Satz 1 kann die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sie in einem Entziehungsverfah-
ren einen Sachverhalt berücksichtigen will, der Gegenstand der Urteilsfindung
in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, vom
Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des
Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder die Eignung zum Füh-
ren von Kraftfahrzeugen bezieht.
aa) Zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung lagen
die Voraussetzungen des in § 3 Abs. 3 StVG angeordneten Berücksichtigungs-
verbots vor. Beim Erlass des Widerspruchsbescheids am 19. April 2010 war
das gegen den Kläger wegen der Vorkommnisse am 3. Oktober 2009 geführte
Strafverfahren noch anhängig, in dem - wie von § 3 Abs. 3 StVG vorausge-
setzt - die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB in Betracht kam.
Dieses Strafverfahren wurde erst am 7. Juli 2010 mit dem rechtskräftigen Urteil
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des Amtsgerichts beendet, mit dem der Kläger vom Vorwurf der vorsätzlichen
Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 1
StGB, des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 Abs. 1 Nr. 1 und
der vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr gemäß § 316 Abs. 1 StGB freigespro-
chen wurde.
bb) Doch trägt das Berufungsurteil dem Umstand nicht Rechnung, dass das
Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 StVG in das Verbot einer abweichen-
den Entscheidung nach § 3 Abs. 4 StVG übergeht, wenn zwischenzeitlich ein
rechtskräftiges Strafurteil ergangen oder es sonst gemäß § 3 Abs. 4 Satz 2
StVG zu einem Abschluss des Strafverfahrens gekommen ist. Soweit nach den
dort getroffenen Feststellungen widersprüchliche Entscheidungen von Fahr-
erlaubnisbehörde und Strafgericht ausgeschlossen sind, wird der Sachverhalt
für die Fahrerlaubnisbehörde und das Verwaltungsgericht auch im Nachhinein
berücksichtigungsfähig.
§ 3 Abs. 3 und 4 StVG dienen dazu, sich widersprechende Entscheidungen der
Strafgerichte und der Fahrerlaubnisbehörden zu vermeiden (vgl. Dauer in:
Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 3 StVG Rn. 15
und Janker in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl.
2010, § 3 StVG Rn. 9, jeweils m.w.N.). Es soll verhindert werden, dass derselbe
einer Eignungsbeurteilung zugrundeliegende Sachverhalt unterschiedlich be-
wertet wird; die Beurteilung durch den Strafrichter soll in diesen Fällen den Vor-
rang haben (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 11. Januar 1988 - BVerwG 7 B
242.87 - Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 78 = NZV 1988, 37 und vom
3. September 1992 - BVerwG 11 B 22.92 - Buchholz 442.10 § 4 StVG Nr. 88 =
NZV 1992, 501). Die Bindungswirkung von § 3 Abs. 3 und 4 StVG erstreckt sich
auf den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist; erfasst wird nicht
nur die Tat im Sinne des sachlichen Strafrechts, sondern der gesamte Vorgang,
auf den sich die Untersuchung erstreckt (in diesem Sinne Dauer, a.a.O. Rn. 17;
ähnlich Janker, a.a.O. Rn. 10: das Strafverfahren erstreckt sich auf den gesam-
ten geschichtlichen Vorgang im Sinne des § 264 StPO, der im Strafverfahren
untersucht werden soll, nicht etwa nur auf einzelne gesetzliche Tatbestände;
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ebenso OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - 12 ME 360/07 -
ZfSch 2008, 114 Rn. 7).
Auch wenn § 3 Abs. 3 und 4 StVG demselben Regelungsziel dienen, so unter-
scheiden sie sich doch in ihrer Reichweite in Abhängigkeit davon, welchen
Stand das anhängige Strafverfahren mittlerweile erreicht hat. § 3 Abs. 3 StVG
betrifft die Zeit bis zu dessen Abschluss. Er enthält im Hinblick darauf, dass bis
dahin weder dessen Ausgang noch die Feststellungen zu den für die Beurtei-
lung der Fahreignung des Betroffenen maßgeblichen Umständen abschließend
feststehen, ein umfassendes sich auf den gesamten relevanten Sachverhalt
beziehendes Berücksichtigungsverbot. § 3 Abs. 4 StVG schließt daran zeitlich
an und modifiziert dieses Verbot. Da mit dem Abschluss des Strafverfahrens
nun auch Klarheit hinsichtlich der Feststellungen zu den genannten Umständen
eingetreten ist, reduziert es sich nunmehr auf das Verbot einer Entscheidung
der Fahrerlaubnisbehörde, die im Widerspruch zu den im Strafverfahren getrof-
fenen Feststellungen steht.
