Urteil des BVerwG vom 23.02.2006

Enteignung, Leitende Tätigkeit, Staatsrat, Unwürdigkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 22.05
Verkündet
VG 2 K 788/04 Ge
am 23. Februar 2006
Bech
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht K l e y und die
Richter am Bundesverwaltungsgericht van S c h e w i c k, Dr. D e t t e,
L i e b l e r und Prof. Dr. R e n n e r t
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des
Verwaltungsgerichts Gera vom 27. April 2005 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamt-
schuldner.
G r ü n d e :
I.
Die Kläger begehren als Rechtsnachfolger des 1977 verstorbenen H.-Ch. J. Aus-
gleichsleistungen für dessen enteigneten landwirtschaftlichen Betrieb.
Eigentümer dieses Betriebs war bis zu seinem Tod im Januar 1942 Paul J., der
Vater von H.-Ch. J.. Paul J. hatte in Thüringen zur NS-Zeit führende Positionen
bekleidet. Er war im Oktober 1931 in die NSDAP eingetreten und seit 1930 Gau-
redner der NSDAP. Von 31. Juli 1932 bis zu dessen Auflösung am 14. Oktober
1933 war er für die NSDAP Abgeordneter im Thüringer Landtag. Von August 1932
bis zu seinem Tod im Januar 1942 gehörte Paul J. zunächst als gewählter und
dann ab Mai 1933 als vom Reichsstatthalter in Thüringen ernannter Staatsrat den
nationalsozialistischen Landesregierungen an. Daneben war er unter anderem von
1933 bis 1942 Kreisbauernführer von A. sowie von 1933 bis Juli 1938 Präsident
des Verbandes thüringischer landwirtschaftlicher Genossenschaften, danach
nahm er eine leitende Tätigkeit in der Raiffeisen-Organisation wahr. H.-Ch. J. erb-
te nach dem Tod seines Vaters dessen landwirtschaftlichen Betrieb. 1945 wurde
der Betrieb im Zuge der Bodenreform enteignet.
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Den Antrag der Kläger zu 1 und 3 auf Rückübertragung des Betriebs nach den
Vorschriften des Vermögensgesetzes lehnte der Beklagte gestützt auf § 1 Abs. 8
Buchst. a VermG mit bestandskräftigem Bescheid vom 6. Juni 1996 ab.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2004 lehnte der Beklagte den Antrag der Kläger auf
Gewährung einer Ausgleichsleistung ebenfalls ab. Die Enteignung nach dem Bo-
denreformgesetz habe sich gegen Paul J. gerichtet, der nach Auffassung der Be-
satzungsmacht als besonders aktiver Nazi gegolten habe. Für die Frage der Un-
würdigkeit sei daher nicht auf H.-Ch. J., sondern auf dessen Vater Paul J. abzu-
stellen. Da er dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet
habe, sei nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG ein Anspruch auf Ausgleichsleistung aus-
geschlossen.
Mit Urteil vom 27. April 2005 hat das Verwaltungsgericht Gera den Bescheid auf-
gehoben und den Beklagten verpflichtet, eine Ausgleichsleistung für den enteigne-
ten landwirtschaftlichen Betrieb zu gewähren. Zur Begründung hat das Verwal-
tungsgericht ausgeführt: Die Voraussetzungen eines Anspruchsausschlusses
nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG lägen nicht vor. Berechtigter im Sinne dieser Vor-
schrift könne entweder der von der Enteignung Betroffene sein, der selbst einen
Anspruch auf Ausgleichsleistung geltend mache, oder - sofern der Enteignungs-
betroffene verstorben sei - dessen Erben und weitere Erben. Der Einwand der
Unwürdigkeit könne dem Enteignungsbetroffenen entgegengehalten werden,
wenn er den Anspruch selbst geltend mache. Der Einwand greife ebenso gegen-
über den Erben und Erbeserben, die den Anspruch geltend machten, wenn sie
ihre Rechte von einem im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG belasteten Enteig-
nungsbetroffenen herleiteten oder sie der Vorwurf der Unwürdigkeit selbst treffe.
