Urteil des BVerwG vom 26.05.2011

Berechtigter, Befreiung, Wirtschaftliches Interesse, Apotheker

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 22.10
OVG 3 KO 808/07
Verkündet
am 26. Mai 2011
Zweigler
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Mai 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley, die Richter
am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Buchheister und Dr. Wysk und die
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Thüringer
Oberverwaltungsgerichts vom 27. April 2010 geändert. Die
Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Verwaltungsge-
richts Gera vom 12. Juni 2007 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin betreibt in J. eine Hauptapotheke und eine Filialapotheke, die ca.
50 m voneinander entfernt liegen. Die Apotheken in J. nehmen reihum an dem
außerhalb der üblichen Öffnungszeiten eingerichteten Notdienst teil, den die
beklagte Apothekerkammer nach ihren Richtlinien über die Regelung der
Dienstbereitschaft und der Schließzeiten der Apotheken anordnet. Die zum
Notdienst eingeteilte Apotheke, muss von 8.00 Uhr bis 8.00 Uhr des Folgetages
durchgehend dienstbereit sein.
Unter dem 4. Juli 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, den Bereit-
schaftsdienst ihrer Filialapotheke in der Hauptapotheke durchführen zu dürfen.
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Zur Begründung führte sie aus, dass die Hauptapotheke über ein größeres Wa-
renlager verfüge und besser erreichbar sei.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 11. Oktober 2006 ab. Den
hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom
13. Dezember 2006 zurück. Für die begehrte Übernahme der Verpflichtung zum
Notdienst durch eine andere Apotheke fehle eine Rechtsgrundlage. § 23 Abs. 2
der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) habe nur Einzelfälle im Blick, ermög-
liche aber keine dauerhaften Befreiungen. Außerdem liege ein berechtigter
Grund im Sinne der Vorschrift nicht vor. Die Konzentration des Notdienstes auf
bestimmte Apotheken begünstige eine unerwünschte Entwicklung hin zu
Schwerpunktapotheken und gefährde die flächendeckende Arzneimittelversor-
gung. Selbst wenn sie berechtigt wäre, eine Apotheke aus betrieblichen Grün-
den auf Dauer vom Notdienst zu befreien, würde sie davon keinen Gebrauch
machen, um Tendenzen zur Ausbildung von Apotheken zweiter Klasse entge-
genzuwirken.
Die Klägerin hat gegen die Ablehnung ihres Antrags Klage erhoben und zur
Begründung im Wesentlichen geltend gemacht, dass ein berechtigter Grund im
Sinne des § 23 Abs. 2 ApBetrO vorliege. Er ergebe sich aus der besseren Arz-
neimittelversorgung und dem größeren Personalbestand in der Hauptapotheke.
Die räumlichen Verhältnisse der Filialapotheke machten es schwierig, dort alle
für den Notdienst erforderlichen Medikamente bereit zu halten. In der Filialapo-
theke beschäftige sie zwei, in der Hauptapotheke dagegen sechs Apotheker.
§ 23 Abs. 2 ApBetrO erfasse nicht nur singuläre Anlässe, um eine Verlagerung
der Dienstbereitschaft zu rechtfertigen. Dies gelte erst recht, wenn die Inhaber
der betroffenen Apotheken identisch seien. Nachdem das Verbot, mehrere Apo-
theken zu betreiben, teilweise aufgehoben worden sei, müsse dieser Umstand
auch bei der Anwendung des § 23 Abs. 2 ApBetrO berücksichtigt werden. Die
Entscheidung der Beklagten sei zudem ermessensfehlerhaft.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. Juni 2007 abgewiesen.
Es fehle an einem berechtigten Grund im Sinne des § 23 Abs. 2 ApBetrO. Dafür
genüge nicht, dass der Apotheker Filialapotheken betreibe. Entsprechendes
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gelte für betriebswirtschaftliche Gründe im Hinblick auf das vorzuhaltende Sor-
timent. Die Einführung von Filialapotheken habe nicht zu einer Ergänzung bzw.
