Urteil des BVerwG vom 20.11.2014

Arzneimittel, Eugh, Zigarette, Verhütung

BVerwGE: ja
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Gesundheitsverwaltungsrecht einschl. des Rechts der Heil- und
Heilhilfsberufe und des Krankenhausfinanzierungsrechts sowie
des Seuchenrechts
Rechtsquelle/n:
AMG § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a, Abs. 3a, § 69 Abs. 1
VwGO § 113 Abs. 1 Satz 4
RL 2001/83/EG Art. 1 Nr. 2
Stichworte:
Arzneimittel; Präsentationsarzneimittel; Funktionsarzneimittel;
Arzneimitteleigenschaft; elektrische Zigarette; elektronische Zigarette;
E-Zigarette; Liquids; Nikotin; nikotinhaltige Liquids; Verdampfen; Inhalieren;
Rauchen; Tabakzigarette; Genussmittel; pharmakologische Wirkung;
therapeutische Eignung; therapeutische Zweckbestimmung; therapeutischer
Nutzen; Rauchentwöhnung; Nikotinsucht; Erzeugnisse zur Heilung, Linderung
oder Verhütung von Krankheiten; Gesamtbetrachtung; Nikotinersatzpräparate;
Untersagungsverfügung; Vertriebsverbot; Verkaufsverbot;
Fortsetzungsfeststellungsklage; Feststellungsinteresse; Präjudizinteresse;
Entschädigung; Entschädigungsklage.
Leitsatz/-sätze:
1. Nikotinhaltige Liquids, die zum Verdampfen in E-Zigaretten bestimmt sind und
die nicht als Mittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung von Krankheiten
bezeichnet oder vermarktet werden, sind keine Arzneimittel im Sinne von § 2
Abs. 1 AMG (wie Urteile vom selben Tag in den Parallelverfahren BVerwG 3 C
26.13 und BVerwG 3 C 27.13).
2. Die Einstufung eines Erzeugnisses als Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2
Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG setzt voraus, dass es objektiv geeignet ist, zu
therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden.
Urteil des 3. Senats vom 20. November 2014 - BVerwG 3 C 25.13
I. VG Düsseldorf vom 10. Oktober 2012
Az: VG 16 K 2585/12
II. OVG Münster vom 17. September 2013
Az: OVG 13 A 2448/12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 25.13
OVG 13 A 2448/12
Verkündet
am 20. November 2014
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Dr. Wysk,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 17. September 2013 wird mit der Maßgabe zurück-
gewiesen, dass der Bescheid der Beklagten vom
10. Februar 2012 rechtswidrig gewesen ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin wendet sich gegen eine Ordnungsverfügung, mit der ihr der Ver-
kauf nikotinhaltiger Liquids untersagt worden war.
Bei den Liquids handelt es sich um Flüssigkeiten, die zum Befüllen von
elektr(on)ischen Zigaretten (im Folgenden: E-Zigaretten) verwendet werden.
Die Flüssigkeit wird mittels der E-Zigarette erhitzt. Über das Mundstück kann
der dabei entstehende Dampf vom Konsumenten inhaliert werden.
Die Klägerin betrieb seit Dezember 2011 in Wuppertal ein Ladengeschäft für
E-Zigaretten und Liquids der Marke Vinirette®. Die Flüssigkeiten enthielten laut
Produktbeschreibung Propylenglycol, Glycerin und Ethanol sowie verschiedene
Aromastoffe. Neben nikotinfreien Liquids bot die Klägerin Liquids mit Nikotin in
unterschiedlicher Konzentration (zwischen 0,5 % und 2,5 %) an.
