Urteil des BVerwG vom 27.05.2002

Unternehmen, Wirtschaftliche Einheit, DDR, Entschädigung

B
U
N
D
E
S
V
E
R
W
A
L
T
U
N
G
S
G
E
R
I
C
H
T
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 2.02
VG 29 A 272.96
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Mai 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht van S c h e w i c k ,
Dr. B o r g s - M a c i e j e w s k i , K i m m e l
und Dr. B r u n n
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
- 2 -
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsver-
fahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Verfahrensbeteiligten streiten lediglich noch über die Höhe
der Entschädigung für ein gegen Ende des Jahres 1938 "arisier-
tes" Unternehmen. Die Klägerinnen, Erbinnen der damaligen Al-
leineigentümerin der "Leipziger-Privat-Telefongesellschaft",
deren Berechtigung im Jahre 1994 bestandskräftig festgestellt
worden ist, beanspruchen als Ersatz für die unstreitig fehlende
Rückübertragungsfähigkeit des Unternehmens eine Entschädigung
auf der Grundlage eines damals festgestellten Einheitswerts
(Einheitswertbescheid vom 26. Oktober 1938, Einheitswert zum
1. Januar 1937: 244 500 RM). Die Beklagte billigt den Klägerin-
nen nur einen Entschädigungsbetrag auf der Grundlage eines
deutlich verminderten Einheitswerts zu mit der Begründung, in
dem Geschäftsjahr 1938 seien dem Unternehmen vor der Schädigung
noch Werte (in Höhe von ca. 130 000 RM) privat entnommen wor-
den.
Der im Jahre 1996 erhobenen Klage auf Feststellung, dass den
Klägerinnen über den behördlicherseits zugestandenen Entschädi-
gungsbetrag hinaus ein weiterer zustehe, hat das Verwaltungsge-
richt mit dem angefochtenen Urteil in Höhe eines Betrages von
490 187,40 DM stattgegeben; es hat die Revision zur Klärung der
von ihm bejahten Frage zugelassen, ob auch dann vom letzten
festgestellten Einheitswert auszugehen ist, wenn dieser verfol-
gungsbedingte Wertverluste vor der Schädigung nicht mehr wider-
spiegelt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt:
- 3 -
Da für das entzogene Betriebsvermögen ein Einheitswert festge-
stellt worden sei, sei nach § 2 Satz 2 NS-VEntschG von diesem
auszugehen. Zu keinem anderen Ergebnis führe eine entsprechende
Anwendung von § 4 Abs. 2 EntschG (i.V.m. § 2 Satz 3
NS-VEntschG). Eine hiernach vorausgesetzte Nichtverwertbarkeit
von Einheitswerten liege in den hier in Rede stehenden Fällen
nicht bereits dann vor, wenn nach der letzten Einheitswertfest-
stellung verfolgungsbedingte Privatentnahmen erfolgt seien. Ei-
ne solche Berücksichtigung widerstrebe der durch § 2
NS-VEntschG bezweckten Pauschalierung. Nur bei einem Fehlen von
Einheitswerten solle auf Ersatzeinheitswerte oder Hilfswerte
zurückgegriffen werden. Das Erfordernis der Verwertbarkeit in
§ 4 Abs. 2 EntschG hingegen beziehe sich erkennbar nur auf DDR-
Betriebs-Einheitswerte nach 1952. Auf NS-Schädigungen treffe
dieser Gesichtspunkt nicht zu, zumal gerade in Fällen von Un-
ternehmensschädigungen aus rassischen Gründen typischerweise
der Wert des Unternehmens zwischen der letzten Hauptfeststel-
lung und der Schädigung erheblich gesunken sei; lege man die
Auffassung der Beklagten zugrunde, so wäre in diesen Fällen
entgegen der eindeutigen Regelung in § 2 Satz 2 NS-VEntschG der
letzte
festgestellte Einheitswert regelmäßig nicht verwertbar.
