Urteil des BVerwG vom 29.04.2004

Gewalt, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Allgemeiner Begriff, Verordnung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 27.03
OVG 2 LB 3/02
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. April 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht
van S c h e w i c k , Dr. D e t t e , L i e b l e r und Prof. Dr. R e n n e r t
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. April 2003
geändert. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des
Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom
26. November 2001 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Revisi-
onsverfahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger an einem rechtzeitigen Antrag auf Ge-
währung einer Agrarbeihilfe durch höhere Gewalt gehindert war.
Der Antrag auf Gewährung einer Agrarbeihilfe (Grundantrag Flächen) muss bis zu
dem dem Bewirtschaftungszeitraum vorangehenden 15. Mai gestellt werden. Der
Kläger warf seinen Antrag für den Bewirtschaftungszeitraum 1999/2000 am 14. Mai
1999 in den Briefkasten der Deutschen Post AG seines Heimatortes ein. Bei ge-
wöhnlicher Postlaufzeit hätte die Sendung dem Beklagten am Samstag, dem 15. Mai
1999, oder doch am Montag, dem 17. Mai 1999, zugehen müssen. Die Sendung ist
jedoch auf dem Postwege verloren gegangen. Wenige Tage vor dem 15. September
1999 teilte der Beklagte dem Kläger telefonisch mit, sein Antrag liege nicht vor. Der
Kläger wies darauf hin, dass er den Antrag rechtzeitig zur Post gegeben habe, und
übermittelte dem Beklagten eine Kopie des Antrags am 15. September 1999 per Fax.
In der Folge verlangte der Kläger vom Beklagten, ihm Wiedereinsetzung in die ver-
säumte Antragsfrist zu gewähren und ihm die begehrte Agrarbeihilfe - die
51 876,02 DM betragen hätte - auszuzahlen. Beides lehnte der Beklagte mit Schrei-
ben vom 3. Januar 2000 und auf klägerischen Widerspruch hin erneut mit Schreiben
vom 19. Juni 2000 ab.
Mit Urteil vom 26. November 2001 hat das Verwaltungsgericht den Beklagten ver-
pflichtet, den am 15. September 1999 nachgeholten Antrag des Klägers als form-
und fristgerecht eingereichten Antrag zu bescheiden. Dem Kläger sei nach deut-
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schem Verwaltungsverfahrensrecht antragsgemäß Wiedereinsetzung zu gewähren,
da er die Antragsfrist unverschuldet versäumt habe. Daran ändere auch der Hinweis
des Beklagten auf das europäische Gemeinschaftsrecht nichts. Es könne dahinste-
hen, ob dieses das deutsche Recht verdränge, indem es die Antragsfrist als Aus-
schlussfrist ausgestalte. Das Gemeinschaftsrecht sehe nämlich Sanktionen für das
Überschreiten der Antragsfrist nur vor, sofern nicht ein Fall höherer Gewalt gegeben
sei, und ein solcher Fall höherer Gewalt sei gegeben, wenn die Fristversäumnis - wie
hier - durch Umstände verursacht werde, auf die der Antragsteller keinerlei Einfluss
habe. Die gemeinschaftsrechtlichen Sanktionen auch verschuldensunabhängig zu
verhängen, sei mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom
23. April 2003 das angefochtene Urteil geändert und die Klage abgewiesen. Die An-
tragsfrist sei eine Ausschlussfrist, in die eine Wiedereinsetzung nicht möglich sei.
Das ergebe sich aus dem europäischen Gemeinschaftsrecht. Der Kläger könne sich
auch nicht auf höhere Gewalt berufen. Den Verlust des Briefes auf dem Postwege
habe der Kläger zwar nicht zu vertreten; der Umstand sei aber nicht so ungewöhn-
lich, dass damit nicht hätte gerechnet und seine Folgen selbst bei aller Sorgfalt nicht
hätten vermieden werden können. So habe der Kläger selbst vorgetragen, er habe
zunächst den Brief zur Sicherheit persönlich zum Beklagten bringen wollen. Auch
hätte er einen Einschreibbrief wählen können.