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Mit sofort vollziehbarer Ordnungsverfügung vom 10. Februar 2012 untersagte
die beklagte Stadt der Klägerin, in ihrem Geschäft Vinirette-Liquids mit den Ni-
kotinstärken „hoch“ (15 mg) und „mittel“ (10 mg) in den Verkehr zu bringen, und
drohte für jeden Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in Höhe von 1 000 €
an. Zur Begründung führte sie aus, bei den betroffenen Produkten handele es
sich um Arzneimittel, die ohne Zulassung nach dem Arzneimittelgesetz (AMG)
nicht verkehrsfähig seien. Beim Verdampfen der Liquids werde dem Körper ei-
ne pharmakologisch relevante Menge Nikotin zugeführt. Nikotin sei eine Sub-
stanz, die insbesondere auf das zentrale Nervensystem und das Herz-Kreislauf-
System wirke. Sie steigere die psychomotorische Leistungsfähigkeit sowie die
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen, beschleunige den Herzschlag
und bewirke über eine Verengung der Blutgefäße eine Erhöhung des Blut-
drucks. Der Stoff könne süchtig machen.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung hob die Beklagte im April 2012 auf.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auf Aufhebung der Ordnungsverfügung
mit Urteil vom 10. Oktober 2012 abgewiesen. Die Beklagte habe die Liquids zu
Recht als Arzneimittel eingestuft. Es handele sich um Mittel, die geeignet seien,
zu arzneilichen Zwecken eingesetzt zu werden. Sie könnten die Entzugssymp-
tome einer Nikotinsucht lindern, also die physiologischen Körperfunktionen po-
sitiv beeinflussen. Die objektive Eignung zur therapeutischen Anwendung recht-
fertige die Einordnung eines Erzeugnisses als Arzneimittel, unabhängig davon,
ob es nach dem Willen des Herstellers oder Vertreibers dazu bestimmt sei. Im
Übrigen sei nicht zweifelhaft, dass die vom Konsumenten als angenehm emp-
fundenen pharmakologischen Wirkungen des nikotinhaltigen Dampfes beab-
sichtigt seien.
Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 17. September 2013 die Ent-
scheidung des Verwaltungsgerichts geändert und den angefochtenen Bescheid
aufgehoben. Zur Begründung heißt es im Wesentlichen: Die Untersagungsver-
fügung sei rechtswidrig. Die Voraussetzungen für ein Eingreifen der Beklagten
nach § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 AMG lägen nicht vor. Die nikotinhaltigen
Liquids seien keine Präsentationsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1
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AMG. Weder die Herstellerin noch die Klägerin würden die Liquids und die zu-
gehörige E-Zigarette als Mittel zur Heilung, Linderung oder Verhütung der Niko-
tin- oder Tabaksucht vermarkten. Auch durch die Aufmachung der Liquids ent-
stehe beim Verbraucher nicht der Eindruck, dass sie zu arzneilichen Zwecken
bestimmt seien. Ebenso wenig erfüllten die Nikotinlösungen die Merkmale eines
Funktionsarzneimittels nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG. Es könne unter-
stellt werden, dass sie bei bestimmungsgemäßer Anwendung angesichts ihres
nicht unerheblichen Nikotingehalts den Stoffwechsel nennenswert beeinfluss-
ten. Das allein genüge jedoch nicht, um die Arzneimitteleigenschaft zu bejahen.
Die gebotene Gesamtbetrachtung führe zu dem Ergebnis, dass die Liquids ihrer
Funktion nach nicht als Arzneimittel, sondern als Genussmittel anzusehen sei-
en. E-Zigaretten mit Nikotinlösungen ähnelten und imitierten Tabakzigaretten,
die offensichtlich keine Arzneimittel seien. Auch die Beimengung von Aro-
mastoffen stütze die Einstufung als Genussmittel. Die zunehmende Verbreitung
der E-Zigarette sei ebenfalls kein Gesichtspunkt, der für die Annahme eines
Arzneimittels sprechen könne; denn der steigende Absatz sei darauf zurückzu-
führen, dass das Produkt vom Verbraucher überwiegend als Genussmittel an-
gesehen werde. Die Gesundheitsrisiken, die mit dem Verdampfen nikotinhalti-
ger Liquids verbunden seien, erschienen nicht größer als die Gefahren des Ta-
bakrauchens. Im Rahmen der Gesamtschau sei zudem zu beachten, dass
Funktionsarzneimittel typischerweise der Behandlung von Krankheiten oder
unerwünschten körperlichen Zuständen und Beschwerden dienten. Es sei da-
her in den Blick zu nehmen, ob die Liquids objektiv geeignet seien, zu arzneili-
chen Zwecken eingesetzt zu werden, und ob ihnen die Anwender überwiegend
eine therapeutische Zweckbestimmung beimäßen. Beides sei nicht der Fall.