Änderung des § 23 Abs. 2 ApBetrO geführt. Angesichts des gesetzlichen Ver-
sorgungsauftrags müsse die Klägerin mit jeder ihrer Apotheken den Erforder-
nissen eines Notdienstes genügen.
Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung der Klägerin teilweise stattgege-
ben und die Beklagte zu einer erneuten Bescheidung des Antrags unter Beach-
tung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet. Die tatbestandlichen Vor-
aussetzungen des allein in Betracht kommenden § 23 Abs. 2 ApBetrO seien
erfüllt. Die erforderliche Sicherstellung der Arzneimittelversorgung durch eine
andere Apotheke sei angesichts der geringen Entfernung zwischen den Apo-
theken der Klägerin gewährleistet. Es liege auch ein berechtigter Grund im Sin-
ne des § 23 Abs. 2 ApBetrO vor. Ein solcher Grund sei hier erforderlich, weil
der Notdienst an ganze Tage anknüpfe und sich somit auf Zeiträume erstrecke,
die außerhalb der in § 23 Abs. 2 ApBetrO ausdrücklich genannten Zeiten lägen.
Der Begriff des berechtigten Grundes sei im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG weit
auszulegen und erfasse jedes persönliche oder betriebliche Interesse des Apo-
thekers, sofern nicht der Zweck der Dienstbereitschaft entgegenstehe. Die
grundsätzlich ständige Dienstbereitschaft gehöre zu den berufstypischen Pflich-
ten des Apothekenbetreibers. Sie bezwecke, die Arzneimittelversorgung der
Bevölkerung auch zu den Tages- und Nachtzeiten sicherzustellen, in denen im
Allgemeinen Arbeitsruhe herrsche. Die Regelungen über die Dienstbereitschaft
unterlägen als solche keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Allerdings dür-
fe die Pflicht zur Dienstbereitschaft zu keinen unnötigen Belastungen führen. Es
liege zwar nahe, dass ein berechtigter Grund für die Befreiung nicht bereits aus
solchen Interessen abgeleitet werden könne, die typischerweise im Widerstreit
zur Verpflichtung ständiger Dienstbereitschaft stünden. Das rechtfertige aber
nicht, einen berechtigten Grund für eine Befreiung nur bei singulären Ereignis-
sen anzunehmen. Vielmehr seien auch Umstände von nicht nur vorübergehen-
der Dauer zu berücksichtigen. Dem stehe der Ausnahmecharakter der Vor-
schrift nicht entgegen. Die Entscheidung des Gesetzgebers gegen ein System
von Schwerpunktapotheken werde bei einer Konzentration mehrerer Notdienst-
bereitschaften auf eine Apotheke nicht in Frage gestellt. Auch die gleichmäßige
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Einbeziehung aller Apotheken in die Dienstbereitschaftspflicht als Gebot des
formalen Gleichheitssatzes stehe nicht entgegen. Das überkommene Leitbild
des „Apothekers in seiner Apotheke“ sei durch die Lockerung des Mehrbesitz-
verbotes gerade relativiert worden, um die Wirtschaftlichkeit der Betriebsfüh-
rung zu erhöhen. Aus der Erfüllung des Tatbestands folge indes kein Anspruch
der Klägerin auf Erteilung der beantragten Befreiung; denn der Beklagten sei
nach § 23 Abs. 2 ApBetrO Ermessen eingeräumt, das sie bislang in der An-
nahme, schon die Tatbestandsvoraussetzungen seien nicht erfüllt, nicht ausge-
übt habe. Die ansatzweisen Ermessenserwägungen in den ablehnenden Be-
scheiden genügten insoweit nicht.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 23 ApBetrO. Die Norm
biete keine Grundlage für eine dauerhafte Verlagerung des Notdienstes auf ei-
ne andere Apotheke. Die Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung an die
Ausstattung einer Apotheke etwa mit einem Nachtdienstzimmer zeigten, dass
der Verordnungsgeber davon ausgehe, dass jede Apotheke am Notdienst teil-
nehme. Unabhängig davon habe das Berufungsgericht den berechtigten Grund
im Sinne des § 23 Abs. 2 ApBetrO fehlerhaft bejaht. Seit der Zulassung von
Filialapotheken bestehe ein erhebliches wirtschaftliches Interesse der Apothe-
ker an einer Konzentration der Notdienste. Würde schon das als berechtigter
Grund ausreichen, geriete die als Ausnahme konzipierte Möglichkeit des § 23
Abs. 2 ApBetrO zum Regelfall; denn ein Grund für eine Verlagerung lasse sich
unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten praktisch immer anführen. Richtigerwei-
se könne ein berechtigter Grund nicht aus Interessen hergeleitet werden, die
typischerweise in Widerstreit mit der Verpflichtung zur ständigen Dienstbereit-
schaft stünden. Der Begriff sei eng auszulegen und erfasse nur singuläre Um-
stände. Das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG stehe diesem Verständnis nicht
entgegen.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.
Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt die Position der Klägerin.
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II
Die Revision der Beklagten hat Erfolg, weil das Berufungsurteil gegen Bundes-
recht verstößt, soweit der Klage stattgegeben worden ist, und sich insoweit
nicht aus anderen Gründen als richtig erweist.
Das Berufungsgericht hat zwar zutreffend angenommen, dass sich das Begeh-
ren der Klägerin nach § 23 Abs. 2 ApBetrO beurteilt (dazu 1.) und der Tatbe-
stand der Vorschrift erfüllt ist (dazu 2.). Die Annahme eines Ermessensfehlers
der Beklagten hält aber der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand (dazu 3.).
1. § 23 Abs. 2 ApBetrO ist taugliche Grundlage für das Begehren der Klägerin.
Diente die Vorschrift nach früherer Rechtslage lediglich als eine Bestimmung,
die neben die durch die Schließungsanordnungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1
ApBetrO herbeigeführte Notdienstregelung trat, so dient sie nunmehr auch und
in erster Linie der Regelung des Notdienstes selbst, der nach dem hier maß-
geblichen Landesrecht über ein System wechselnder Befreiungen von der
Dienstbereitschaft organisiert ist, das sich allein auf § 23 Abs. 2 ApBetrO stützt.
Die Öffnungszeiten der Apotheken einschließlich der Notdienstbereitschaften
ergeben sich aus einem Zusammenwirken apothekenrechtlicher Vorschriften
und solcher der Ladenschlussgesetze. Den Ausgangspunkt bildet § 23 Abs. 1
Satz 1 ApBetrO, der eine ständige Dienstbereitschaft der Apotheken anordnet
(Öffnungspflicht) und eine Ausnahme nur für den Fall vorsieht, dass die Apo-
theke aufgrund einer Anordnung nach § 4 Abs. 2 LadSchlG geschlossen zu
halten ist. Nach § 4 Abs. 2 LadSchlG hat die zuständige Landesbehörde anzu-
ordnen, dass während der allgemeinen Ladenschlusszeiten abwechselnd ein
Teil der Apotheken geschlossen sein muss (Schließungsanordnung). Der Not-
dienst der Apotheken wird oder wurde auf dieser Grundlage in der Weise her-
beigeführt, dass alle bis auf die jeweiligen Notdienstapotheken zu bestimmten
Zeiten geschlossen werden müssen. Für die danach verbleibenden Zeiten der
Bereitschaftspflicht ordnet § 23 Abs. 1 Satz 2 ApBetrO für bestimmte Tages-
randzeiten unmittelbar selbst eine Befreiung an und ermöglicht darüber hinaus
eine Befreiung durch die zuständige Behörde (§ 23 Abs. 2 ApBetrO).
