Urteil des BVerwG vom 01.03.2012

Lebensmittel, Zutat, Verordnung, Europäische Union

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 15.11
VG 5 A 71/09
Verkündet
am 1. März 2012
Bech
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Buchheister, Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
für Recht erkannt:
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Verwal-
tungsgerichts Braunschweig vom 15. Dezember 2010 wird
zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
G r ü n d e :
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Die Beteiligten streiten über die Verkehrsfähigkeit der Produkte „Doppelherz
system Gelenk 700 mit Glucosamin und Chondroitin“, „Doppelherz aktiv Gelenk
Kapseln extra 600 mit Glucosamin und Chondroitin“, „Doppelherz aktiv Gelenk
Kapseln mit Glucosamin 500“, „Doppelherz aktiv Gelenk Kapseln mit Glucosa-
min“ und „Doppelherz Magnesium + Glucosamin Kapseln“, die die Klägerin her-
stellt und seit mehreren Jahren als Nahrungsergänzungsmittel in Deutschland
in den Verkehr bringt. Nach der Produktbeschreibung soll die Einnahme der
Kapseln zur Gesunderhaltung der Gelenke beitragen. Die Kapseln enthalten
neben weiteren Zutaten produktabhängig zwischen 300 mg und 700 mg Gluco-
saminsulfat; die maximal empfohlene Verzehrmenge liegt bei 1000 mg täglich
(entspricht ca. 786 mg Glucosamin). Die beiden Erzeugnisse mit Chondroitin
enthalten 150 mg bzw. 50 mg Chondroitinsulfat je Kapsel.
Nachdem die Zutat Glucosamin(sulfat) von den Lebensmittelüberwachungsbe-
hörden einiger Bundesländer als zulassungspflichtiger Stoff im Sinne von § 2
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches (LFGB)
eingestuft worden war, beantragte die Klägerin für ihre Produkte im Oktober
2007 und April 2008 vorsorglich eine Ausnahmegenehmigung nach § 68 LFGB.
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Mit Bescheid vom 29. September 2009 lehnte die Beklagte die Genehmigungs-
anträge mit der Begründung ab, der Verzehr der Nahrungsergänzungsmittel
könne nicht als gesundheitlich unbedenklich bewertet werden. Aus Gutachten
des Bundesinstituts für Risikobewertung gehe hervor, dass die Einnahme des
Stoffes Glucosamin für Teile der Bevölkerung erhebliche gesundheitliche Risi-
ken berge. So könne es bei Personen, die blutgerinnungshemmende Medika-
mente einnähmen, zu erheblichen Wechselwirkungen kommen. Außerdem sei
zu besorgen, dass Glucosamin bei Diabetikern und Personen mit eingeschränk-
ter Glucosetoleranz den Blutzuckerspiegel negativ beeinflusse. Potentielle Risi-
ken bestünden darüber hinaus für Schwangere, Stillende, Kinder und Jugendli-
che. Durch entsprechende Verbraucher- und Warnhinweise ließen sich die Ge-
fahren nicht hinreichend abwenden.
Bereits im April 2009 hat die Klägerin beim Verwaltungsgericht Klage erhoben
und die Feststellung begehrt, dass für das Herstellen und Inverkehrbringen der
fünf Produkte keine Ausnahmegenehmigung nach § 68 LFGB erforderlich sei.
Hilfsweise hat sie zuletzt beantragt, die Beklagte zur Neubescheidung der Ge-
nehmigungsanträge zu verpflichten. Die Klägerin hat das Feststellungsbegeh-
ren im Wesentlichen darauf gestützt, die Zutaten Glucosaminsulfat und Chon-
droitinsulfat seien nicht zulassungspflichtig. Es handele sich nicht im Sinne von
§ 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB um Stoffe, die den Lebensmittelzusatzstoffen
gleichstünden. Die beiden Substanzen seien als charakteristische Zutaten an-
zusehen und würden auch üblicherweise in Nahrungsergänzungsmitteln ver-
wendet. Solche Produkte würden seit mehreren Jahren auf dem deutschen
Markt mit einem Umsatzvolumen von über 100 Mio. € vertrieben. Unterstellt, es
handele sich um zulassungspflichtige Stoffe, müsse die Klage mit dem Hilfsan-
trag Erfolg haben. Die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigungen
sei rechtswidrig. Die Nahrungsergänzungsmittel erfüllten die Anforderungen an
die Lebensmittelsicherheit. Jedenfalls ließen sich etwaige Bedenken durch Pro-
dukthinweise für mögliche Risikogruppen ausräumen, wie es auch das Bundes-
institut für Risikobewertung in mehreren Stellungnahmen empfohlen habe.