Zur Begründung seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision führt der Klä-
ger aus: Das Berufungsurteil definiere den Begriff der höheren Gewalt zwar im Ein-
klang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesver-
waltungsgerichts, gebe ihm aber in der Anwendung einen zu strengen Inhalt. Der
Begriff weise ein objektives und ein subjektives Element auf. In objektiver Hinsicht
müssten ungewöhnliche, vom Willen des Betroffenen unabhängige, also außerhalb
seiner Einflusssphäre liegende Umstände vorliegen. Ungewöhnliche Umstände seien
nicht erst solche, die objektiv "völlig unmöglich" seien; es genüge vielmehr ein Ab-
weichen vom gewöhnlichen Geschehensablauf. Das sei beim Verlust eines Briefes
auf dem Postwege anzunehmen. In subjektiver Hinsicht werde verlangt, dass die
Folgen des ungewöhnlichen Umstandes selbst bei Beachtung aller erforderlichen
Sorgfalt unvermeidbar erschienen. Auch dies sei der Fall. Ein Einschreibbrief hätte
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nur dem Nachweis der Aufgabe des Briefes gedient und den Verlust nicht verhindern
können. Und das Ansinnen, den Brief vorsorglich persönlich zu überbringen, über-
spanne den Rahmen der "erforderlichen Sorgfalt", da die Beförderung mit der Post
als besonders zuverlässige Form der Übermittlung gelte und ein kleinerer Landwirt
- stärker als größere Unternehmen - auf den Postweg angewiesen sei. Schließlich
gebiete der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass der mit
der Fristbindung verfolgte Zweck nicht absolut gesetzt, sondern mit der oft exis-
tentiellen Bedeutung der Agrarbeihilfen für den Landwirt abgewogen werde.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Der Vertreter des Bundesinteresses
beteiligt sich nicht am Verfahren.
II.
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des Urteils des Verwaltungs-
gerichts.
1. Der Kläger erstrebt eine Ausgleichszahlung auf der Grundlage der Verordnung
(EWG) Nr. 1765/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Einführung einer Stützungsre-
gelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen (ABl Nr. L
181/12), die in der Fassung der Änderungsverordnung (EG) Nr. 1624/98 für das Wirt-
schaftsjahr 1999/2000 noch galt (vgl. Art. 15 Abs. 3 der Nachfolgeverordnung
Nr. 1251/1999 des Rates vom 17. Mai 1999, ABl Nr. L 160/1). Das Berufungsgericht
hat angenommen, diesem Begehren stehe entgegen, dass der Kläger den
Beihilfeantrag nicht bis zum 15. Mai 1999 beim Beklagten eingereicht hat. Diese Frist
sei einer Wiedereinsetzung nicht zugänglich und auf höhere Gewalt könne der Kläger
sich nicht berufen. Das verletzt europäisches Gemeinschaftsrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1
VwGO).
a) Dem Berufungsgericht ist freilich darin zuzustimmen, dass der Beihilfeantrag bis
zum 15. Mai 1999 beim Beklagten eingehen musste. Das ergibt sich allerdings nicht
aus § 4 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über eine Stützungsregelung für Erzeuger be-
stimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen (Kulturpflanzen-Ausgleichszahlungs-
Verordnung) - KAVO - i.d.F. der Bekanntmachung vom 5. Mai 1999 (BGBl I S. 858).
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Nach dieser Vorschrift muss der Antrag bis zum 15. Mai des Jahres, für das der An-
trag gestellt wird, bei der Landesstelle eingegangen sein, in deren Bereich der land-
wirtschaftliche Betrieb seinen Sitz hat. Der Regelungsgehalt der Vorschrift liegt allein
in der Bestimmung der für die Entgegennahme des Antrags zuständigen Stelle. Hin-
sichtlich der Frist ist die Vorschrift hingegen bloß deklaratorisch. Die Frist ergibt sich
bereits aus Art. 10 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1765/92. Hiernach sind anspruchsberechtigt
Erzeuger, die bis spätestens an dem der Ernte vorausgehenden 15. Mai einen
Antrag gestellt haben. Diese Bestimmung ist europäisches Verordnungsrecht und gilt
in allen Mitgliedstaaten unmittelbar.
b) Richtig ist auch, dass in diese Antragsfrist Wiedereinsetzung nach § 32 VwVfG
bzw. der entsprechenden jeweiligen landesrechtlichen Vorschrift nicht gewährt wer-
den kann.