Mit der vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zuge-
lassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanz-
lichen Urteils. Sie macht im Wesentlichen geltend: Das Berufungsgericht habe
den Begriff des Präsentationsarzneimittels unzulässig verengt, weil es die Tat-
bestandsalternative der Linderung von Krankheiten oder krankhafter Beschwer-
den nicht geprüft und die Online-Werbung des Herstellers der Liquids unzu-
reichend aufgegriffen habe. Darüber hinaus habe das Oberverwaltungsgericht
zu Unrecht die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels verneint. Die
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vermeintliche Ähnlichkeit mit der Tabakzigarette bestehe nicht. Auf die Kriterien
der Geschmacksvarianten, Aufmachung und fehlenden Dosierungsempfehlung
könne es nicht entscheidungserheblich ankommen, da es ein Hersteller sonst in
der Hand habe, sein Produkt trotz bestehender pharmakologischer Wirkung aus
dem Anwendungsbereich des Arzneimittelrechts herauszulösen. Der Aspekt der
Verbrauchersicht sei ebenfalls nicht berücksichtigungsfähig; denn das Vorliegen
eines Funktionsarzneimittels beurteile sich ausschließlich nach den objektiven
Merkmalen des Erzeugnisses. Mit dem Kriterium einer auf die Nikotinentwöh-
nung bezogenen therapeutischen Eignung und Zweckbestimmung entferne sich
das Oberverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Europäischen Ge-
richtshofs, der für die Abgrenzung von Arzneimitteln zu anderen Erzeugnissen
wie Lebens- und Genussmitteln allein auf das Merkmal einer nennenswerten
Beeinflussung der Körperfunktionen abstelle. Das Beispiel von Methadon und
Diamorphin zeige, dass auch die Funktion der Substitution durch eine weniger
schädliche Substanz die Arzneimitteleigenschaft begründen könne. Insbeson-
dere der über eine Tabakzigarette deutlich hinausgehende Nikotingehalt und
die erheblichen Gesundheitsrisiken sprächen für die Arzneimitteleigenschaft der
Liquids.
Die Klägerin tritt dem entgegen und verteidigt das angegriffene Urteil. Sie hat
außerdem mitgeteilt, dass sie ihr Ladengeschäft mittlerweile nicht mehr betreibe
und ihr bisheriges Anfechtungsbegehren auf den Antrag umgestellt, festzustel-
len, dass der Bescheid vom 10. Februar 2012 rechtswidrig gewesen ist. Das
Feststellungsinteresse leitet sie aus einer beabsichtigten Schadensersatzklage
gegen die Beklagte wegen Amtshaftung ab.
II
Die Revision der Beklagten bleibt ohne Erfolg. Das Berufungsgericht hat ohne
Verstoß gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) angenommen, dass die
von der streitigen Untersagungsverfügung betroffenen Erzeugnisse keine Arz-
neimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 AMG sind. Danach war der Bescheid rechts-
widrig, weil die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 69 Abs. 1 Satz 1,
Satz 2 Nr. 1 AMG nicht vorgelegen haben.
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1. Nachdem die Klägerin ihren Geschäftsbetrieb aufgegeben und sich dadurch
der Bescheid vom 10. Februar 2012 erledigt hatte, durfte sie ihr Klagebegehren
auf einen Fortsetzungsfeststellungsantrag (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO) umstel-
len. Das Verbot der Klageänderung im Revisionsverfahren (§ 142 Abs. 1 Satz 1
VwGO) steht der Antragsumstellung nicht entgegen. Der Übergang von der An-
fechtungs- zur Fortsetzungsfeststellungsklage ist keine Klageänderung im Sin-
ne des § 91 VwGO (§ 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO) und deshalb auch in
der Revisionsinstanz noch zulässig (stRspr; z.B. BVerwG, Urteile vom 10. April
1997 - 2 C 38.95 - Buchholz 236.1 § 3 SG Nr. 16 S. 34 und vom 26. August
2010 - 3 C 35.09 - BVerwGE 137, 377 Rn. 24, jeweils m.w.N.).