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Dieses Regelungsgefüge für die Notdienstbereitschaft der Apotheken hat sich
durch die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für das Recht des Laden-
schlusses in die ausschließliche Zuständigkeit der Länder (vgl. Art. 74 Abs. 1
Nr. 11 GG in der Fassung des Gesetzes vom 28. August 2006, BGBl I S. 2034)
geändert, soweit die Länder von der Kompetenz Gebrauch gemacht haben.
Das Land Thüringen hat ein Ladenöffnungsgesetz erlassen (Gesetz vom
24. November 2006, GVBl 2006, 541). Es enthält keine § 4 Abs. 2 LadSchlG
entsprechende Befugnis zum Erlass einer Schließungsanordnung, sondern
sieht lediglich vor, dass Apotheken grundsätzlich an jedem Tag des Jahres ge-
öffnet haben dürfen (§ 3 in Verbindung mit § 5 Satz 1 ThürLadÖffG). Dieses mit
der bundesrechtlichen Pflicht zur ständigen Dienstbereitschaft korrespondie-
rende Öffnungsrecht wird gemäß § 5 Satz 2 ThürLadÖffG für Sonn- und Feier-
tage sowie Heiligabend eingeschränkt für den Fall, dass „durch die Landesapo-
thekerkammer eine Dienstbereitschaft eingerichtet“ ist. Ob darin eine Befugnis-
norm zur Regelung einer Dienstbereitschaft zu sehen ist oder nicht lediglich die
tatbestandliche Anknüpfung an das Gebrauchmachen von einer anderweitig
begründeten Regelungsbefugnis, kann dahingestellt bleiben. Selbst wenn damit
eine landesrechtliche Befugnis begründet würde, ermächtigte sie nicht zu
Schließungsanordnungen im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 ApBetrO. Die dortige
Verweisung auf eine nach § 4 Abs. 2 LadSchlG erlassene Schließungsanord-
nung geht mithin ins Leere. Demgemäß begründet das Thüringer Heilberufsge-
setz eine Zuständigkeit der Beklagten nicht für den Erlass von Schließungsan-
ordnungen nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ApBetrO, sondern nur für Entscheidungen
über Befreiungen insbesondere nach § 23 Abs. 2 ApBetrO (s. § 6 Abs. 1 Nr. 1
des Thüringer Heilberufsgesetzes). Auf dieser Grundlage hat die Beklagte
- ausdrücklich gestützt auf § 23 Abs. 2 ApBetrO - Richtlinien über die Regelung
der Dienstbereitschaft und der Schließzeiten erlassen sowie eine Allgemeinver-
fügung vom 1. Dezember 2006, durch die die Apotheken mit Ausnahme der
zum Notdienst eingeteilten in bestimmter Weise von der Betriebsbereitschaft
befreit werden oder befreit werden können. Der Bereitschaftsnotdienst wird im
Land Thüringen mithin nicht über Schließungsanordnungen, sondern über Be-
freiungen von der Dienstbereitschaft nach § 23 Abs. 2 ApBetrO für alle bis auf
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die jeweiligen Notdienstapotheken herbeigeführt. Daran knüpft das Begehren
der Klägerin an.
2. Der Tatbestand des § 23 Abs. 2 ApBetrO ist erfüllt. Danach kann die zustän-
dige Behörde von der Verpflichtung zur Dienstbereitschaft für die Dauer der
ortsüblichen Schließzeiten, der Mittwochnachmittage, Sonnabende oder der
Betriebsferien und, sofern ein berechtigter Grund vorliegt, auch außerhalb die-
ser Zeiten befreien, wenn die Arzneimittelversorgung in dieser Zeit durch eine
andere Apotheke, die sich auch in einer anderen Gemeinde befinden kann, si-
chergestellt ist.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die von der Be-
klagten nicht angegriffen werden, ist bei einer Verlagerung des Notdienstes auf
die Hauptapotheke der Klägerin die Arzneimittelversorgung im Sinne des § 23
Abs. 2 ApBetrO weiterhin sichergestellt.