Berechtigter im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG sei also nur, wer die Vorausset-
zungen von § 1 Abs. 1 AusglLeistG erfülle und den Anspruch auf Ausgleichsleis-
tung geltend mache. Dagegen sei eine Ausgleichsleistung nicht auch dann zu ver-
sagen, wenn ein unbelasteter Enteignungsbetroffener den Vermögenswert eines
Unwürdigen erworben oder sonst auf rechtmäßige Weise erlangt habe. Ausge-
hend hiervon könne den Klägern eine etwaige Unwürdigkeit von Paul J. nicht ent-
gegengehalten werden. Zum Enteignungszeitpunkt sei H.-Ch. J. Eigentümer des
Betriebs gewesen. Allein er habe daher durch die entschädigungslose Enteignung
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sein Eigentum verloren. In seiner Person lägen die Voraussetzungen für einen An-
Zur Begründung seiner vom Verwaltungsgericht wegen Divergenz zugelassenen
Revision macht der Beklagte geltend: Den Klägern könne nach § 1 Abs. 4
AusglLeistG die Unwürdigkeit von Paul J. entgegengehalten werden, obwohl Ent-
eignungsbetroffener erst sein Sohn gewesen sei. Wie das Bundesverwaltungsge-
richt mit Urteil vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04 - (Buchholz 428.4 § 1
AusglLeistG Nr. 4) entschieden habe, erforderten Sinn und Zweck der Aus-
schlussregelung, auch im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits
verstorbene Personen in die Prüfung einzubeziehen, sofern die Enteignung auf sie
abgezielt habe. Hier habe die Enteignung, wie sich aus den Enteignungslisten
ergebe, auf Paul J. abgezielt. Außerdem habe im Februar 1946 die Landeskom-
mission zur Durchführung der Bodenreform die von H.-Ch. J. gegen die Enteig-
nung eingereichte Beschwerde mit der Begründung zurückgewiesen, dass "der
Staatsrat J. besonders aktiver Nazist gewesen ist". Sei somit die Prüfung auf
Paul J. zu erstrecken, hätten die Kläger keinen Anspruch auf eine Ausgleichsleis-
tung. Paul J. habe dem nationalsozialistischen System, unter anderem als Mitglied
der damaligen nationalsozialistischen Landesregierungen, erheblichen Vorschub
geleistet.
Die Kläger treten der Revision entgegen und führen aus: Entgegen der Annahme
des Verwaltungsgerichts habe sich die Enteignung nicht gegen den bereits 1942
verstorbenen Paul J. gerichtet, sondern auf seinen Sohn abgezielt. Mit den Ent-
eignungen im Zuge der Bodenreform hätten führende Persönlichkeiten des Hitler-
Staates persönlich getroffen werden sollen. Da H.-Ch. J. nicht zu diesem Perso-
nenkreis gehört habe, habe ihm die Thüringer Landeskommission zur Durchfüh-
rung der Bodenreform 1947 mitgeteilt, dass die Enteignung rechtswidrig gewesen
sei und er dafür eine Entschädigung zu erhalten habe. Dies sei in weiteren Schrei-
ben bestätigt worden. Damit sei bereits 1947 die rechtsverbindliche Feststellung
getroffen worden, dass sich die Enteignung gegen H.-Ch. J. gerichtet habe und
rechtswidrig gewesen sei. Versagungsgründe im Sinne von § 1 Abs. 4
AusglLeistG lägen gegen H.-Ch. J. nicht vor. Ob ein Ausschlussgrund hinsichtlich
seines Vaters bestehe, sei unerheblich.
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II.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Auffassung des Verwaltungsge-
richts, dass für die Anwendung des Ausschlussgrundes in § 1 Abs. 4 AusglLeistG
nicht hinter den unmittelbar durch die Enteignung Geschädigten zurückgegriffen
werden kann, steht nicht im Einklang mit Bundesrecht. Das ergibt sich aus dem
Urteil des Senats vom 24. Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04 - (Buchholz 428.4
§ 1 AusglLeistG Nr. 4).
1. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1
AusglLeistG. Danach erhalten natürliche Personen, die Vermögenswerte im Sinne
des § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermö-
gensgesetz) durch entschädigungslose Enteignungen auf besatzungsrechtlicher
oder besatzungshoheitlicher Grundlage in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages
genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) verloren haben, oder ihre Erben oder weiteren
Erben (Erbeserben) eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe dieses Gesetzes.
Im vorliegenden Fall war das streitgegenständliche Grundstück Gegenstand einer
solchen entschädigungslosen Enteignung. Unmittelbar Geschädigter dieser Ent-
eignung war nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts, die mit der Revi-
sion nicht angegriffen werden, H.-Ch. J. Die Kläger zu 1 bis 3 sind dessen Erben.
Sie können daher nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG grundsätzlich einen Anspruch auf
Ausgleichsleistung haben.
2. Jedoch werden gemäß § 1 Abs. 4 AusglLeistG Leistungen nach diesem Gesetz
unter anderem dann nicht gewährt, wenn der nach den Absätzen 1 und 2 Berech-
tigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, dem nationalsozialistischen
System erheblichen Vorschub geleistet hat.
Hier haben weder H.-Ch. J. noch die Kläger dem nationalsozialistischen System
erheblichen Vorschub geleistet. Ob in der Person von Paul J. die Voraussetzun-
gen für einen Anspruchsausschluss nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG vorliegen, hat
das Verwaltungsgericht offen gelassen ("etwaige Unwürdigkeit"). Es hat ange-
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nommen, dass bei der Anwendung von § 1 Abs. 4 AusglLeistG nicht über die Per-
son des unmittelbar Geschädigten hinaus zurückgegangen werden dürfe. Das ist
jedoch unzutreffend. Vielmehr erfordern, wie der Senat in seinem Urteil vom
24. Februar 2005 entschieden hat, die Systematik sowie Sinn und Zweck dieser
Ausschlussregelung, auch Personen in die Prüfung einzubeziehen, die im Zeit-
punkt des Wirksamwerdens der Enteignung bereits verstorben waren, sofern die
Enteignung auf sie abzielte. Der Senat hat dies auf die folgenden Erwägungen ge-
stützt:
"Nach der Gesetzesbegründung zu § 1 Abs. 4 AusglLeistG (vgl. BTDrucks
12/4887 S. 38) soll die Vorschrift verhindern, dass diejenigen, die die Haupt-
verantwortung für die jetzt zu revidierenden Unrechtsmaßnahmen tragen,
das Ausgleichsleistungsgesetz zu ihren Gunsten in Anspruch nehmen. Ent-
sprechende Ausschlussregelungen fänden sich in allen vergleichbaren ge-
setzlichen Regelungen wie z.B. im Bundesentschädigungsgesetz oder im
Lastenausgleichsgesetz. Dieser Ausschlusstatbestand, der in der Fassung
des Regierungsentwurfes (vgl. BTDrucks 12/4887 S. 12) noch auf den ‚nach
Absatz 1 und 2 Berechtigten oder das enteignete Unternehmen’ beschränkt
war, wurde hinsichtlich des ausgeschlossenen Personenkreises noch in den
Ausschussberatungen um den Zusatz ‚oder derjenige, von dem er seine
Rechte ableitet’ erweitert und erhielt damit seine geltende Fassung (Be-
schlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses, BTDrucks 12/7588
S. 12). Diese Ergänzung wird damit begründet, es solle klargestellt werden,
dass auch die Unwürdigkeit des Rechtsvorgängers des Berechtigten zum
Ausschluss des Anspruchs auf Ausgleichsleistung führe (BTDrucks 12/7588
S. 41).
Nur mit der Erstreckung der Prüfung von Ausschlussgründen nach § 1 Abs. 4
AusglLeistG auch auf denjenigen, auf den die Enteignung auf besat-
zungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage abzielte, wird die-
sem Regelungszweck hinreichend Rechnung getragen. Für eine solche Aus-
legung spricht insbesondere der systematische Zusammenhang zwischen
der entschädigungslosen Enteignung und dem Ausschluss vermögensrecht-
licher Ansprüche nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG auf der einen und der
wesentlich auf dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beruhenden (vgl.