Die Klägerin hat auch das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche be-
rechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des erledigten Ver-
waltungsakts. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus der von ihr angestreb-
ten Staatshaftungsklage, mit der sie gegenüber der Beklagten einen Entschädi-
gungsanspruch wegen Umsatzeinbußen geltend machen will, die sie im Zuge
des angeordneten Verkaufsverbots erlitten habe. Der beabsichtigte Zivilprozess
erscheint - auch in Ansehung der Klageabweisung durch das Verwaltungsge-
richt - nicht offensichtlich aussichtslos (BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C
12.12 - Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 285 Rn. 17 m.w.N.). Ein Entschädigungs-
anspruch der Klägerin nach § 39 Abs. 1 Buchst. b des Ordnungsbehördenge-
setzes für das Land Nordrhein-Westfalen (OBG NW) ist nicht von vornherein
ausgeschlossen. Nach dieser Regelung sind Vermögensschäden (§ 40 Abs. 1
OBG NW) zu ersetzen, die jemandem durch eine rechtswidrige Maßnahme der
Ordnungsbehörden entstanden sind, gleichgültig, ob die Ordnungsbehörden ein
Verschulden trifft oder nicht (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 30. Oktober 1984 - VI ZR
18/83 - NJW 1986, 182; BVerwG, Urteil vom 20. Juni 2013 - 8 C 12.12 -
Buchholz 11 Art. 12 GG Nr. 285 Rn. 18 ff.). Unschädlich ist, dass die Klägerin
sich nicht ausdrücklich auf § 39 Abs. 1 Buchst. b OBG NW gestützt hat. Es
reicht aus, dass sie den potentiell anspruchsbegründenden Sachverhalt darge-
legt hat.
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2. Grundlage der Untersagungsverfügung war § 69 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1
AMG in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I
S. 3394). Danach treffen die zuständigen Behörden die zur Beseitigung festge-
stellter Verstöße und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anord-
nungen. Sie können insbesondere das Inverkehrbringen von Arzneimitteln un-
tersagen, wenn die erforderliche Zulassung für das Arzneimittel nicht vorliegt.
Die Voraussetzungen dieser Eingriffsnorm hat das Oberverwaltungsgericht zu-
treffend verneint. Die von der Klägerin vertriebenen Liquids der Nikotinstärken
„hoch“ (15 mg) und „mittel“ (10 mg) erfüllen weder die Merkmale eines sog.
Präsentationsarzneimittels im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG und Art. 1 Nr. 2
Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für
Humanarzneimittel (ABl. Nr. L 311 S. 67) i.d.F. der Richtlinie 2012/26/EU des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 zur Änderung
der Richtlinie 2001/83/EG hinsichtlich der Pharmakovigilanz (ABl. Nr. L 299
S. 1; dazu unter a), noch handelt es sich bei ihnen um sog. Funktionsarzneimit-
tel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der
Richtlinie 2001/83/EG (dazu unter b).
a) Unter den Begriff des Präsentationsarzneimittels fallen Stoffe oder Zuberei-
tungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und
als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung
menschlicher Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Ein
Erzeugnis erfüllt diese Merkmale, wenn es entweder ausdrücklich als Mittel mit
Eigenschaften zur Heilung, Linderung oder Verhütung menschlicher Krankhei-
ten bezeichnet oder empfohlen wird oder wenn sonst bei einem durchschnittlich
informierten Verbraucher auch nur schlüssig, aber mit Gewissheit der Eindruck
entsteht, dass das Produkt in Anbetracht seiner Aufmachung die betreffenden
Eigenschaften haben müsse (stRspr; z.B. BVerwG, Urteile vom 3. März 2011
- 3 C 8.10 - Buchholz 418.32 AMG Nr. 60 Rn. 12 und vom 26. Mai 2009 - 3 C
5.09 - Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 21 f.; EuGH, Urteil vom 15. November
2007 - C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik Deutschland - Slg. 2007,
I-9811 Rn. 43 ff. m.w.N.).
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Danach sind die streitigen Produkte nicht als Arzneimittel im Sinne von § 2
Abs. 1 Nr. 1 AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/83/EG anzusehen.
Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die nikotinhaltigen Liquids nicht als
Mittel präsentiert werden, die zur Heilung, Linderung oder Verhütung von
Krankheiten bestimmt sind. Weder nach ihrer Bezeichnung und den werbenden
Aussagen noch nach der Produktaufmachung im Übrigen nehmen sie in An-
spruch, Eigenschaften zur Behandlung der Nikotin- oder Tabaksucht aufzuwei-
sen. Diese Tatsachenbewertung bindet das Revisionsgericht (§ 137 Abs. 2
VwGO). Die Beklagte hat hiergegen keine durchgreifenden Revisionsgründe
vorgebracht. Das Oberverwaltungsgericht ist bei seiner Würdigung von zutref-
fenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und hat den Begriff des Präsenta-
tionsarzneimittels entgegen der Auffassung der Beklagten nicht unzulässig ein-
geschränkt. Die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststel-
lungen sind von ihr auch nicht erfolgreich mit einer Verfahrensrüge angegriffen
worden. Ihr Vorbringen erschöpft sich in der Kritik an der Tatsachenwürdigung
des Berufungsgerichts, ohne dass sie, wie es § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO ver-
langt, einen Verfahrensmangel rügt und darlegt.
b) Die Voraussetzungen eines Funktionsarzneimittels liegen ebenfalls nicht vor.
aa) Hierzu zählen nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG (Buchst. b ist unstreitig
nicht einschlägig) und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG alle Stof-
fe und Stoffzubereitungen, die im oder am menschlichen Körper angewendet
oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen
Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische
Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.
Die Entscheidung, ob ein Erzeugnis unter diese Definition fällt, ist von Fall zu
Fall zu treffen. Dabei sind alle Merkmale des Produkts zu berücksichtigen (vgl.
§ 2 Abs. 3a AMG, Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG), insbesondere seine
Zusammensetzung, seine pharmakologischen, immunologischen oder metabo-
lischen Eigenschaften, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner
Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken seiner
Verwendung (stRspr des EuGH; z.B. Urteile vom 3. Oktober 2013 - C-109/12,
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Laboratoires Lyocentre - Rn. 42 und vom 15. Januar 2009 - C-140/07,
Hecht-Pharma - Slg. 2009, I-41 Rn. 32, jeweils m.w.N.). Im Rahmen dieser Ein-
zelfallprüfung sind die pharmakologischen, immunologischen oder metaboli-
schen Eigenschaften das Kriterium, auf dessen Grundlage ausgehend von den
Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses zu beurteilen ist, ob es zur Wieder-
herstellung, Korrektur oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen im
oder am menschlichen Körper angewandt oder einem Menschen verabreicht
werden kann (EuGH, Urteil vom 3. Oktober 2013 - C-109/12, Laboratoires
Lyocentre - Rn. 43). Das Produkt muss die Körperfunktionen nachweisbar und
in nennenswerter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kön-
nen, wobei auf dessen bestimmungsgemäßen, normalen Gebrauch abzustellen
ist (EuGH, Urteile vom 6. September 2012 - C-308/11, Chemische Fabrik
Kreussler - Rn. 35 und vom 30. April 2009 - C-27/08, BIOS Naturprodukte -
Slg. 2009, I-3785 Rn. 21 ff.; BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 - 3 C 5.09 -
Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6 Rn. 13 m.w.N.).