Die in Rede stehende Frist ist keine Verfahrensfrist, sondern eine materielle Frist. Sie
soll nicht lediglich das (Verwaltungs-)Verfahren ordnen, vielmehr ist ihre Einhaltung
Tatbestandsvoraussetzung des Beihilfeanspruchs selbst. Das ergibt sich aus dem
einschlägigen Gemeinschaftsrecht. Auf die Beihilfe (Ausgleichszahlung) nach der
Verordnung (EWG) Nr. 1765/92 finden die Bestimmungen der Verordnung (EWG)
Nr. 3508/92 des Rates vom 27. November 1992 zur Einführung eines integrierten
Verwaltungs- und Kontrollsystems für bestimmte gemeinschaftliche Beihilfe-
regelungen (ABl Nr. L 355/1) - vgl. deren Art. 1 Abs. 1 Buchstabe a - sowie der hier-
zu ergangenen Durchführungsverordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom
23. Dezember 1992 (ABl Nr. L 391/36) Anwendung. Nach Art. 8 Abs. 1 VO (EWG)
Nr. 3887/92 verringern sich - außer in Fällen höherer Gewalt - bei verspäteter Einrei-
chung eines Antrags die von dem Antrag betroffenen Beihilfebeträge des Betriebsin-
habers pro Werktag Verspätung um 1 % der Beträge, auf die der Betriebsinhaber im
Falle rechtzeitiger Einreichung Anspruch hätte. Beträgt die Terminüberschreitung
mehr als 20 Tage, so wird der Antrag abgelehnt und entfällt jeder Zahlungsanspruch.
Das zeigt, dass die Nichteinhaltung der Einreichungsfrist Auswirkungen auf das (un-
geschmälerte) Bestehen des Beihilfeanspruchs selbst hat.
Ausnahmen von dieser Rechtsfolge können sich ebenfalls nur aus dem Gemein-
schaftsrecht ergeben, sei es durch unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Bestim-
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mung, sei es im Wege der Ermächtigung der Mitgliedstaaten. Das Gemeinschafts-
recht sieht hier nur die Ausnahme der höheren Gewalt vor. Andere Ausnahmen
- etwa die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung - kennt es daneben nicht.
c) Der Kläger kann sich jedoch auf höhere Gewalt berufen. Das hat das Berufungs-
gericht verkannt.
aa) Der Begriff der höheren Gewalt ist ein allgemeiner Begriff des Gemeinschafts-
rechts, dessen Funktion es ist, Härten aus der Anwendung von Präklusions- und
Sanktionsvorschriften in besonders gelagerten Fällen zu vermeiden und damit dem
Gebot der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall zu entsprechen. Er setzt voraus, dass
der Nichteintritt der fraglichen Tatsache auf Umständen beruht, die vom Willen des-
jenigen, der sich hierauf beruft, unabhängig, ungewöhnlich (anomal) und unvorher-
sehbar sind und deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden
können (stRspr; vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 1968 - Rs. 4/68 - Schwarzwaldmilch,
Slg. 1968, 562; Urteil vom 13. Oktober 1993 - Rs. C-124/92 - An Bord Bainne Co-
operative, Slg. 1993, I-5087 ; Urteil vom 29. September 1998 - Rs.