dazu BVerfGE 102, 254) ersatzweisen Begründung eines Ausgleichsleis-
tungsanspruchs nach § 1 AusglLeistG auf der anderen Seite. Der Anspruch
auf Ausgleichsleistung nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG beinhaltet ein Surrogat
für den nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG ausgeschlossenen Restitutionsan-
spruch. Dieses Surrogat knüpft an die entsprechende Enteignung an, die
auch dann als wirksam anzusehen ist, wenn sie gegen einen bereits Ver-
storbenen gerichtet war (Urteil vom 28. Juli 1994 - BVerwG 7 C 14.94 -
a.a.O. 256 ff.). Diese Verknüpfung von Enteignung und Ausgleichsleistungs-
anspruch rechtfertigt es, auch für den Surrogatanspruch auf die entschädi-
gungslose Enteignung Bezug zu nehmen und denjenigen in die Prüfung von
Ausschlussgründen einzubeziehen, auf den diese Enteignung abgezielt und
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den sie nur wegen seines zuvor eingetretenen Todes verfehlt hat. Die im an-
gegriffenen Urteil vorgenommene Beschränkung führt demgegenüber zu der
am Regelungszweck und dem dargestellten systematischen Zusammenhang
vorbei gehenden Konsequenz, dass es vom Zeitpunkt des Todes des nach
§ 1 Abs. 4 AusglLeistG Ausgeschlossenen abhängt, ob - bei Tod vor der
entschädigungslosen Enteignung - eine Ausgleichsleistung zu zahlen ist oder
- im Falle des Todes erst nach der entschädigungslosen Enteignung - nicht.
Dieser Auslegung steht - anders, als das Verwaltungsgericht meint - auch
nicht der zeitliche Abstand zwischen der Anspruchsbegründung und dem
Vorschubleisten entgegen. Der hier in Rede stehende Anspruchsausschluss
knüpft ausdrücklich an ein Vorschubleisten zugunsten des nationalsozialisti-
schen Systems an. Der sich daraus zwangsläufig ergebende zeitliche Ab-
stand besteht in gleicher Weise dann, wenn es der durch die Enteignung
unmittelbar Geschädigte selbst war, der Vorschub geleistet hat. Hier geht es
dagegen um die Frage, inwieweit bei der genannten Konstellation dem To-
deszeitpunkt Bedeutung zukommen kann.
Nach der in § 1 Abs. 4 AusglLeistG zum Ausdruck kommenden Wertung des
Gesetzgebers führt schließlich nicht bereits der Umstand zu einer Aufhebung
des Anspruchsausschlusses, dass jedenfalls dem oder den Erben kein er-
hebliches Vorschubleisten im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG zur Last fällt.
Es ist gerade nicht so, dass unbelasteten Erben auf jeden Fall ein Anspruch
auf Ausgleichsleistung gewährt werden sollte. Der Anspruch ist und bleibt
verwirkt. Vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der Regelung ist kein
Grund ersichtlich, weshalb diese Wertung anders ausfallen sollte, nur weil
der frühere durch ein Vorschubleisten belastete Eigentümer vor der Enteig-
nung verstorben ist, wenn - wie hier - gerade seine Belastung der Grund für
den Zugriff auf den Vermögenswert und die entschädigungslose Enteignung
war."
Davon ist auch für den vorliegenden Fall auszugehen.
3. Die entschädigungslose Enteignung hat auf Paul J. und nicht auf seinen im
Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG unbelasteten Sohn H.-Ch. J. abgezielt. Damit ist
auch Paul J. in die Prüfung von Ausschlussgründen nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG
einzubeziehen. Diese Überprüfung ergibt, dass er dem nationalsozialistischen
System erheblichen Vorschub geleistet hat.
a) Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass im Zeitpunkt der Enteignung H.-
Ch. J. Eigentümer des landwirtschaftlichen Betriebs war. Gegen ihn war demzu-
folge die entschädigungslose Enteignung gerichtet. Er war der durch die Enteig-
nung unmittelbar Geschädigte. Von der Frage, gegen wen die Enteignung gerich-
tet war, ist jedoch die Frage zu unterscheiden, auf wen die Enteignung abzielte.
