Urteil des BVerwG vom 12.06.2003

Grundstück, Eigentum, Enteignung, Vorrang

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 19.02
VG 6 K 29/00
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Juni 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D r i e h a u s
sowie die Richter am Bundesverwaltungsgericht van S c h e w i c k ,
Dr. B o r g s – M a c i e j e w s k i , Dr. B r u n n und Dr. G r a u l i c h
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts
Chemnitz vom 28. Januar 2002 und der Bescheid der Beklagten vom
10. Dezember 1999 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass das Eigentum am
Flurstück mit der Nummer 385 a der Gemarkung Beierfeld, Grund-
buchblatt 208, am 3. Oktober 1990 auf die Klägerin übergegangen ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der
außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
G r ü n d e :
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob das in der Gemarkung Beierfeld gelegene Flur-
stück 385 a am 3. Oktober 1990 der klagenden Gemeinde oder dem beigeladenen Freistaat
Sachsen zustand.
Das Grundstück stand nach Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst in Privateigentum. Das
darauf befindliche Gebäude diente als Lichtspieltheater. Aufgrund des Sächsischen Geset-
zes zur Übernahme der Lichtspieltheater durch das Land Sachsen vom 10. Dezember 1948
(GVBl S. 651) wurde das Anwesen enteignet und ging in das Eigentum des Landes Sachsen
über. Rechtsträger des 1953 in Volkseigentum überführten Grundstücks war zunächst der
VEB Kreislichtspielbetrieb Schwarzenberg, später - ausweislich des Grundbuchs und des
angefochtenen Bescheides - der VEB Gebäudewirtschaft Schwarzenberg.
Nach der Wiedervereinigung machten sowohl die Klägerin wie der Beigeladene Ansprüche
auf das Grundstück geltend. Dabei berief sich der Beigeladene auf sein durch die Enteig-
nung erlangtes Eigentumsrecht, das einen Restitutionsanspruch nach Art. 21 Abs. 3 i.V.m.
Art. 22 Abs. 1 Satz 7 EV begründe. Die Klägerin stützte ihr Begehren auf Art. 22 Abs. 4
Satz 1 EV i.V.m. § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG. Das Anwesen sei in der maßgeblichen Zeit zu
40 v.H. zu Wohnzwecken genutzt worden; im Übrigen sei es wegen Baufälligkeit unbewohn-
bar gewesen.
Mit Bescheid vom 10. Dezember 1999 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab und
stellte fest, dass der durch die zwischenzeitliche Veräußerung des Grundstücks erzielte Er-
lös dem Beigeladenen zustehe. Dabei ging sie davon aus, dass der Beigeladene einen Res-
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titutionsanspruch habe, dem die Klägerin keine Ausschlussgründe entgegenzusetzen ver-
möge.
Die gegen den Bescheid erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom
28. Januar 2002 mit folgender Begründung abgewiesen: Das streitgegenständliche Grund-
stück gehöre nicht zu dem im Sinne von Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV zur Wohnungsversorgung
genutzten volkseigenen Vermögen. Das Anwesen habe sich weder in der Rechtsträgerschaft
eines volkseigenen Betriebes der Wohnungswirtschaft befunden, noch lägen die Vorausset-
zungen des § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG vor. Da das Hausgrundstück nur zu 40 % zu Wohn-
zwecken genutzt worden sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass es für diesen
Zweck "überwiegend" bestimmt war und genutzt wurde. Hingegen stehe dem Beigeladenen
ein Restitutionsanspruch aufgrund des durch die Enteignung erlangten Eigentums an dem
streitgegenständlichen Grundstück zu.
Die Klägerin begründet ihre gegen dieses Urteil eingelegte Revision wie folgt: Das streitge-
genständliche Gebäude habe entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts insgesamt
der Wohnungsversorgung im Gebiet der Klägerin gedient. Bei fehlender Nutzbarkeit
Gebäudeteiles komme es nämlich für die Gesamtbewertung auf die tatsächliche Nutzung
des anderen Gebäudeteiles an.
Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.
II.
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht (§ 137
Abs. 1 Nr. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144
Abs. 4 VwGO). Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts dient ein teilweise bewohn-
tes Gebäude auch dann "überwiegend" Wohnzwecken (Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV i.V.m. § 1 a
Abs. 4 Satz 2 VZOG), wenn es zu einem größeren Teil unbewohnbar war.
Die Klägerin kann die begehrte Feststellung verlangen, weil sie die Voraussetzungen des
Art. 22 Abs. 4 EV erfüllt und deshalb Vorrang genießt vor einem etwaigen Restitutionsan-
spruch des Beigeladenen.
Gemäß Art. 22 Abs. 4 Sätze 1 und 3 EV ist das zur Wohnungsversorgung genutzte volksei-
gene Vermögen, das sich in Rechtsträgerschaft der volkseigenen Betriebe der Wohnungs-
wirtschaft befand, mit Wirksamwerden des Beitritts in das Eigentum der Kommunen überge-
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gangen. Diese Kriterien treffen zu Gunsten der Klägerin auf das streitgegenständliche Ge-
bäude zu.