C-263/97 - First City Trading, Slg. 1998, I-5556; ; Urteil vom 17. Oktober
2002 - Rs. C-208/01 - Parras Medina, Slg. 2002, I-8965 ; BVerwG, Urteil
vom 8. Oktober 1976 - BVerwG VII C 43.75 - juris; Urteil vom 3. August 1989
- BVerwG 3 C 52.87 - BVerwGE 82, 278 <284 f.>). Auch im deutschen Recht wurde
und wird unter höherer Gewalt - in Anlehnung an den Begriff des "unabwendbaren
Zufalls" (§ 233 ZPO a.F.) - ein Ereignis außerhalb der Sphäre des Betroffenen ver-
standen, das nicht vorhersehbar ist und dessen Eintritt oder dessen Folgen selbst
durch äußerste Sorgfalt nicht vermieden werden können (BVerwG, Urteil vom
24. Februar 1966 - BVerwG II C 45.64 - Buchholz 310 § 76 VwGO Nr. 1 ; Ur-
teil vom 30. Oktober 1997 - BVerwG 3 C 35.96 - BVerwGE 105, 288 <300>; vgl. RGZ
158, 357 <360 f.>; BGHZ 17, 199 <201 f.>; 81, 353 <355>; 129, 282 <289>).
Der Begriff der höheren Gewalt hat in den verschiedenen Rechtsgebieten des Ge-
meinschaftsrechts nicht völlig den gleichen Inhalt, weshalb seine Bedeutung nach
dem rechtlichen Rahmen zu bestimmen ist, in dem er jeweils seine Wirkung entfalten
soll. Maßgebend ist insofern die Zweckbestimmung der jeweiligen Verordnung
(EuGH, Urteil vom 11. Juli 1968, Slg. 1968, 562 <574>; Urteil vom 13. Oktober 1993,
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Slg. 1993, I-5087 ; Urteil vom 29. September 1998, Slg. 1998, I-5556
; Urteil vom 17. Oktober 2002, Slg. 2002, I-8965 ). Die Besonder-
heit des jeweiligen Rechtsgebiets beeinflusst vor allem die Anwendung - nach ge-
meinschaftsrechtlicher Terminologie: die Auslegung - des Begriffs im Einzelfall (vgl.
EuGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - Rs. 266/84 - Denkavit France, Slg. 1986, 164
). Im vorliegenden Zusammenhang bietet die Eigenart des Landwirtschafts-
rechts keinen Anlass für Besonderheiten im Begriff der höheren Gewalt. Jedoch be-
legt der Zweck der Antragsfrist in Art. 10 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1765/92, dass der
Ausnahmetatbestand der höheren Gewalt eng auszulegen und streng anzuwenden
ist, namentlich hinsichtlich der Anforderungen an seinen Nachweis im Einzelfall. Die
Antragsfrist dient nämlich der Ermöglichung der Kontrolle, wie sich insbesondere aus
dem 8. Erwägungsgrund zu der Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 ergibt. Tatsächlich
würde bei einer deutlich verspäteten Einreichung die Kontrolle vereitelt; denn die
Kontrolle findet zum einen als Verwaltungskontrolle - vor allem zur Vermeidung einer
doppelten Beihilfegewährung - und zum anderen durch stichprobenartige Vorortkon-
trollen, ggfs. ergänzt durch satellitengestützte Fernerkundung, statt, letztere aber je-
denfalls während der Aufwuchszeit, also bei Sommerfrüchten im Mai und Juni und
damit spätestens sieben Wochen nach dem Ablauf der Antragsfrist am 15. Mai.
bb) Der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege kommt als höhere Gewalt in
Betracht und ist auch im vorliegenden Fall als höhere Gewalt anzuerkennen.