Die Beklagte ist der Klage mit der Begründung entgegengetreten, eine Aus-
nahme vom Zusatzstoffbegriff in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB sei nur
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für Stoffe gerechtfertigt, die aufgrund ihrer traditionell überlieferten, regelhaften
Verwendung als Lebensmittel oder charakteristische Zutat erfahrungsgemäß für
die Gesundheit unbedenklich seien. Im Falle von Glucosaminsulfat und Chon-
droitinsulfat bestehe keine langjährige Verzehrtradition, die sichere Rückschlüs-
se auf die Ungefährlichkeit der Stoffe zulasse. Es lasse sich auch nicht auf die
Herausbildung einer in Fachkreisen anerkannten Herstellungs- und Ernäh-
rungsgewohnheit abstellen. Der Arbeitskreis Lebensmittelchemischer Sachver-
ständiger sei in seiner Stellungnahme vom November 2007 zu dem Ergebnis
gekommen, dass keine gesicherten Erkenntnisse über ernährungsphysiologi-
sche Wirkungen von Glucosamin und Chondroitin vorlägen. Es gebe auch keine
Verbrauchererwartung, die auf eine Verwendung als Lebensmittelzutat hindeu-
ten könne. Der Verbraucher verbinde mit den Stoffen in erster Linie eine arznei-
liche Wirkung.
Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Hauptantrag stattgegeben. Es hat
ausgeführt, die Voraussetzungen des Herstellungs- und Verkehrsverbots nach
§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Nr. 2 LFGB seien nicht erfüllt. Glucosaminsulfat und
Chondroitinsulfat seien keine den Lebensmittelzusatzstoffen gleichgestellte
Stoffe im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB. Es handele sich um charak-
teristische Zutaten der von der Klägerin vertriebenen Nahrungsergänzungsmit-
tel. Das ergebe sich bereits aus dem Produktnamen. Im Übrigen seien die Stof-
fe in den Erzeugnissen in wesentlichen Anteilen enthalten und damit typische
Bestandteile. Bei den Produkten handele es sich auch um Lebensmittel im Sin-
ne der Vorschrift. Die Ausnahmen vom Zusatzstoffbegriff beschränkten sich
nicht auf traditionelle Lebensmittel. Richtig sei zwar, dass sich die Begrifflichkei-
ten in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB an die Begriffsbestimmung in
Art. 1 der Richtlinie 89/170/EWG und Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung
(EG) Nr. 1333/2008 anlehnten. Weder der Richtlinie noch der Verordnung lasse
sich aber entnehmen, dass nur traditionell verwandte Lebensmittel erfasst sein
sollten. Selbst wenn man zur Einschränkung der weiten Definition der charakte-
ristischen Zutat für das Merkmal der üblichen Verwendung ein zeitliches Mo-
ment verlangen wollte, sei insoweit eine gewisse Marktpräsenz ausreichend. Es
komme weder darauf an, ob die Produkte nach der fachlichen Bewertung der
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Beklagten zulassungspflichtig seien, noch darauf, ob sie auch zu anderen - arz-
neilichen - Zwecken am Markt seien.