Demgegenüber müsse auch eine pauschalierende Nichtberücksichti-
gung von erfolgten sog. Privatentnahmen als sachgerecht bewer-
tet werden, denn auch solche Entnahmen seien regelmäßig verfol-
gungsbedingt erfolgt; Geschädigte hätten damals den Firmen die
Vermögenswerte nicht zu eigenem wirtschaftlichen Vorteil entzo-
gen, sondern um diskriminierende Abgaben zu begleichen und Aus-
reisen zu bewerkstelligen. Das sei auch im Streitfall ganz of-
fenkundig der Fall gewesen. Dem könne auch nicht der Gesichts-
punkt entgegengesetzt werden, es müssten Doppelentschädigungen
(in Form von umfassenden Unternehmensentschädigungen und Ent-
schädigungen für die entnommenen Vermögenswerte) vermieden wer-
den; einer solchen Gefahr könne ohne weiteres begegnet werden,
indem zusätzliche Entschädigungsbegehren für die entnommenen
Werte zurückgewiesen werden.
- 4 -
Die Revision rügt vor allem, der vom Verwaltungsgericht einge-
nommene Rechtsstandpunkt führe letztendlich dazu, dass im vor-
liegenden Zusammenhang unter nicht verwertbaren Einheitswerten
nur nicht vorhandene verstanden würden; indessen könne auch ein
vorhandener Einheitswert unverwertbar sein, wie dies im Streit-
verfahren der Fall sei.
Wenn nach den einschlägigen Vorschriften auf den Wiederbeschaf-
fungswert zum 1. April 1956 abzustellen sei, weil die Fälle des
Beitrittsgebiets mit denjenigen NS-Schädigungen gleichbehandelt
werden sollten, die früher im Westen entschädigt worden sind,
so müsse möglichst präzise der Wert des entzogenen Vermögens
zum Zeitpunkt der Schädigung ermittelt werden, der nicht in al-
len Fällen mit dem zuvor ermittelten Einheitswert gleichzuset-
zen sei. Für das Streitverfahren bedeute dies, dass der Wert
des entzogenen Vermögens zum Schädigungszeitpunkt um den Wert
der Privatentnahmen vermindert gewesen sei; daraus ergebe sich
ein verminderter Wiederbeschaffungswert. Auch nach früherem
Reichsbewertungsrecht hätten wesentliche tatsächliche Verände-
rungen sowohl bei Unternehmen als auch bei Grundstücken zu An-
passungen der festgesetzten Einheitswerte Anlass gegeben. Nach
allem sei auch in den hier in Rede stehenden Fällen ein Ein-
heitswert nur dann entsprechend § 4 Abs. 2 EntschG "verwert-
bar", wenn die gesamte wirtschaftliche Einheit, deren Wert
durch den Einheitswert beschrieben worden sei, entzogen worden
sei; im Streitfall sei dies nicht der Fall, weil nur ein Teil
der wirtschaftlichen Einheit entzogen worden sei.
Die Klägerinnen verteidigen das angefochtene Urteil. Eine "ent-
sprechende" Anwendung von § 4 Abs. 2 EntschG verdiene diese Be-
zeichnung im vorliegenden Zusammenhang nur, wenn sie mit dem
Sinn und Zweck des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes und ins-
besondere dessen § 2 im Einklang stehe. Vor diesem Hintergrund
verbiete sich eine Gleichsetzung eines im Sinne des § 4 Abs. 2
EntschG nicht verwertbaren Einheitswerts mit einem vermeintlich
überholten Einheitswert aus der NS-Zeit, weil - wie das Verwal-
tungsgericht zu Recht entschieden habe - der Begriff des ver-
- 5 -
wertbaren Einheitswerts auf eine Besonderheit von DDR-Ein-
heitswerten zugeschnitten sei. Tatsächliche Veränderungen wäh-
rend der NS-Zeit, die nach dem Reichsbewertungsrecht Anlass zu
Einheitswert-Anpassungen gegeben hätten, seien im vorliegenden
Zusammenhang allenfalls bezüglich von Grundstücken beachtlich.
Würde man mit der Revision auf den - allgemein oder im Einzel-
fall verminderten - Unternehmenswert zum Schädigungszeitpunkt
abstellen, so würde der Sinn und Zweck der pauschalierenden Ab-
stellung auf den vorhandenen Einheitswert verfehlt werden.
II.