Nicht erfasst vom Begriff des Funktionsarzneimittels sind Stoffe oder Stoffzu-
sammensetzungen, deren Wirkungen sich auf eine schlichte Beeinflussung der
physiologischen Funktionen beschränken, ohne dass sie geeignet wären, der
Gesundheit unmittelbar oder mittelbar zuträglich zu sein (EuGH, Urteil vom
10. Juli 2014 - C-358/13 und C-181/14 - Rn. 38; BVerwG, Beschluss vom
25. Oktober 2007 - 3 C 42.06 - PharmR 2008, 254 <256>; Rennert, NVwZ
2008, 1179 <1184>). Daher können Erzeugnisse, die nicht zu therapeutischen,
sondern ausschließlich zu Entspannungs- oder Rauschzwecken konsumiert
werden und dabei gesundheitsschädlich sind, nicht als Arzneimittel im Sinne
von § 2 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AMG, Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie
2001/83/EG eingestuft werden (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-358/13 und
C-181/14 - Rn. 46). Schließlich genügt es nicht, dass das fragliche Erzeugnis
Eigenschaften besitzt, die der Gesundheit im Allgemeinen förderlich sind, oder
dass es einen Stoff enthält, der für therapeutische Zwecke verwendet werden
kann. Ihm muss vielmehr tatsächlich die Funktion der Heilung, Linderung oder
Verhütung von Krankheiten oder krankhaften Beschwerden zukommen (EuGH,
Urteil vom 15. November 2007 - C-319/05, Kommission ./. Bundesrepublik
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Deutschland - Slg. 2007, I-9811 Rn. 64 f.). Mit anderen Worten, das Produkt
muss objektiv geeignet sein, für therapeutische Zwecke eingesetzt zu werden.
bb) Gemessen daran sind die streitigen Nikotin-Liquids nicht als Funktionsarz-
neimittel anzusehen.
Zwar ist nach den Feststellungen des Berufungsgerichts zugrundezulegen,
dass Nikotin ein Stoff ist, der pharmakologische Wirkungen entfaltet und in den
von der Klägerin vertriebenen Erzeugnissen in einer Dosierung vorhanden war,
die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eine nennenswerte Einwirkung auf
den Stoffwechsel hervorruft. Bei der gebotenen Gesamtschau aller Merkmale
der Produkte ist das Oberverwaltungsgericht aber zu dem Schluss gelangt,
dass sie nach ihrer Funktion Genussmittel sind und ihnen keine Arzneimittelei-
genschaft zukommt. Gegen diese Würdigung ist aus revisionsrechtlicher Sicht
nichts zu erinnern.
Für die Genussmitteleigenschaft spricht nach den Feststellungen des Beru-
fungsgerichts, dass die nikotinhaltige E-Zigarette eine große Ähnlichkeit mit Ta-
bakzigaretten aufweist. Das ergibt sich aus der äußeren Form, der sonstigen
Aufmachung und der Art der Anwendung der E-Zigarette. Danach wird mit dem
Verdampfen der Liquids das Rauchen der Tabakzigarette imitiert. Durch den
Zusatz von Aromastoffen soll ein angenehmer Geschmack erzeugt werden,
wobei dem Anwender vielfältige Geschmacksvarianten zur Auswahl stehen.
Das unterscheidet die Liquids von dem zur Rauchentwöhnung zugelassenen
Arzneimittel „Nicorette Inhaler“, das allein Menthol und Nikotin enthält. Auch
fehlt eine Dosierungsempfehlung, wie sie für Arzneimittel typisch ist. Des Weite-
ren hat das Berufungsgericht festgestellt, dass die Liquids nicht geeignet sind,
zu therapeutischen Zwecken eingesetzt zu werden. Es stützt sich darauf, dass
allein die Möglichkeit, Entzugssymptome kurzfristig zu lindern, die Annahme
einer arzneilichen Zweckbestimmung nicht rechtfertigt, weil die Aufnahme und
Anreicherung von Nikotin der Gesundheit schaden. Diese Argumentation ist
nicht zu beanstanden (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-358/13 und
C-181/14 - Rn. 32 ff.). Einen Vergleich mit den zur Substitution von Betäu-
bungsmitteln zugelassenen Arzneimitteln hat das Oberverwaltungsgericht unter
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Hinweis auf die dafür bestehenden speziellen gesetzlichen Bestimmungen
überzeugend abgelehnt. Schließlich ist den streitigen Liquids auch nicht des-
halb eine therapeutische Eignung beizumessen, weil Erzeugnisse wie Nikotin-
pflaster oder der „Nicorette Inhaler“ als Arzneimittel eingestuft (und zugelassen)
sind. Grundlage für die Qualifizierung dieser Nikotinersatzpräparate als Arznei-
mittel ist ihr Anspruch und ihre objektive Bestimmung, zur Rauchentwöhnung
angewendet zu werden. Einen solchen therapeutischen Nutzen weisen die von
der Klägerin vertriebenen Liquids nach den Feststellungen des Berufungsge-
richts nicht auf. Es hat angenommen, dass sich die Eignung der E-Zigarette als
Mittel zur Erreichung eines Rauchstopps und zur Behandlung der Nikotinsucht
mit dem Ziel der Entwöhnung wissenschaftlich nicht belegen lässt. Dabei stützt
es sich auf verschiedene sachverständige Stellungnahmen und wissenschaftli-
che Erkenntnismaterialien. Dementsprechend messen auch die Konsumenten
den Produkten überwiegend keine arzneiliche Zweckbestimmung bei, sondern
verwenden sie als Genussmittel. Verfahrensrügen gegen diese Tatsachenfest-
stellungen hat die Beklagte nicht erhoben. Sie sind deshalb der Revisionsent-
scheidung zugrundezulegen (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Danach kann die Arzneimitteleigenschaft auch nicht damit begründet werden,
dass mit der Verwendung der Liquids gesundheitliche Risiken verbunden sind.