Hinsichtlich des weiteren Tatbestandmerkmals des berechtigten Grundes un-
terscheidet § 23 Abs. 2 ApBetrO zwischen verschiedenen Zeiten, auf die sich
das Befreiungsgesuch bezieht. Für Befreiungen für die Dauer der ortsüblichen
Schließzeiten, der Mittwochnachmittage, Sonnabende und der Betriebsferien ist
ein berechtigter Grund nicht erforderlich; dagegen ist er für Befreiungen außer-
halb dieser Zeiten, also insbesondere für Befreiungen während der üblichen
Öffnungszeiten, notwendig. Die Regelung zielt darauf ab, Schließungen zu den
üblichen Öffnungszeiten, in denen das Publikum mit einer Dienstbereitschaft
einer jeden Apotheke rechnet, durch eine zusätzliche Voraussetzung zu er-
schweren. Die Dauer der üblichen Öffnungszeiten ergibt sich aus den Vorgaben
über die allgemeine Befreiung von der Dienstpflicht, hier aus der Allgemeinver-
fügung der Beklagten vom 1. Dezember 2006, wonach die Apotheken - zu-
sammengefasst - Montag bis Freitag von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr mit bis zu zwei
Stunden Mittagspause zwischen 12.00 Uhr und 15.00 Uhr sowie am Samstag
von 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr geöffnet sein müssen und im Übrigen geöffnet sein
dürfen.
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Danach bedarf es hier auf der Tatbestandsebene keines berechtigten Grundes.
Die Klägerin möchte ihre Filialapotheke nicht außerhalb der ortsüblichen
Schließzeiten schließen, sondern gerade während dieser Zeiten an den Tagen,
an denen diese Apotheke zum Notdienst verpflichtet ist und deshalb auch für
die Dauer der ortsüblichen Schließzeiten offen halten muss. Diese Zeiten möch-
te sie durch eine Offenhaltung ihrer Hauptapotheke zu den Notdienstzeiten ab-
decken.
Daran ändert nichts, dass die Notdienstbereitschaft an ganze Tage anknüpft.
Die Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, dass sich das Begehren deshalb
nicht nur auf bestimmte Stunden an den betreffenden Tagen, sondern auch auf
Zeiträume erstrecke, „die außerhalb der in § 23 Abs. 2 ApBetrO ausdrücklich
genannten Zeiten (ortsübliche Schließzeiten, Betriebsferien, Mittwochnachmit-
tage, Sonnabende)“ liege, wird dem Klagebegehren nicht gerecht. Die Klägerin
möchte ihre zum Notdienst eingeteilte Filialapotheke nicht für ganze Tage
schließen, sondern nur für die Zeiten, in denen diese Apotheke an sich von der
Dienstbereitschaft befreit ist, aber wegen der sie treffenden Notdienstbereit-
schaft dennoch öffnen muss, also für die „Dauer der ortsüblichen Schließzei-
ten“. Es geht ihr nur darum, die betrieblichen Erschwernisse des Notdienstes zu
verringern, nicht aber darum, ihre Filialapotheke während der üblichen Öff-
nungszeiten geschlossen zu halten. Das wäre auch betriebswirtschaftlich un-
verständlich, weil es zu einer Verkürzung der Öffnungszeiten ihrer Apotheke
und damit mutmaßlich zu Umsatzeinbußen führen würde.
3. Ist der Tatbestand des § 23 Abs. 2 ApBetrO erfüllt, eröffnet die Vorschrift der
zuständigen Behörde Ermessen, ob sie dem Befreiungsantrag nachkommt. Das
Berufungsgericht hat angenommen, dass die Beklagte ihr Ermessen schon
nicht ausgeübt, jedenfalls aber mit dem Gesichtspunkt der Vermeidung von
Schwerpunktapotheken keine sachgerechte Erwägung angestellt habe, und
deshalb zur Neubescheidung verpflichtet sei. Das hält der revisionsrechtlichen
Überprüfung nicht stand.