Dies ist derjenige, in dessen Person oder in dessen Verhalten der Enteignende
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den Grund für die entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder
besatzungshoheitlicher Grundlage gesehen hat (Urteil vom 24. Februar 2005,
a.a.O., S. 12).
Dass die Enteignung hier auf Paul J. abzielte, drängt sich schon deshalb auf, weil
sein 1923 geborener Sohn H.-Ch. J. nach den Feststellungen des Verwaltungsge-
richts keinerlei NS-Belastung aufweist. Nachdem die Größe des enteigneten Be-
triebs hier unterhalb der 100 ha-Grenze von Art. II Nr. 3 des Gesetzes über die
Bodenreform im Lande Thüringen vom 10. September 1945 (RegBl I S. 13) für die
Enteignung von "feudaljunkerlichem Boden und Großgrundbesitz" lag, kam als
Rechtsgrundlage nur Art. II Nr. 2 des Gesetzes in Betracht. Nach dessen
Buchst. b wird der Grundbesitz mit allem darauf befindlichen landwirtschaftlichen
Vermögen enteignet, der den Naziführern und den aktiven Verfechtern der Nazi-
partei und ihren Gliederungen sowie den führenden Personen des Hitlerstaates
gehörte, darunter allen Personen, die in der Periode der Naziherrschaft Mitglieder
der Reichsregierung, des Reichstages, einer deutschen Länderregierung oder
eines Landtages waren. Davon wäre, hätte er zum Enteignungszeitpunkt noch
gelebt, die Enteignung von Paul J. als Mitglied der Thüringer Landesregierung
gedeckt gewesen. Dass die Enteignung auf Paul J. abzielte, ergibt sich ebenso
aus dem Schreiben des damaligen Anwalts von H.-Ch. J. vom 10. Oktober 1945,
in dem er selbst geltend macht, die Enteignung sei darauf gestützt gewesen, dass
der frühere Hofeigentümer Paul J. unter dem nationalsozialistischen System Thü-
ringer Staatsrat gewesen sei und seit 1932 der NSDAP angehört habe. Im Schrei-
ben der Landeskommission zur Durchführung der Bodenreform vom 8. Februar
1946 wurde eine weitere Beschwerde gegen die Enteignung mit der Begründung
zurückgewiesen, dass "der Staatsrat J. besonders aktiver Nazist gewesen ist".
Schließlich wird in den vorliegenden Enteignungslisten und Aufstellungen als Ei-
gentümer des enteigneten Betriebs "Paul J.", teilweise mit dem Zusatz "tot", auf-
geführt, oder "J.", mit dem Zusatz "verstorben" genannt, nicht aber H.-Ch. J.
Dies lassen die Kläger unberücksichtigt, wenn sie vortragen, die Enteignung sei
gegen H.-Ch. J. gerichtet gewesen und habe auch auf ihn abgezielt. Ebenso we-
nig können sie den geltend gemachten Anspruch auf Ausgleichsleistung darauf
stützen, es sei in Thüringen bereits 1947 anerkannt worden, dass die gegen H.-
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Ch. J. gerichtete Enteignung wegen dessen fehlender NS-Belastung rechtswidrig
gewesen sei und dass ihm deshalb eine Entschädigung zustehe. Soweit die Klä-
ger dazu erstmals im Revisionsverfahren Schreiben aus den Jahren 1947 und
1952 vorlegen, die dies bestätigen sollen, handelt es sich um im Revisionsverfah-
ren nicht berücksichtigungsfähiges neues tatsächliches Vorbringen. Abgesehen
davon gingen auch diese Schreiben nur von einem in Frage kommenden Ent-
schädigungsanspruch aus, über den aber noch zu entscheiden sei. Schließlich
wäre selbst die Anerkennung eines sich aus dem damals geltenden Recht mögli-
cherweise ergebenden Entschädigungsanspruchs für den vom Bundesgesetzge-
ber neu geschaffenen Anspruch auf Ausgleichsleistung ohne Belang, da dessen
Voraussetzungen abschließend im Ausgleichsleistungsgesetz geregelt werden.
b) Paul J. hat - was auch die Kläger nicht bestreiten - dem nationalsozialistischen
System erheblichen Vorschub im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG geleistet.
Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass Paul J. in verschiedenen nationalso-
zialistischen Organisationen in führender Position tätig gewesen ist. Wie sich aus
allgemein zugänglichen Quellen wie dem vom Thüringischen Hauptstaatsarchiv
erarbeiteten und 1999 erschienenen "Thüringen-Handbuch" ergibt, war Paul J. seit
1931 NSDAP-Mitglied und seit 1930 Gauredner. Dem Thüringer Landtag gehörte
er von Juli 1932 bis zu dessen Auflösung im Oktober 1933 als Abgeordneter der
NSDAP an. Von August 1932 bis zu seinem Tod im Januar 1942 war er Staatsrat
und damit Mitglied der damaligen nationalsozialistischen Landesregierungen in
Thüringen. Den bisherigen Einzelstaaten war bei der Gründung des Landes
Thüringen im Jahr 1920 zugestanden worden, durch einen ihrer Angehörigen in
der Landesregierung vertreten zu sein. Geschah dies nicht durch einen Minister,
übernahm diese Funktion ein vom Landtag gewählter Staatsrat als voll
stimmberechtigter Minister ohne Geschäftsbereich. Im Mai 1933 wurde Paul J. bei
der Neubildung der Regierung, die erstmals nicht vom Thüringer Landtag gewählt,
sondern vom Reichsstatthalter ernannt wurde, erneut zum Staatsrat berufen.
Daneben bekleidete Paul J. bis zu seinem Tod im Januar 1942 führende Positio-
nen u.a. in verschiedenen landwirtschaftlichen Verbänden und Organisationen.
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Paul J. hat demnach nicht nur gelegentlich oder beiläufig das nationalsozialisti-
sche System unterstützt; vielmehr hat er diesem System langjährig an herausge-
hobener Stelle gedient und ihm damit erheblichen Vorschub geleistet. Da diese
Aktivitäten - insbesondere sein Amt als Thüringer Staatsrat - erst mit seinem Tode
im Jahre 1942 ihr Ende fanden, ist davon auszugehen, dass er seine Funktion
wissentlich und willentlich im Sinne der NSDAP und zu deren Nutzen ausgeübt hat
und damit sowohl die objektiven als auch die subjektiven Voraussetzungen des
Ausschlussgrundes des § 1 Abs. 4 AusglLeistG erfüllt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und 2 sowie § 159 VwGO.
Kley
van Schewick
Dr. Dette
Liebler
Prof. Dr. Rennert
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsrecht Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
AusglLeistG
§ 1 Abs. 1, § 1 Abs. 4
VermG
§ 1 Abs. 8 Buchst. a
Stichworte:
Entschädigungslose Enteignung auf besatzungsrechtlicher oder besatzungsho-
heitlicher Grundlage; Ausschluss; Anspruchsausschluss; Ausschlusstatbestand;
dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub leisten; Unwürdigkeit;
unmittelbar Geschädigter; Berechtigter; Erbe; Erbeserbe; Rechtsnachfolge;
Rechtsnachfolger; Rechtsvorgänger.
Leitsätze:
In die Prüfung, ob ein Anspruchsausschluss nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG vorliegt,
ist auch derjenige einzubeziehen, auf den die entschädigungslose Enteignung auf
besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage abgezielt hat, selbst
wenn er im Zeitpunkt der Enteignung bereits verstorben war. Die Enteignung zielt
auf denjenigen ab, dessen Belastung, etwa durch erhebliches Vorschubleisten
zugunsten des nationalsozialistischen Systems, der Grund für den Zugriff auf den
Vermögenswert und die entschädigungslose Enteignung war (wie Urteil vom 24.
Februar 2005 - BVerwG 3 C 16.04).
Urteil des 3. Senats vom 23. Februar 2006 - BVerwG 3 C 22.05
I. VG Gera vom 27.04.2005 - Az.: VG 2 K 788/04 Ge -