Die Revision ist unbegründet. Mit der entscheidungstragenden
Annahme, die Bemessung der Entschädigungshöhe für das in der
NS-Zeit entzogene und nicht mehr rückgebbare Unternehmen richte
sich im Streitverfahren ausschließlich nach § 2 Satz 2 des NS-
Verfolgtenentschädigungsgesetzes vom 27. September 1994 (BGBl I
S. 2624, 2632) - NS-VEntschG -, weil die einschränkenden Vo-
raussetzungen einer hier nach § 2 Satz 3 NS-VEntschG allein in
Betracht zu ziehenden entsprechenden Anwendung des § 4 Abs. 2
Satz 1 des Entschädigungsgesetzes vom 27. September 1994
(BGBl I S. 2624, ber. BGBl I 1995 S. 110) - EntschG - nicht
vorlägen, verletzt das angefochtene Urteil des Verwaltungsge-
richts kein Bundesrecht im Sinne des § 137 Abs. 1 VwGO. Nament-
lich trifft die Annahme der Revision nicht zu, die vom Verwal-
tungsgericht verweigerte entsprechende Anwendung von § 4 Abs. 2
Satz 1 EntschG sei deswegen geboten, weil der Einheitswertbe-
scheid vom 26. Oktober 1938 (mit einem Einheitswert des Unter-
nehmens zum 1. Januar 1937 in Höhe von 244 500 RM) zum Schädi-
gungszeitpunkt infolge von bis zum Ende des Jahres 1938 erfolg-
ten Privatentnahmen überholt gewesen und damit im Streitfall
kein "verwertbarer" Einheitswert vorhanden sei.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist insbesondere als Fol-
ge des unanfechtbaren Bescheides vom 9. November 1994 über die
Berechtigung der Klägerinnen im Sinne des § 2 Abs. 1 VermG le-
- 6 -
diglich noch die Frage, ob ihnen über den bereits durch den Be-
scheid vom 30. April 1996 in der Fassung des Widerspruchsbe-
scheids vom 29. Juli 1996 zugestandenen Entschädigungsbetrag
(von etwas über 400 000 DM) hinaus ein weiterer (in Höhe von
annähernd 500 000 DM), nämlich - abzüglich eines bestandskräf-
tig festgesetzten Rückforderungsbetrages (von etwas mehr als
50 000 DM) - ein solcher in Höhe des Vierfachen des Einheits-
werts im Sinne des § 2 Satz 2 NS-VEntschG zusteht. Nur diese
Berühmung versucht die Revision mit der Behauptung zu widerle-
gen, im Rechtssinne sei der damalige Einheitswert nicht ver-
wertbar, mit der Folge, dass auf einen durch einen Bescheid vom
10. September 1976 festgesetzten Ersatzeinheitswert abzustellen
sei, welcher seinerzeit unter Berücksichtigung von bis Ende des
Jahres 1938 erfolgten Privatentnahmen für das Betriebsvermögen
nach Maßgabe des Beweissicherungs- und Feststellungsgesetzes
festgestellt worden ist. Andere Rechtsfragen sind nicht Gegens-
tand des Revisionsverfahrens.
2. Es trifft indessen nicht zu, dass der durch einen Einheits-
wertbescheid vom 26. Oktober 1938 zum 1. Januar 1937 festge-
setzte Einheitswert für das entzogene Vermögen in Höhe von
244 500 RM nicht verwertbar sei.
a) Die rechtliche Berühmung der Revision gründet - wie bereits
im tatsachengerichtlichen Verfahren - auf der tatsächlichen An-
nahme, zwar hätten sich dieser Einheitswert und der Wert des
Betriebsvermögens noch zum 1. Januar 1938 (232 191,17 RM) in
etwa entsprochen, aber beispielsweise in der Vermögenserklärung
für die Judenvermögensabgabe nach dem Stand vom 12. November
1938 sei das Betriebsvermögen nur noch mit 157 043,89 RM ange-
geben gewesen. Das sei namentlich darauf zurückzuführen, dass
aus dem Betriebsvermögen u.a. Wertpapiere entnommen und in Pri-
vatvermögen überführt worden seien, wie sich insbesondere aus
einem Schreiben eines Wirtschaftsprüfers vom 30. März 1939 er-
gebe. Unabhängig davon, ob und inwieweit diese der Revision zu-
grunde gelegten tatsächlichen Annahmen zutreffen, rechtfertigen
sie jedenfalls nicht den von der Revision gezogenen Schluss,
- 7 -
wie sich aus Folgendem ergibt:
b) Mit dem durch § 2 Satz 2 NS-VEntschG gebotenen Abstellen auf
das Vierfache des Einheitswerts sucht das Gesetz erkennbar zu
vermeiden, Berechtigten nicht beherrschbare Risiken aufzubür-
den, die nahezu zwangsläufig mit detaillierteren Entschädi-
gungsberechnungen mehr als 50 Jahre nach der Schädigung und ca.