Am maßgeblichen zeitlichen Bezugspunkt für die Beurteilung der Rechtmäßig-
keit einer von der Fahrerlaubnisbehörde verfügten Entziehung der Fahrerlaub-
nis oder - bei einer ausländischen Fahrerlaubnis - der Aberkennung des
Rechts, von ihr im Inland Gebrauch zu machen, ändert sich dadurch nichts.
Zwar muss der die mangelnde Eignung des Fahrerlaubnisinhabers erweisende
Sachverhalt - also etwa eine Zuwiderhandlung im Straßenverkehr oder die
Feststellung fahreignungserheblicher gesundheitlicher Mängel - zeitlich vor der
letzten Verwaltungsentscheidung gelegen haben. Dagegen schadet es nicht,
wenn der Zugriff auf diesen Sachverhalt erst nach diesem Zeitpunkt dadurch
wieder eröffnet wird, dass das deswegen eingeleitete Strafverfahren mittlerweile
seinen Abschluss gefunden hat und nach § 3 Abs. 4 StVG deshalb nur noch
das Verbot einer abweichenden Entscheidung besteht. Das zuvor greifende
Berücksichtigungsverbot nach § 3 Abs. 3 StVG ist nicht mehr als ein vorüber-
gehendes Verfahrenshindernis, das sich - soweit es in seiner Wirkung über das
Verbot des § 3 Abs. 4 StVG hinausgeht - mit dem Abschluss des Strafverfah-
rens erledigt hat.
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Dies steht in Einklang mit dem § 46 VwVfG zugrundeliegenden Rechtsgedan-
ken, dass die Aufhebung eines Verwaltungsakts nicht beansprucht werden
kann, wenn er mit demselben Inhalt sofort wieder erlassen werden müsste.
cc) Die Anforderungen des § 3 Abs. 4 StVG sind hier erfüllt. Die auf mangelnde
Fahreignung wegen Alkoholabhängigkeit gestützte Fahrerlaubnisentziehung
steht nicht im Widerspruch dazu, dass der Kläger mit dem rechtskräftigen Urteil
des Amtsgerichts vom 7. Juli 2010 vom Vorwurf der vorsätzlichen Gefährdung
des Straßenverkehrs, des unerlaubten Entfernens vom Unfallort und der vor-
sätzlichen Trunkenheit im Verkehr freigesprochen wurde. Dies ist geschehen,
weil das Strafgericht es nicht als erwiesen angesehen hat, dass der Kläger ge-
fahren war. Dagegen wird weder in dem Urteil noch vom Kläger selbst in Frage
gestellt, dass er am 3. Oktober 2009 einen Alkoholpegel von 1,97 Promille er-
reicht hatte. Aus diesem im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs und des erkennenden Senats nachträglichen Umstand konnte der
Beklagte in Zusammenschau mit der im medizinisch-psychologischen Gutach-
ten wegen seines früheren Trinkverhaltens festgestellten Alkoholabhängigkeit
des Klägers auf dessen mangelnde Fahreignung schließen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2 VwGO.
Kley
Liebler
Buchheister
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Straßenverkehrsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
StVG
§ 3 Abs. 3 und 4
FeV
§§ 11, 13, 46
RL 2006/126/EG
Art. 2, 11
RL 91/439/EWG
Art. 1 Abs. 2, Art. 8 Abs. 2 und 4
Stichworte:
Fahrerlaubnisbehörde; Verfahrenshindernis; Berücksichtigungsverbot; Gefahr
widersprüchlicher Entscheidungen; Fahrerlaubnisentziehung; Anerkennung ei-
ner ausländischen EU-/EWR-Fahrerlaubnis; Aberkennung des Rechts, von ei-
ner ausländischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen; Anerken-
nungsgrundsatz; EU-Führerscheinrichtlinie.
Leitsatz:
Das für die Fahrerlaubnisbehörde nach § 3 Abs. 3 StVG geltende Verbot, einen
Sachverhalt zu berücksichtigen, der Gegenstand eines anhängigen Strafverfah-
rens ist, in dem eine Fahrerlaubnisentziehung nach § 69 StGB in Betracht
kommt, geht in das Verbot einer abweichenden Entscheidung im Sinne von § 3
Abs. 4 StVG über, wenn das Strafverfahren zwischenzeitlich rechtskräftig abge-
schlossen ist. Soweit danach widersprüchliche Entscheidungen von Fahr-
erlaubnisbehörde und Strafgericht ausgeschlossen sind, wird der Sachverhalt
für die Fahrerlaubnisbehörde berücksichtigungsfähig.
Urteil des 3. Senats vom 28. Juni 2012 - BVerwG 3 C 30.11
I. VG Neustadt an der Weinstraße vom 05.10.2010 - Az.: VG 6 K 513/10.NW -
II. OVG Koblenz vom 13.05.2011 - Az.: OVG 10 A 11241/10 -