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision rügt die Beklagte
unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens eine
fehlerhafte Auslegung und Anwendung der Gleichstellungsregelung in § 2
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB. Den maßgeblichen Vorschriften des europäischen
Zusatzstoffsrechts sei zu entnehmen, dass nur im hiesigen Rechtskreis traditio-
nellerweise als Lebensmittel oder als charakteristische Lebensmittelzusätze
verwendete Stoffe aus dem Anwendungsbereich des Zusatzstoffrechts ausge-
nommen werden sollten. Gemessen daran sei das Verwaltungsgericht zu Un-
recht davon ausgegangen, dass Glucosaminsulfat üblicherweise in Nahrungs-
ergänzungsmitteln verwendet werde. Nach der Einschätzung der einschlägigen
Fachkreise und Fachliteratur sei der Stoff als lebensmitteluntypische Zutat an-
zusehen. Wegen der vom Bundesinstitut für Risikobewertung aufgezeigten Ri-
siken für bestimmte Personengruppen könne die Substanz auch nicht als unbe-
denklich eingestuft werden. § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB und das daran an-
knüpfende Verbot für das Herstellen und Inverkehrbringen der Produkte nach
§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Nr. 2 LFGB seien europarechtskonform. Die gegen-
teilige Auffassung des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 15. Juli 2010 - I ZR
123/09) überzeuge nicht. Es lägen auch nicht die Voraussetzungen für eine
Ausnahmegenehmigung nach § 68 LFGB vor. Die Stellungnahme der Europäi-
schen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vom 8. Dezember 2011 be-
stätige die bisherige Einschätzung, dass angesichts des Risikos von Wechsel-
wirkungen zwischen Glucosamin und blutgerinnungshemmenden Arzneimitteln
eine Gesundheitsgefahr nicht hinreichend sicher auszuschließen sei.
Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil und beruft sich ergänzend auf die
Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Juli 2010.
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II
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das angefochtene Urteil verstößt
nicht gegen Bundes- oder Europarecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Verwal-
tungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass die Klägerin für das Herstellen und
Inverkehrbringen der in Rede stehenden Produkte keiner Ausnahmegenehmi-
gung nach § 68 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 des Lebensmittel- und Futtermittelgesetz-
buches bedarf.
Grundlage für die Beurteilung des Feststellungsbegehrens ist § 6 des Lebens-
mittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches (Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuch - LFGB - i.d.F. der Bekanntmachung vom 22. August
2011, BGBl I S. 1770), der ein Verbot für die Verwendung nicht zugelassener
Lebensmittelzusatzstoffe normiert. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a LFGB ist es
verboten, bei dem Herstellen oder Behandeln von Lebensmitteln, die dazu be-
stimmt sind, in den Verkehr gebracht zu werden, nicht zugelassene Lebensmit-
telzusatzstoffe unvermischt oder in Mischungen mit anderen Stoffen zu ver-
wenden. § 6 Abs. 1 Nr. 2 LFGB erstreckt das Verbot auf das Inverkehrbringen
derartig hergestellter oder behandelter Lebensmittel. § 4 Abs. 1 Nr. 2 LFGB be-
stimmt, dass die Verbotsvorschriften auch für die den Lebensmittelzusatzstoffen
nach § 2 Abs. 3 Satz 2 LFGB gleichgestellten Stoffe gelten. Bei den glucosa-
min- und chondroitinhaltigen Erzeugnissen der Klägerin handelt es sich um Le-
bensmittel im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 LFGB (1.). Die Erzeugnisse
werden von diesen Verbotsregelungen jedoch nicht erfasst und sind daher nicht
auf eine ausnahmsweise Genehmigung ihrer Verkehrsfähigkeit nach § 68 LFGB
angewiesen. Die Zutaten Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat sind weder
Lebensmittelzusatzstoffe im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 LFGB (2.) noch stehen
sie diesen im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB gleich (3.).
1. a) § 2 Abs. 2 LFGB verweist für den Lebensmittelbegriff auf die Definition in
Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002 zur Festlegung
der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur
Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Fest-
legung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl Nr. L 31 S. 1 - BasisVO).
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Hiernach sind Lebensmittel alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt
sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass
sie in verarbeitetem, teilweise verarbeitetem oder unverarbeitetem Zustand von
Menschen aufgenommen werden (Art. 2 Abs. 1 BasisVO). Diesem Lebensmit-
telbegriff entsprechen die Produkte der Klägerin, weil sie dazu bestimmt sind,
von Menschen verzehrt zu werden.