40 Jahre nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Ermittlung des
Wiederbeschaffungswerts (1. April 1956; § 16 Abs. 1 Satz 2 des
gemäß § 2 Satz 1 NS-VEntschG anzuwendenden Bundesrückerstat-
tungsgesetzes) verbunden wären. In der Beschlussempfehlung und
dem Bericht des Finanzausschusses vom 18. Mai 1994 (BTDrucks
12/7588, S. 44 zu § 2 NS-VEntschG) ist hierzu nämlich dargelegt
worden, dass wegen der zeitlich weit zurückliegenden Schadens-
ereignisse "auch hier auf die Umsetzung der Vorschriften im
Verwaltungsvollzug zu achten" sei, "der durch eine geeignete
Pauschalierung, wo immer dies möglich ist, erleichtert werden
soll." Der Multiplikations-Faktor berücksichtige einerseits den
Grundsatz, dass für die Bemessung des Schadens der Wiederbe-
schaffungswert im Jahre 1956 maßgeblich sei; andererseits sei
zu berücksichtigen, dass die Wiedergutmachungsleistung erst mit
40-jähriger Verspätung erbracht werden könne.
c) Wie sich den vorgenannten Gesetzes-Materialien weiterhin
entnehmen lässt, hat sich der Gesetzgeber freilich nicht der
Einsicht verschlossen, dass der angestrebten Pauschalierung
durch ein Abstellen auf einen Einheitswert Hindernisse entge-
genstehen können, die "auch im Bereich des NS-Verfolgtenent-
schädigungsgesetzes" auf ein "Fehlen von Einheitswerten" zu-
rückzuführen sein können, so dass "auf Ersatzeinheitswerte
oder, wenn auch diese fehlen, auf Hilfswerte zurückzugreifen"
sei (a.a.O. zu Satz 3). Die von der Revision geforderte Gleich-
stellung eines "Fehlens" von Einheitswerten im vorgenannten
Sinne mit zwar vorhandenen bzw. bekannten, aber vermeintlich
sachlich überholten Einheitswerten, was diese zu nicht verwert-
baren im Sinne des § 4 Abs. 2 EntschG mache, ist gleichwohl
nicht gerechtfertigt; im Gegenteil lassen die vorhandenen Ge-
- 8 -
setzes-Materialien eindeutig nur den Schluss zu, dass es in
Fällen der hier in Rede stehenden Art mit einem Abstellen auf
den vervierfachten Einheitswert grundsätzlich sein Bewenden ha-
ben soll:
aa) Mit der Verwendung des Begriffs des "verwertbaren Einheits-
werts" in § 4 Abs. 2 EntschG, der nach der Vorstellung der Re-
vision über § 2 Satz 3 NS-VEntschG entsprechend herangezogen
werden soll, trägt das Gesetz nämlich einem Umstand Rechnung,
der sich in den hier in Rede stehenden Fällen regelmäßig nicht
auszuwirken vermag, was einer entsprechenden Anwendung entge-
gensteht.