Dass ein Beihilfeantrag auf dem Postwege verloren geht, ist vom Willen des Post-
kunden unabhängig. Es ist ihm auch nicht zuzurechnen. Allerdings obliegt dem An-
tragsteller, seinen Antrag bei der Behörde einzureichen; insofern liegt eine "Bring-
schuld" und keine "Schickschuld" vor, und wenn er sich eines Dritten für die Über-
mittlung bedient, so wird dieser Dritte in seiner Sphäre tätig. Der Verlust des Antrags
beim Übermittler ist dem Antragsteller deshalb dann zuzurechnen, wenn er sich ei-
nes individuellen Boten oder Kuriers bedient. Ob dasselbe für private Postdienstleis-
tungsunternehmen zu gelten hat, stehe dahin. Für die Deutsche Post AG gilt aber
Besonderes. Zwar ist auch sie privatrechtlich organisiert. Sie hat jedoch bis zum
31. Dezember 2005 - und hatte damit auch im Jahre 1999 - die gesetzliche Exklusiv-
lizenz zur Beförderung von Briefsendungen bis 100 Gramm (§ 51 Abs. 1 PostG) und
war und ist im Gegenzuge zur Beförderung verpflichtet (§ 52 i.V.m. § 11 Abs. 2
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PostG). Der Kläger war daher zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch auf ihre Dienste
angewiesen, wollte - oder konnte - er den Antrag denn nicht persönlich oder ver-
mittels eines eigenen Boten überbringen; und die Deutsche Post AG war rechtlich zur
ordnungsgemäßen Beförderung verpflichtet. Insofern liegt die Sache noch ähnlich
wie zur Zeit des Bestehens der Deutschen Bundespost, deren Handeln behördliches
Verwaltungshandeln war. Der Europäische Gerichtshof hat aber bereits mehrfach
entschieden, dass einem Antragsteller das Handeln einer staatlichen Behörde nicht
zuzurechnen ist (Urteil vom 18. März 1993 - Rs. C-50/92 - Molkerei-Zentrale Süd,
Slg. 1993, I-1053 - dort zur Vorhersehbarkeit und Ungewöhnlichkeit; Urteil
vom 7. Dezember 1993, Slg. 1993, I-6406 ; EuG, Urteil vom 6. März 2003
- Rs. T-61/00 u. T-62/00 - Slg. 2003, II-635 ; ebenso BVerwG, Urteil vom
8. Oktober 1976 - BVerwG VII C 43.75 -).
Der Verlust einer Briefsendung im Bereich der Deutschen Post AG war 1999 auch im
Rechtssinne unvorhersehbar und ungewöhnlich (anomal). Der Europäische Ge-
richtshof hält Regelwidrigkeiten im Bereich der staatlichen Verwaltung generell für
unvorhersehbar und ungewöhnlich (Urteil vom 18. März 1993 - Rs. C-50/92 - Molke-
rei-Zentrale Süd, Slg. 1993, I-1053 ). Grund hierfür ist ersichtlich der Ge-
danke, dass die Verwaltung verpflichtet ist, gesetzmäßig zu handeln (vgl. die
Schlussanträge des Generalanwalts, Slg. 1993, I-1044 ). Das lässt sich
auf die Universaldienstleistungen der Deutschen Post AG übertragen. Sie ist zwar,
wie erwähnt, keine Behörde (mehr), ist jedoch wie eine Behörde im Rahmen ihres
Monopols zur Briefbeförderung verpflichtet. Auch tatsächlich kommen Verluste von
Briefsendungen zwar vor, sind aber doch nach wie vor so selten, dass sie - anders
als etwa das Überschreiten der gewöhnlichen Postlaufzeiten - als ungewöhnlich und
im Rechtssinne als unvorhersehbar gelten müssen. Das ist in der Rechtsprechung
weithin anerkannt (BGH, Beschluss vom 11. Februar 1957 - VII ZB 3/57 - VersR
1957, 203; Beschluss vom 28. September 1972 - IV ZB 8/72 - VersR 1973, 81 <82>;
Beschluss vom 19. November 1991 - VI ZB 40/91 - VersR 1992, 899; BVerwG, Be-
schluss vom 25. November 2002 - BVerwG 8 B 112.02 - Buchholz 310 § 92 VwGO
Nr. 17). Aus dem vom Berufungsgericht angeführten Beschluss des Senats vom
31. Januar (nicht März) 2002 (BVerwG 3 B 106.01) ergibt sich nichts anderes; dort
wird zu der Frage nicht Stellung genommen. Lediglich der Bundesfinanzhof hat im
Beschluss vom 30. Oktober 2001 (X B 55/01 - BFH/NV 2002, 503 = juris) das Ab-
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handenkommen einer Postsendung nicht als "außergewöhnlichen Umstand" anse-
hen wollen, hat jedoch seine Entscheidung hilfsweise darauf gestützt, dass der dorti-
ge Kläger die rechtzeitige Aufgabe des Schriftstücks zur Post nicht nachgewiesen
habe.