Es trifft zwar zu, dass sich die Beklagte in den ablehnenden Bescheiden wie
auch im gerichtlichen Verfahren in erster Linie auf den Standpunkt gestellt hat,
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dass schon der Tatbestand des § 23 Abs. 2 ApBetrO nicht erfüllt sei, weil kein
berechtigter Grund vorliege. Sie hat allerdings im Widerspruchsbescheid ergän-
zend als Ermessenserwägung angeführt, eine Befreiung auch deshalb nicht
erteilen zu wollen, um eine Entwicklung hin zu Schwerpunktapotheken zu ver-
meiden. Vor allem aber hat sie mit ihren Ausführungen zum Fehlen eines be-
rechtigten Grundes und dem Charakter des § 23 Abs. 2 ApBetrO als Ausnah-
mevorschrift Erwägungen in Anwendung ihrer Richtlinien angestellt, die - wenn
auch irrtümlich auf ein Tatbestandsmerkmal zielend - eine sachgerechte Er-
messensausübung tragen. Eine andere als die getroffene Entscheidung wäre
nach dem Regelungsgehalt des § 23 Abs. 2 ApBetrO praktisch ausgeschlos-
sen. Für eine Verpflichtung zur Neubescheidung ist deshalb kein Raum. Dazu
im Einzelnen:
Die Beklagte hat auf der Grundlage des § 23 Abs. 2 ApBetrO Richtlinien erlas-
sen, in denen vorgegeben ist, in welchen Zeiten - über § 23 Abs. 1 Satz 2
ApBetrO hinaus - die Apotheken allgemein von der Dienstpflicht befreit sind,
unter welchen Voraussetzungen sie an einem wechselseitigen Notdienstturnus
teilnehmen müssen und unter welchen Voraussetzungen sie darüber hinaus
Befreiungen von der Dienstpflicht erreichen können. Diese Richtlinien stellen
der Sache nach eine generalisierte Ausübung des nach § 23 Abs. 2 ApBetrO
eingeräumten Ermessens dar, indem sie die zu treffenden Einzelentscheidun-
gen nach einem differenzierten Maßstab vorstrukturieren. Die Richtlinien ver-
langen für Befreiungen, die über die generellen Befreiungen von der Dienst-
pflicht hinausgehen, berechtigte Gründe und nennen als Beispiele wichtige per-
sönliche Angelegenheiten oder Bauarbeiten in der Apotheke (§ 2 Abs. 2 Nr. 3
der Richtlinien, jetzt § 6 Abs. 2 Buchstabe c). Damit wird erkennbar zum Aus-
druck gebracht, dass Befreiungen von der Pflicht zur Dienstbereitschaft, die
über die ohnehin gewährten allgemeinen Befreiungen hinausgehen, nur aus
singulären Anlässen möglich sein sollen, aber nicht zu Dauerbefreiungen allein
deshalb führen können, weil sie betriebswirtschaftlich vorteilhaft wären. Die ak-
tuelle Fassung der Richtlinien bringt dies in § 1 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 noch
deutlicher zum Ausdruck, indem sie die dauerhafte Verlagerung des Notdiens-
tes auf eine Apotheke im Filialverbund grundsätzlich ausschließt.
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Diese Kriterien der Beklagten für Befreiungen vom Notdienst sind nicht sach-
widrig, sondern durch § 23 Abs. 2 ApBetrO vorgegeben. Sie parallelisieren den
von der Vorschrift geforderten berechtigten Grund bei einer Dienstpflichtbefrei-
ung zu den üblichen Öffnungszeiten mit dem Fall einer begehrten Befreiung
vom Notdienst. In beiden Fällen will der Apotheker von einer vorgegebenen all-
gemeinen Regelung der Betriebspflicht abweichen, so dass es gerechtfertigt ist,
an die Bewilligung einer Ausnahme von der Notdienstpflicht jedenfalls im Rah-
men der Ermessensentscheidung strengere Anforderungen zu stellen als an
sonstige Befreiungen von der Betriebspflicht außerhalb der üblichen Öffnungs-
zeiten.