Allerdings ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, das Gebäude habe in der
Rechtsträgerschaft eines volkseigenen Betriebes der Wohnungswirtschaft gestanden, so
dass der Klägerin ein Anspruch jedenfalls nach dieser Vorschrift nicht zustehen könne. An
diese Feststellung ist der erkennende Senat indes nicht gebunden.
Freilich kann die Frage der Rechtsträgerschaft nicht etwa deshalb dahingestellt bleiben, weil
den Kommunen das Eigentum an solchem Vermögen gemäß § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG
auch dann zusteht, wenn es sich nicht in der Rechtsträgerschaft eines derartigen VEB be-
funden hat, diesem oder der Kommune aber zur Nutzung sowie zur selbständigen Bewirt-
schaftung übertragen worden war. Die Gleichwertigkeit dieser Voraussetzungen gilt nämlich
nicht im Verhältnis zu entgegenstehenden Restitutionsansprüchen. Das von Art. 22 Abs. 4
Satz 1 EV unmittelbar erfasste Vermögen ist restitutionsfest, denn der die Restituierbarkeit
von Finanzvermögen begründende Absatz 1 (Satz 7 i.V.m. Art. 21 Abs. 3 EV) dieses Artikels
gilt bestimmungsgemäß nicht. Abweichend davon weist § 1 a Abs. 4 Satz 1 VZOG den
Kommunen das Wohnungsvermögen "nach Maßgabe des Artikels 22 Abs. 1 des Einigungs-
vertrages" zu. Dadurch wird der den Restitutionsvorbehalt enthaltende Art. 22 Abs. 1 Satz 7
EV i.V.m. Art. 21 Abs. 3 EV für anwendbar erklärt (vgl. Urteile vom 30. Januar 1997
- BVerwG 3 C 6.96 - Buchholz 428.2 § 2 VZOG Nr. 7 S. 17 sowie vom 28. September 1995
- BVerwG 7 C 84.94 - Buchholz 111 Art. 22 EV Nr. 15 S. 46). Unter der sich aufdrängenden
Annahme eines begründeten Restitutionsanspruchs des Beigeladenen setzt der Klageerfolg
somit die Rechtsträgerschaft eines VEB der Wohnungswirtschaft voraus.
Die von der Vorinstanz getroffene Feststellung zur Rechtsträgerschaft ist aber aktenwidrig
und bindet deshalb das Revisionsgericht nicht. Ausweislich des Grundbuchs, des Zuord-
nungsbescheides der Beklagten sowie zahlreicher anderer Belege in den vom Verwaltungs-
gericht in Bezug genommenen Gerichts- und Verwaltungsakten stand das Grundstück am
3. Oktober 1990 in der Rechtsträgerschaft des VEB Gebäudewirtschaft Schwarzenberg
und
somit eines Betriebes der Wohnungswirtschaft. Hierin sind sich alle Beteiligten einig. Offen-
bar hat sich das Verwaltungsgericht bei seiner nicht weiter begründeten Feststellung von der
auf Seite 3 des Urteilsabdrucks erwähnten ursprünglichen Rechtsträgerschaft des VEB
Kreislichtspielbetrieb Schwarzenberg im Jahre 1953 irreführen lassen und den späteren
Rechtsträgerwechsel übersehen.
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Ein solcher offensichtlicher Widerspruch zwischen einer tatsächlichen Feststellung im Urteil
des Tatsachengerichts und der Aktenlage darf vom Revisionsgericht jedenfalls dann auch
ohne Verfahrensrüge von Amts wegen berücksichtigt werden, wenn die Verwaltungsvorgän-
ge, aus denen sich ein solcher offensichtlicher Widerspruch ergibt, - wie hier - zum Gegen-
stand der mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts gemacht und im Urteil verwertet
worden sind (vgl. Urteil vom 29. April 1988 - BVerwG 9 C 54.87 - BVerwGE 79, 291).
Bei dem streitgegenständlichen Anwesen handelt es sich trotz des 60-prozentigen Leerstan-
des um "zur Wohnungsversorgung genutzte(s) volkseigene(s) Vermögen" i.S. von Art. 22
Abs. 4 Satz 1 EV. Es diente nämlich "ganz oder überwiegend Wohnzwecken" und erfüllte
somit die maßgeblichen Kriterien der in § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG enthaltenen Legaldefiniti-
on.
Das Verwaltungsgericht hat die Anwendbarkeit dieser Tatbestandsvoraussetzung auf ein zu
40 % zu Wohnzwecken und zu 60 % nicht genutztes Hausgrundstück allerdings mit der Be-
gründung verneint, der Wohnzweck sei hier nicht der überwiegende. Diese Bewertung greift
die Revision zu Recht an.