Dass der Kläger schließlich die Folgen des Verlusts der Postsendung bei Anspan-
nung aller gebotenen Sorgfalt nicht hätte vermeiden können, liegt auf der Hand. Vor-
beugende Gegenmaßnahmen waren bei fehlender Vorhersehbarkeit nicht veranlasst,
und spätere Maßnahmen zur Folgenabwendung - etwa die rasche Übersendung
einer Zweitschrift - hätten vorausgesetzt, dass der Kläger Kenntnis vom Verlust der
Postsendung gehabt hätte.
cc) Nach allem kommt der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege als ein Fall
höherer Gewalt im Sinne des Gemeinschaftsrechts in Betracht. Dagegen kann nicht
eingewandt werden, dass dies nicht "auf der Linie" der in Art. 11 Abs. 3 VO (EWG)
Nr. 3887/92 bzw. in Art. 48 Abs. 2 VO (EG) Nr. 2419/2001 beispielhaft aufgeführten
Fälle liege. Diese Beispielsfälle haben sämtlich nicht die Überschreitung der Antrags-
frist (Art. 8 VO Nr. 3887/92), sondern das Zurückbleiben der bei der Kontrol-
le festgestellten beihilfefähigen Flächen bzw. Tiere hinter den Angaben im Antrag
(Art. 9 und 10 VO Nr. 3887/92) im Blick. In diesen Fällen spricht eine Ver-
mutung dafür, dass der Antragsteller im Antrag übertrieben hat, dass also eine Un-
regelmäßigkeit im Sinne des Gemeinschaftsrechts vorliegt; diese Vermutung kann
durch den Nachweis späterer unvorhergesehener Ereignisse (wie Tod oder Berufs-
unfähigkeit des Betriebsinhabers, Enteignungen, schwere Naturkatastrophen, Zer-
störung von Stallgebäuden oder Seuchenbefall der Herde) entkräftet werden. Hier-
aus lässt sich für die Anforderungen an höhere Gewalt, die eine Überschreitung der
Antragsfrist sanktionslos stellt, nichts gewinnen. Die Überschreitung der Antragsfrist
ist keine Unregelmäßigkeit im Sinne des Gemeinschaftsrechts (vgl. den 32. und die
weiteren Erwägungsgründe zur VO Nr. 2419/2001), der Verlust des Beihilfe-
anspruchs dementsprechend auch keine - repressive - Sanktion, sondern ein - prä-
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ventives - Druckmittel (vgl. den 15. Erwägungsgrund zur VO Nr. 2419/2001
sowie EuGH, Urteil vom 22. Januar 1986 - Rs. 266/84 - Denkavit France, Slg. 1986,
I-164 ).
dd) Einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof bedarf es nicht. Der Begriff der
höheren Gewalt ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinrei-
chend geklärt. Die Befugnis zur Anwendung dieses Begriffs im Einzelfall hat der Eu-
ropäische Gerichtshof den nationalen Gerichten zuerkannt (Urteil vom 11. Juli 1968,
Slg. 1968, 562 <576>). So erfordert auch die Entscheidung des vorliegenden Falles
nicht die weitere Klärung des Begriffs der höheren Gewalt als vielmehr die Würdi-
gung des gegebenen Einzelfalles und hierbei namentlich die Einschätzung der Zu-
verlässigkeit der Deutschen Post AG. Dies aber betrifft allein die mitgliedstaatliche
Sphäre Deutschlands; aus der Entscheidung können sich Rückschlüsse auf die Be-
urteilung eines Briefverlusts in anderen Mitgliedstaaten - mit anderer Postverfas-
sung - nicht ergeben.
2. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig
(§ 144 Abs. 4 VwGO).
Allerdings durfte der Kläger, weil er an der Einhaltung der Einreichungsfrist durch
höhere Gewalt verhindert war, den Antrag nunmehr nicht beliebig spät einreichen.
Vielmehr muss der Antrag unverzüglich nach Wegfall des Hindernisses nachgeholt
werden. Für § 32 Abs. 3 VwVfG ist anerkannt, dass die höhere Gewalt nur die Jah-
res-(ausschluss-)frist beseitigt, dass aber § 32 Abs. 2 VwVfG unverändert gilt, so
dass die versäumte Rechtshandlung innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des
Hindernisses nachzuholen ist (Stelkens in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Rn. 41 zu
§ 32 VwVfG). Das lässt sich auf das europäische Gemeinschaftsrecht übertragen.
Diesen Anforderungen aber ist genügt: Als Hindernis ist hier die Unkenntnis des Klä-
gers darüber anzusehen, dass sein am 14. Mai 1999 abgesandter Antrag beim Be-
klagten nicht eingegangen ist. Diese Unkenntnis wurde nach den Feststellungen des
Verwaltungsgerichts erst wenige Tage vor dem 15. September 1999 beseitigt. Ein
Anhaltspunkt für die Annahme, der Kläger habe sich zuvor nach dem Zugang seines
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Antrags erkundigen müssen, besteht nicht. Bei dieser Sachlage war die Nachholung
des Antrags am 15. September 1999 rechtzeitig.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Dette
Liebler Prof. Dr. Rennert
B e s c h l u s s
Der Streitwert wird für das Berufungs- und für das Revisionsverfahren auf
13 261,89 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die vom Kläger erstrebte Beihilfe beträgt 51 876,02 DM = 26 523,78 €. Im ersten
Rechtszug hat der Kläger Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung dieser Beihilfe
beantragt, weshalb das Verwaltungsgericht den Streitwert mit Recht auf
51 876,02 DM festgesetzt hat. Allerdings hat das Verwaltungsgericht den Beklagten
nur zur Bescheidung verpflichtet, und nur der Beklagte hat Berufung eingelegt. Des-
halb ist der Streitwert für den zweiten und den dritten Rechtszug auf die Hälfte des
erstrebten Beihilfebetrages anzusetzen (vgl. Ziff. I. 6 des Streitwertkatalogs, abge-
druckt bei Eyermann, VwGO, Anhang I); denn die gesamte Sachprüfung des Antrags
steht noch aus.
Prof. Dr. Driehaus Liebler Prof. Dr. Rennert
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
Verwaltungsverfahrensrecht
Fachpresse: ja
europäisches Gemeinschaftsrecht
Landwirtschaftsrecht
Rechtsquellen:
VwVfG § 32
VO (EWG) Nr. 1765/92 Art. 10
VO (EWG) Nr. 3887/92 Art. 8
Stichworte:
Antragsfrist; materielle Frist; Verfahrensfrist; Wiedereinsetzung; höhere Gewalt;
Deutsche Post AG.
Leitsätze:
Höhere Gewalt im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts setzt voraus, dass
der Nichteintritt einer Tatsache auf Umständen beruht, die vom Willen desjenigen,
der sich hierauf beruft, unabhängig sowie ungewöhnlich und unvorhersehbar sind
und deren Folgen trotz aller Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können.
Der Verlust einer Briefsendung auf dem Postwege kommt als ein Fall höherer Gewalt
im Sinne des Gemeinschaftsrechts in Betracht.
Urteil des 3. Senats vom 29. April 2004 - BVerwG 3 C 27.03
I. VG Schleswig-Holstein vom 26.11.2001 - Az.: VG 1 A 183/00 -
II. OVG Schleswig-Holstein vom 23.04.2003 - Az.: OVG 2 LB 3/02 -