Die gültige Fassung von § 4 Abs. 2 Satz 1 EntschG ist hervorge-
gangen aus § 4 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs eines Entschädigungs-
gesetzes vom 10. Mai 1993 (BTDrucks 12/4887, S. 8). Bereits
dieser Entwurf knüpfte die angeordnete Ermittlung des so ge-
nannten Reinvermögens an die Voraussetzung, dass "kein verwert-
barer Einheitswert oder Ersatzeinheitswert vorhanden" ist. In
eindeutiger Weise gibt die Begründung hierzu (a.a.O. S. 33 f.)
zu erkennen, welche Fälle das Gesetz angesprochen wissen will,
wenn zu Recht von verwertbaren bzw. nicht verwertbaren Ein-
heitswerten die Rede sein soll. Insoweit erläutert die Begrün-
dung, dass zwar "bis einschließlich 1952 ... an die vorhandenen
Einheitswerte angeknüpft werden" könne, weil bis dahin das Be-
wertungsrecht und regelmäßig auch die Bewertungspraxis in Ost
und West noch übereingestimmt hätten, dass aber "seit 1953 ...
von der Ausgleichsverwaltung Ersatzeinheitswerte ermittelt wor-
den" seien, "um die Verfälschungen der tatsächlichen Vermögens-
lage seitens der DDR-Finanzämter auszuschalten." Manipulationen
seien insbesondere "in Form willkürlicher Betriebsbewertungen
an der Tagesordnung" gewesen, "um Unternehmer durch rechtswid-
rig festgesetzte Steuerbelastung auch mit Hilfe des Abgaben-
rechts schließlich zur Aufgabe zu zwingen". Aus diesen und wei-
teren - im Einzelnen aufgeführten - Gründen seien "die seit
1953 in der DDR festgestellten Einheitswerte von Unternehmen
- 9 -
für die Berechnung der Entschädigung nicht mehr verwertbar"
(a.a.O. S. 34).
Die hiernach vorliegende Absicht des Gesetzgebers, die Heran-
ziehung von Einheitswerten für die Zeiträume bis 1952 und da-
nach je nach deren "Verwertbarkeit" unterschiedlich zu regeln,
hat in der Gesetz gewordenen Fassung des § 4 Abs. 1 EntschG, an
welchen Abs. 2 anknüpft, auch ihren Niederschlag gefunden.
Danach ist Bemessungsgrundlage der Entschädigung für Unterneh-
men oder Anteile an Unternehmen, die bis einschließlich
31. Dezember 1952 enteignet wurden, das 1,5-fache des im Haupt-
feststellungszeitraum vor der Schädigung zuletzt festgestellten
Einheitswertes (Satz 1). Ist ein Einheitswert nicht festge-
stellt worden oder nicht mehr bekannt, oder ist das Unternehmen
ab 1. Januar 1953 enteignet worden und ist ein Er-
satzeinheitswert nach dem Beweissicherungs- und Feststellungs-
gesetz ermittelt worden, ist das 1,5-fache dieses Wertes maßge-
bend (Satz 2, 1. Halbsatz). Hiervon ist zwar dann abzuweichen
("Die Sätze 1 und 2 gelten nicht ..."), wenn Wiederaufnahme-
gründe im Sinne des § 580 ZPO vorliegen und wenn deren Berück-
sichtigung bei einer Bemessung nach Abs. 2 zu einem Wert führt,
der um mehr als ein Fünftel, mindestens aber 1 000 DM vom Ein-
heitswert oder Ersatzeinheitswert abweicht (Satz 3). Das Vor-
liegen der Voraussetzungen des § 580 ZPO behauptet aber auch
die Beklagte nicht.