b) Aus der Einstufung der Erzeugnisse als Nahrungsergänzungsmittel, wovon
die Beteiligten übereinstimmend ausgehen, folgt nichts Abweichendes. Art. 2
Buchst. a der Richtlinie 2002/46/EG vom 10. Juni 2002 zur Angleichung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel (ABl
Nr. L 183 S. 51) bezeichnet Nahrungsergänzungsmittel als Lebensmittel. Ent-
sprechend dieser Vorgabe stellt die Verordnung über Nahrungsergänzungsmit-
tel (Nahrungsergänzungsmittelverordnung - NemV) vom 24. Mai 2004 (BGBl I
S. 1011, zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Dezember 2011, BGBl I
S. 2720) ebenfalls klar, dass Nahrungsergänzungsmittel zu den Lebensmitteln
zählen (§ 1 Abs. 1 NemV).
c) Die Einstufung als Lebensmittel ist schließlich nicht deshalb ausgeschlossen,
weil die Produkte der Klägerin infolge der zugesetzten Substanzen Glucosa-
minsulfat und Chondroitinsulfat als Arzneimittel zu behandeln wären. Nach
Art. 2 Abs. 3 Buchst. d BasisVO gehören Arzneimittel im Sinne der Richtlinien
65/65/EWG und 92/73/EWG nicht zu den Lebensmitteln im Sinne der Basisver-
ordnung und damit auch nicht zu den Lebensmitteln im Sinne des Lebensmittel-
und Futtermittelgesetzbuches. Die maßgebliche Arzneimitteldefinition ergibt
sich mittlerweile aus Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG vom 6. November
2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl
Nr. L 311 S. 67; vgl. Urteil vom 25. Juli 2007 - BVerwG 3 C 21.06 - Buchholz
418.710 LFGB Nr. 4 Rn. 22 ff.; siehe auch Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie
2002/46/EG). Nach Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 2001/83/EG (i.d.F. der Änderungs-
richtlinie 2011/62/EU vom 8. Juni 2011, ABl Nr. L 174 S. 74) sind Arzneimittel
alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die (a) als Mittel mit Eigenschaften
zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bestimmt sind (sog.
Präsentationsarzneimittel) oder (b) im oder am menschlichen Körper verwendet
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oder einem Menschen verabreicht werden können, um entweder die menschli-
chen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologi-
sche oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu be-
einflussen oder eine medizinische Diagnose zu erstellen (sog. Funktionsarz-
neimittel). Dass die Produkte der Klägerin die tatsächlichen Voraussetzungen
der Arzneimitteldefinition erfüllen würden, hat das Verwaltungsgericht nicht
festgestellt. Auch die Beklagte geht davon nicht aus. Zwar wird der Stoff Gluco-
samin arzneilich verwendet; als pharmakologisch wirksam gilt eine Zufuhrmen-
ge von 1178 mg Glucosamin (und mehr) pro Tag (vgl. BfR, Stellungnahme
Nr. 032/2007 vom 15. Juni 2007 S. 2 f.). Die Verzehrempfehlung für die Er-
zeugnisse der Klägerin bewegt sich indes mit maximal 786 mg deutlich darunter
und hat die Beklagte nicht veranlasst, eine arzneiliche Wirkung geltend zu ma-
chen.
2. Bei den Stoffen Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat in den Produkten der
Klägerin handelt es sich nicht um Lebensmittelzusatzstoffe im Sinne von § 2
Abs. 3 Satz 1 LFGB. Die Vorschrift verweist für den Begriff der Lebensmittelzu-
satzstoffe auf die Definition in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG)
Nr. 1333/2008 vom 16. Dezember 2008 über Lebensmittelzusatzstoffe (ABl
Nr. L 354 S. 16, zuletzt geändert durch Verordnungen Nr. 1129 bis
1131/2011 vom 11. November 2011, ABl Nr. L 295 S. 1). Hiernach sind Le-
bensmittelzusatzstoffe Stoffe mit oder ohne Nährwert, die in der Regel weder
selbst als Lebensmittel verzehrt noch als charakteristische Lebensmittelzutat
verwendet werden und einem Lebensmittel aus technologischen Gründen bei
der Herstellung, Verarbeitung, Zubereitung, Behandlung, Verpackung, Beförde-
rung oder Lagerung zugesetzt werden, wodurch sie selbst oder ihre Nebenpro-
dukte mittelbar oder unmittelbar zu einem Bestandteil des Lebensmittels wer-
den oder werden können. Dazu gehören die Substanzen Glucosaminsulfat und
Chondroitinsulfat bereits deshalb nicht, weil sie nicht aus technologischen Grün-
den (vgl. im Einzelnen Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 sowie
§§ 3 ff. und Anlage 7 der Zusatzstoff-Zulassungsverordnung vom 29. Januar
1998, BGBl I S. 230, zuletzt geändert durch Verordnung vom 28. März 2011,
BGBl I S. 530) zugesetzt werden. Das ergibt sich aus den Feststellungen in
dem angefochtenen Urteil und ist zwischen den Beteiligten auch nicht strittig.