Die Entscheidungspraxis der Beklagten ist auch vor Art. 12 Abs. 1 GG tragfä-
hig. Zwar beeinträchtigt die Entscheidung der Beklagten die Möglichkeit der
freien Berufsausübung der Klägerin, weil sie gezwungen bleibt, für jede ihrer
Apotheken die nach der Apothekenbetriebsordnung vorgesehenen betrieblichen
Belastungen einer Notdienstbereitschaft zu tragen. Diese Beeinträchtigungen
sind aber durch die sachlichen Gründe, die für einen wechselseitigen Notdienst
unter Einbeziehung aller Apotheken sprechen, gerechtfertigt. Er dient dem Ge-
bot der Gleichbehandlung durch eine gerechte Verteilung der Belastungen des
Notdienstes auf die Apotheken und ihr Personal, der gleichmäßigen Verteilung
der Notdienstapotheken auf das Gemeindegebiet und damit der gleichmäßigen
Begünstigung der Einwohner aller Stadtteile, sowie dem Leitbild der Apothe-
kenbetriebsordnung, die jede Apotheke verpflichtet, die notwendigen Arzneimit-
tel und Einrichtungen bereit zu halten, um die Verpflichtung zur Gewährleistung
einer Arzneimittelabgabe außerhalb der üblichen Öffnungszeiten sicherzustel-
len.
Insbesondere ist der in diesen Gründen angelegte und in der Versagung ge-
genüber der Klägerin von der Beklagten zum Ausdruck gebrachte Gesichts-
punkt der Vermeidung einer Entwicklung hin zu Schwerpunktapotheken nicht
willkürlich. Der Gesetzgeber hat zwar 2004 das Mehrbesitzverbot durch die Zu-
lassung von bis zu drei Filialapotheken gelockert (§ 1 Abs. 2 ApoG), aber nicht
die Anforderungen an die Vorhaltungspflichten und die notwendigen Einrichtun-
gen der Apotheken zur Wahrnehmung des Notdienstes (§§ 4, 15 ApBetrO). Vor
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allem hat er die Pflicht zur Dienstbereitschaft und die Befreiungsmöglichkeiten
nach § 23 ApBetrO in Bezug auf Filialapotheken nicht geändert. Er geht mithin
nach wie vor davon aus, dass jede Apotheke, gleich ob Haupt- oder Filialapo-
theke, als „Vollapotheke“ alle Anforderungen der Apothekenbetriebsordnung
nicht nur formal erfüllen, sondern auch tatsächlich wahrnehmen soll. An dieser
Grundentscheidung des Verordnungsgebers ist die Anwendung des § 23 Abs. 2
ApBetrO auszurichten.
Für die zuständigen Behörden besteht deshalb keine Veranlassung, Verbund-
apotheken zur Erleichterung der betrieblichen Abläufe hinsichtlich des Not-
dienstes gegenüber Einzelapotheken zu bevorzugen. Andernfalls geriete die als
Ausnahmevorschrift für besondere Fälle angelegte Befreiungsmöglichkeit des
§ 23 Abs. 2 ApBetrO zu einem generellen Befreiungstatbestand für die Verlage-
rung des Notdienstes auf eine andere Apotheke aus wirtschaftlichen oder be-
trieblichen Erwägungen. Würde diese Möglichkeit für Verbundapotheken eröff-
net, wäre im Übrigen kein Grund ersichtlich, die Verlagerung des Notdienstes
auf solche Apotheken zu beschränken. Vielmehr könnte jeder Apotheker bis an
die Grenze der Gefährdung der Versorgungssicherheit verlangen, den seine
Apotheke treffenden Notdienst auf eine dazu bereite andere Apotheke zu verla-
gern. Dadurch würde eine Entwicklung in Gang gesetzt, die das in der Apothe-
kenbetriebsordnung (bislang) angelegte System des wechselseitigen Notdiens-
tes unter Einbeziehung aller Apotheken verändern und zu einer Ausbildung von
zentral gelegenen und entsprechend ausgestatteten Schwerpunktapotheken
führen würde, die den Notdienst für eine Vielzahl von Apotheken wahrnehmen
würden. Einer solchen Entwicklung mag der Gesetz- und Verordnungsgeber
den Weg bereiten; sie ist aber in der bisherigen Ausgestaltung der Apotheken-
betriebsordnung nicht angelegt.