bb) Ob vor diesem Hintergrund in den Zusammenhängen des NS-
Verfolgtenentschädigungsgesetzes überhaupt eine Korrektur eines
vorliegenden Einheitswerts aus den 30er-Jahren des letzten
Jahrhunderts zulässig und geboten sein kann, bedarf hier keiner
Entscheidung. Es spricht allerdings bereits viel für die Rich-
tigkeit der Erwägung des Verwaltungsgerichts, erfahrungsgemäß
seien in der fraglichen Zeit die Werte namentlich jüdischer Un-
ternehmen ohnehin verfolgungsbedingt unter ihren wahren Bilanz-
wert bzw. den Einheitswert "herabgewertet" worden, was im vor-
liegenden Zusammenhang zu der nicht hinnehmbaren Konsequenz
- 10 -
führen würde, dass die - so ist das Verwaltungsgericht in der
Sache zu verstehen - noch einigermaßen zuverlässigen Unterneh-
menseinheitswerte entgegen der Regel des § 2 Satz 2 NS-VEntschG
nicht oder nur selten heranzuziehen wären. Jedenfalls rechtfer-
tigte unter den den Streitfall kennzeichnenden Voraussetzungen
selbst eine Vermögensentnahme in der behaupteten Höhe kein Ab-
weichen von der - wie dargelegt - aus guten Gründen angeordne-
ten pauschalierenden, auf einen vorhandenen und zumindest nicht
durch den oder zugunsten des Geschädigten manipulierten Ein-
heitswert abstellenden Verfahrensweise, wenn es - wie das Ver-
waltungsgericht für den Streitfall zutreffend angenommen hat -
allem vorhandenen Erfahrungswissen entsprechend auf der Hand
liegt, dass eine Vermögensentnahme mit an
Gewissheit
grenzender
Wahrscheinlichkeit dem Zweck gedient hat, eine Flucht jüdischer
Geschädigter aus Deutschland vorzubereiten oder zu ermöglichen,
und damit im gleichen Zusammenhang steht wie die in Rede ste-
hende Unternehmensschädigung; in diesem Zusammenhang pflichtet
der erkennende Senat auch der vom Verwaltungsgericht dargeleg-
ten Einschätzung bei, dass der Gefahr von Doppelentschädigungen
leicht zu begegnen sein dürfte.
Soweit
die Beklagte demgegenüber im tatsachengerichtlichen Ver-
fahren gleichwohl darauf abgehoben hat, dass auch in solchen
Fällen festgestellte Einheitswerte "überholt" sein könnten, und
sich hierbei u.a. auch auf die Begründung zu § 4 Abs. 2 des
Entwurfs des Entschädigungsgesetzes (a.a.O. S. 34) berufen hat,
übersieht sie, dass dort von überholten Ersatzeinheitswerten
- also gerade nicht von überholten Einheitswerten - die Rede
ist, mithin der Fall behandelt wird, dass ein Einheitswert
nicht vorhanden bzw. ermittelbar oder im vorstehend dargestell-
ten Verständnis wegen erfahrungsgemäß anzunehmenden Manipulati-
onsverdachts in der Zeit nach 1952 nicht verwertbar ist.
cc) Mit seiner Annahme, dass die - verfassungsrechtlich unbe-
denkliche (vgl. BVerfG, Urteil vom 22. November 2000 - 1 BvR
2307/94 u.a. - BVerfGE 102, 254 <341 ff.>) - Berechnungsmethode
des Abstellens auf das Vierfache eines bekannten Einheitswertes
- 11 -
eines während der NS-Zeit entzogenen Unternehmens (vgl. zur He-
ranziehung von Grundstückseinheitswerten im Zusammenhang von
NS-Schädigungen: Urteil vom 27. Mai 1997 - BVerwG 7 C 67.96 -
Buchholz 428 § 1 VermG Nr. 112 S. 342 m.w.N.) grundsätzlich
keine diesen Wert absenkende Ausnahme erleidet, befindet sich
der erkennende Senat auch in inhaltlicher Übereinstimmung mit
der herrschenden Meinung im Schrifttum.
Sowohl Heise/Leiner (in: Fieberg u.a., VermG, § 2 NS-VEntschG
Rn. 12 und Rn. 14) als auch Budde (in: Rädler u.a., Vermögen in
der ehemaligen DDR, Handbuch, § 2 NS-VEntschG Rn. 4 und Rn. 6)
und Motsch (in: Motsch u.a., Kommentar zum EALG, § 2 NS-
VEntschG Rn. 15 i.V.m. Rn. 8) knüpfen das Erfordernis des Zu-
rückgreifens auf einen Ersatzeinheitswert bzw. einen Hilfswert
im rechtlichen Ausgangspunkt entweder ausdrücklich oder der Sa-
che nach an die Voraussetzung, dass der Einheitswert nicht
festgestellt worden oder nicht mehr bekannt ist.