Richtig ist, dass bei einem nur zu 40 % genutzten Gebäude die Nichtnutzung die Nutzung
überwiegt. Eine 40-prozentige Nutzung für Wohnzwecke kann also nur überwiegen, wenn
die 60-prozentige Nichtnutzung unberücksichtigt zu bleiben hat. Hiervon ist aus folgenden
Gründen auszugehen:
Dem Zuordnungsmerkmal "überwiegende Nutzung" liegt die Vorstellung einer Mehrzweck-
nutzung zugrunde, d.h. einer Nutzung zu verschiedenen Zwecken und regelmäßig durch
verschiedene Zuordnungsprätendenten. Unter mehreren Nutzungsbeteiligten soll derjenige
mit dem höchsten Nutzungsanteil zuordnungsberechtigt sein. Das Entscheidungsmerkmal
"überwiegende Nutzung" dient also der Auflösung einer aus der Nutzung desselben Gegen-
standes resultierenden Anspruchskonkurrenz. Eine solche ist nicht gegeben, wenn - wie im
vorliegenden Fall - nur Nutzer bzw. Nutzungszweck vorhanden ist. Die vollständige oder
partielle Nichtnutzung ist weder Nutzungszweck noch anspruchsbegründendes Zuordnungs-
kriterium und hat daher außer Betracht zu bleiben. Sie ist das Gegenteil von Nutzung, so
dass die Rechtsprechung des Senats zur gemischten Nutzung auf einen Fall wie den vorlie-
genden nicht übertragbar ist.
Für die alleinige Relevanz der genutzten Anteile spricht auch der das Zuordnungsrecht be-
herrschende generelle Vorrang des von einer stichtagsbezogenen Nutzung ausgehenden
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Funktionalprinzips gegenüber anderen Verteilungsschlüsseln. Er dient der Kontinuität der
Aufgabenerfüllung, soll also die unterbrechungsfreie Fortführung der öffentlichen Aufgabe
durch Belassung des beanspruchten Vermögensgegenstandes bei dem bisherigen Aufga-
benträger ermöglichen (vgl. Urteil des Senats vom 24. Oktober 2002 - BVerwG 3 C 42.01 -
BVerwGE 117, 125; ZOV 2003, 116; VIZ 2003, 182). Dies gilt in besonderer Weise für den
Erhalt und die Ausweitung des ehemals volkseigenen Wohnungsbestandes. Dieses gesetz-
geberische Anliegen findet seinen Ausdruck sowohl in dem bereits erwähnten Restitutions-
ausschluss in Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV wie auch in der Erstreckung dieser Privilegierung auf
(nur) geplante Objekte der Wohnungsversorgung (Art. 22 Abs. 4 Satz 2 EV) sowie auf
Wohngebäude, die am 3. Oktober 1990 - z.B. wegen Baufälligkeit - leer standen, jedoch der
Wohnnutzung ganz oder teilweise wieder zugeführt werden sollen (§ 1 a Abs. 4 Satz 2
VZOG). Mit dieser Intention stünde es im Widerspruch, wenn eine aktuelle - nicht nur geplan-
te - 40-prozentige Wohnnutzung trotz Fehlens einer anderweitigen Nutzung in Wegfall gera-
ten dürfte.
Der Anspruch der Klägerin erweist sich somit als begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu
Unrecht angenommen, ein zu 60 % wegen Baufälligkeit leer stehendes und zu 40 % Wohn-
zwecken dienendes Gebäude erfülle nicht die Voraussetzungen des Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV
i.V.m. § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG. Wie bereits dargelegt, setzt sich der Anspruch aus Art. 22
Abs. 4 EV auch gegenüber Restitutionsansprüchen durch. Ob der beigeladene Freistaat res-
titutionsberechtigt ist oder nicht, braucht daher nicht entschieden zu werden.
Prof. Dr. Driehaus
van Schewick
Dr. Borgs-Maciejewski
Dr. Brunn
Dr. Graulich
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Prof. Dr. Driehaus
Dr. Borgs-Maciejewski
Dr. Brunn
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Vermögenszuordnungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquellen:
EV
Art. 22 Abs. 4 i.V.m.
VZOG § 1 a Abs. 4
VwGO § 137 Abs. 2
Stichworte:
Wohnungswirtschaft; Wohnungsversorgung; überwiegende Nutzung zu Wohnungszwecken;
überwiegende Nichtnutzung wegen Unbewohnbarkeit; Aktenwidrigkeit von Feststellungen;
Feststellung, aktenwidrige.
Leitsätze:
Die Zuordnung ehemaligen Volkseigentums nach Maßgabe der überwiegenden Nutzung
(Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und Art. 22 Abs. 1 Satz 2 EV; § 1 a Abs. 4 Satz 2 VZOG) setzt eine
Nutzung des beanspruchten Vermögensgegenstandes zu mindestens zwei Zwecken voraus.
Diese Voraussetzung trifft nicht zu auf ein Gebäude, das zu mehr als der Hälfte unbenutzbar
war und im Übrigen Wohnzwecken diente. Das Gebäude gehört insgesamt zu dem zur
Wohnungsversorgung genutzten volkseigenen Vermögen (Art. 22 Abs. 4 Satz 1 EV).
Urteil des 3. Senats vom 12. Juni 2003 - BVerwG 3 C 19.02
I. VG Chemnitz vom 28.01.2002 - Az.: VG 6 K 29/00 -