Gewichtige Gründe, die eine ausnahmsweise Konzentration des Notdienstes
auf eine ihrer Apotheken im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG nahelegten, hat die
Klägerin nicht aufgezeigt. Sie hat vielmehr allgemein auf betriebliche und wirt-
schaftliche Vorteile hingewiesen, die eine Befreiung der Filialapotheke mit sich
brächte. Die Gestaltung des Notdienstes ist indes kein Instrument, um die
Wettbewerbssituation zwischen den teilnehmenden Apotheken zu verändern.
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Sie soll vielmehr darauf angelegt sein, die Belastungen und Nachteile, die die
Teilnahme am Notdienst zwangsläufig mit sich bringt, möglichst gleichmäßig
- und somit möglichst wettbewerbsneutral - auf alle Apotheken zu verteilen.
Auch deshalb ist es nicht sachwidrig, wenn die Beklagte allein betriebliche Vor-
teile nicht zum Anlass nimmt, die Notdienstregelung zugunsten der Klägerin
dauerhaft zu ändern. Hinzu kommt, dass § 23 Abs. 4 ApBetrO eine geeignete
und ausreichende Möglichkeit bietet, um der Situation der Klägerin Rechnung
zu tragen. Die Beklagte hat bereits erklärt, einem entsprechenden Antrag der
Klägerin nach § 23 Abs. 4 Satz 2 ApBetrO voraussichtlich stattzugeben.
Aus einer vormals anderen Verwaltungspraxis kann die Klägerin nichts zu ihren
Gunsten herleiten. Dass die Beklagte nach der Lockerung des Mehrbesitzver-
botes durch den Gesetzgeber zunächst Verlagerungen des Notdienstes zwi-
schen Apotheken desselben Inhabers genehmigt hatte, verwehrt ihr nicht, bei
besserer Erkenntnis später anders zu verfahren. Die Selbstbindung der Verwal-
tung verpflichtet nur zu einer Behandlung aller Fälle nach den gleichen Maßstä-
ben; sie verbietet aber keine Änderung der Maßstäbe für die Zukunft.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Kley
Liebler
Buchheister
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Arzneimittelrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 12 Abs. 1
ApoG
§ 1 Abs. 2
ApBetrO
§ 23 Abs. 2
LadSchlG
§ 4 Abs. 2
ThürLadÖffG
§§ 3, 5
Stichworte:
Apotheke; Notdienst; Dienstbereitschaft; Befreiung; Öffnungszeit; Schließzeit;
Verlagerung des Notdienstes; Hauptapotheke; Filialapotheke; Verbundapothe-
ken; Versorgungssicherheit; berechtigter Grund; Ermessensentscheidung; er-
messenssteuernde Richtlinien.
Leitsatz:
Apotheker mit mehreren Apotheken können nicht verlangen, die turnusmäßigen
Notdienste, zu denen ihre Apotheken eingeteilt sind, wegen betrieblicher Vortei-
le dauerhaft auf eine ihrer Apotheken zu verlagern.
Urteil des 3. Senats vom 26. Mai 2011 - BVerwG 3 C 22.10
I. VG Gera vom 12.06.2007 - Az.: VG 3 K 32/07 Ge -
II. OVG Weimar vom 27.04.2010 - Az.: OVG 3 KO 808/07 -