Soweit
Motsch (a.a.O. Rn. 9) von der Möglichkeit eines wegen
einer erheblichen Veränderung des Objekts in tatsächlicher Hin-
sicht untauglichen Einheitswerts ausgeht, wird zum einen nicht
deutlich, ob diese Aussage nur für die dort behandelten Grund-
stücks- oder auch für Unternehmensentschädigungen gilt, und zum
anderen ist nicht sicher zu ermitteln, ob gegebenenfalls damit
auf den Begriff des verwert- bzw. nicht verwertbaren Einheits-
werts im Sinne des § 4 Abs. 2 EntschG rekurriert wird. Ähnli-
ches gilt bezüglich der Darlegungen Buddes (a.a.O. Rn. 6), wo
ebenfalls erheblichen Veränderungen des Objektes in tatsächli-
cher Hinsicht eine Bedeutung beigemessen wird. Sowohl bei
Motsch als auch bei Budde ist es wegen des ausdrücklichen Hin-
weises auf § 3 Abs. 3 EntschG nahe liegend anzunehmen, dass die
vorgenannten Erwägungen lediglich und ausschließlich tatsächli-
che Grundstücksveränderungen betreffen.
Soweit
Heise/Leiner
(a.a.O. Rn. 14) auch im Zusammenhang von Unternehmensentschädi-
gungen auf das Nichtvorhandensein eines verwertbaren Einheits-
werts abstellen, würde - sollten die Autoren im Sinne der Revi-
sion verstanden werden wollen - jedenfalls eine Begründung da-
- 12 -
für fehlen, wieso trotz des - wie vorstehend dargelegt - im
Ausgangspunkt eingeschränkten Bedeutungsgehalts des Begriffs
des verwertbaren Einheitswerts in § 4 Abs. 2 EntschG eine ent-
sprechende Übertragung auf die Zeit der NS-Verfolgungen ange-
zeigt sein soll.
Auch maßgeblichen Erläuterungen zu § 4 Abs. 2 EntschG (vgl. et-
wa Hahnenfeld in: Fieberg u.a., VermG, § 4 EntschG Rn. 48 ff.;
Rodenbach in: Motsch u.a., Kommentar zum EALG, § 4 EntschG
Rn. 25 f.; ders. in: Rädler u.a., Vermögen in der ehemaligen
DDR, Handbuch, § 4 EntschG Rn. 20 ff.) ist kein Anhalt dafür zu
entnehmen, dass die Autoren das für DDR-Einheitswerte nach
1952/1953 erkannte Problem nicht verwertbarer Werte sinngemäß
auf die NS-Zeit übertragen wissen wollen; selbst die Revision
hat entsprechendes Schrifttum nicht benennen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Driehaus
van Schewick
Dr. Borgs-Maciejewski
Kimmel
Dr. Brunn
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren
auf 250 628,83 € (entspricht dem vom Verwaltungsgericht festge-
setzten Streitwert in Höhe von 490 187,40 DM) festgesetzt.
Prof. Dr. Driehaus
van Schewick
Dr. Brunn
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
NS-Verfolgten-Entschädigungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
EntschG § 4 Abs. 2
NS-VEntschG § 2 Sätze 1, 2 und 3
Stichworte:
"Arisierung"; Unternehmensentziehung während NS-Zeit; NS-Zeit,
Unternehmensentziehung während -; Einheitswert, für Unternehmen
nach Reichsbewertungsrecht; Ersatzeinheitswert; Privatentnah-
men, aus Unternehmen nach Festsetzung eines Einheitswerts; ver-
wertbarer Einheitswert im Sinne des EntschG; Einheitswert,
(nicht) verwertbarer -; Entschädigungsberechnung; DDR-Einheits-
wert, kein verwertbarer - für Unternehmen nach 1952.
Leitsatz:
Eine sog. Privatentnahme von Vermögenswerten aus (jüdischen)
Unternehmen nach einer nach 1935 erfolgten Einheitswertfestset-
zung gemäß Reichsbewertungsrecht, die aller Erfahrung nach dazu
gedient hat, die Flucht der (jüdischen) Geschädigten zu ermög-
lichen, führt aus der Sicht des NS-Verfolgtenentschädigungs-
gesetzes regelmäßig nicht zu einer Unverwertbarkeit des Ein-
heitswerts im Sinne des (gemäß § 2 Satz 3 NS-VEntschG entspre-
chend anwendbaren) § 4 Abs. 2 Satz 1 EntschG.
Urteil des 3. Senat vom 27. Mai 2002 - BVerwG 3 C 2.02
I. VG Berlin vom 08.11.2001 - Az.: VG 29 A 272.96 -