Das Oberverwaltungsgericht hat nicht verkannt, dass die von dem Inhalieren
des Nikotindampfes ausgehenden Gefahren für die Gesundheit noch nicht ab-
schließend erforscht sind. Nach seinen Feststellungen sind nach dem derzeiti-
gen Stand der Wissenschaft die Gesundheitsrisiken bei bestimmungsgemäßer
Anwendung der E-Zigarette eher geringer einzuschätzen als die Gefahren des
Rauchens herkömmlicher Tabakzigaretten; jedenfalls seien sie nicht größer.
Dieser Befund legt zwar eine Regulierung des Inverkehrbringens und der Kenn-
zeichnung nikotinhaltiger Liquids nahe (vgl. dazu Art. 1 Buchst. f und Art. 20 der
Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom
3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mit-
gliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von
Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der
Richtlinie 2001/37/EG , die von den Mitgliedstaaten bis
zum 20. Mai 2016 umzusetzen ist ). Allein das Bestehen von
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Gesundheitsrisiken bei der Anwendung eines Produkts rechtfertigt es aber
nicht, es als Arzneimittel anzusehen (vgl. EuGH, Urteile vom 30. April 2009
- C-27/08, BIOS Naturprodukte - Slg. 2009, I-3785 Rn. 24 ff. und vom 10. Juli
2014 - C-358/13 und C-181/14 - Rn. 48 f.).
c) § 2 Abs. 3a AMG und Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG führen zu kei-
ner abweichenden rechtlichen Bewertung. Aus ihnen ergibt sich für den Fall,
dass ein Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels fällt und zugleich unter
die Begriffsbestimmung eines Erzeugnisses nach § 2 Abs. 3 AMG fallen kann,
der Vorrang des Arzneimittelrechts. Die Anwendung der „Zweifelsfallregelung“
des § 2 Abs. 3a AMG beruht somit auf der Prämisse, dass das betreffende Pro-
dukt die Voraussetzungen eines Arzneimittels erfüllt (vgl. EuGH, Urteil vom
15. Januar 2009 - C-140/07, Hecht-Pharma - Slg. 2009, I-41 Rn. 24 m.w.N.;
BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2009 - 3 C 5.09 - Buchholz 418.710 LFGB Nr. 6
Rn. 15).
d) Der Nichteinstufung als Arzneimittel steht schließlich nicht entgegen, dass
nikotinhaltige Liquids in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union als
Arzneimittel behandelt werden mögen. Nach ständiger Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs lässt sich nach der gegenwärtigen - nicht vollständi-
gen - Harmonisierung auf dem Gebiet des Arzneimittelrechts nicht ausschlie-
ßen, dass die Frage der Arzneimitteleigenschaft eines Erzeugnisses unter-
schiedlich beurteilt wird. Der Umstand, dass Liquids für E-Zigaretten in einem
Mitgliedstaat als Arzneimittel qualifiziert werden, bindet andere Mitgliedstaaten
daher nicht (EuGH, Urteile vom 3. Oktober 2013 - C-109/12, Laboratoires
Lyocentre - Rn. 45 ff. und vom 15. Januar 2009 - C-140/07, Hecht-Pharma -
Slg. 2009, I-41 Rn. 28).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Kley
Liebler
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
Rothfuß
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