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3. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass die Zutaten Gluco-
saminsulfat und Chondroitinsulfat nicht im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1
LFGB den Lebensmittelzusatzstoffen gleichstehen.
§ 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB stellt Stoffe mit oder ohne Nährwert den Lebens-
mittelzusatzstoffen gleich, wenn sie üblicherweise weder selbst als Lebensmittel
verzehrt noch als charakteristische Zutat eines Lebensmittels verwendet wer-
den und einem Lebensmittel aus anderen als technologischen Gründen beim
Herstellen oder Behandeln zugesetzt werden, wodurch sie selbst oder ihre Ab-
bau- oder Reaktionsprodukte mittelbar oder unmittelbar zu einem Bestandteil
des Lebensmittels werden oder werden können (Halbsatz 1). Ausgenommen
sind Stoffe, die natürlicher Herkunft oder den natürlichen chemisch gleich sind
und nach allgemeiner Verkehrsauffassung überwiegend wegen ihres Nähr-,
Geruchs- oder Geschmackswertes oder als Genussmittel verwendet werden
(Halbsatz 2). Eine Gleichstellung mit den Lebensmittelzusatzstoffen kommt so-
mit nach Halbsatz 1 der Vorschrift von vornherein nur dann in Betracht, wenn
die fraglichen Stoffe weder üblicherweise selbst als Lebensmittel verzehrt wer-
den noch üblicherweise als charakteristische Zutat eines Lebensmittels einge-
setzt werden. Daran fehlt es hier. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht ange-
nommen, dass die Stoffe (jedenfalls) die zweite Alternative des in § 2 Abs. 3
Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB genannten Ausschlusstatbestandes erfüllen. Dazu
ist zweierlei erforderlich: Zum einen muss es sich bei den fraglichen Stoffen um
charakteristische Zutaten eines Lebensmittels handeln. Zum anderen verlangt
der Ausschlussgrund, dass die Stoffe üblicherweise als charakteristische Zutat
eines Lebensmittels verwendet werden. Beides ist für die Zutaten Glucosamin-
sulfat und Chondroitinsulfat zu bejahen.
a) Eine Zutat ist charakteristisch im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB,
wenn sie prägender Bestandteil des Lebensmittels ist (Urteil vom 25. Juli 2007
a.a.O. Rn. 44). Ob ein Stoff prägend für ein Nahrungsergänzungsmittel ist, lässt
sich bereits am Produktnamen festmachen, unter dem das Lebensmittel in den
Verkehr gebracht wird. So schreibt § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 NemV für Nahrungs-
ergänzungsmittel vor, dass auf der Verpackung die Namen der Stoffkategorien
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anzugeben sind, die für das Erzeugnis kennzeichnend sind. Gemeint sind die
wesentlichen Substanzen oder Substanzgruppen des Erzeugnisses, die für
dessen Zweckbestimmung prägend sind (vgl. Kügel/Hahn/Delewski, NemV,
2007, § 4 Rn. 29; Rathke, in: Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Bd. III, C 142 -
NemV, Stand: November 2007, § 4 Rn. 7 f.). Hiernach handelt es sich bei den
von der Klägerin verwendeten Substanzen Glucosaminsulfat und Chondroitin-
sulfat um charakteristische Zutaten im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB.
Die Stoffe werden jeweils im Produktnamen geführt. Abgesehen davon sind sie
auch deshalb prägende Bestandteile der streitigen Erzeugnisse, weil sie nach
den Feststellungen des Verwaltungsgerichts in wesentlichen Anteilen in den
Kapseln enthalten sind.
Der Einwand der Beklagten, Lebensmittel und charakteristische Zutaten im Sin-
ne der Vorschrift seien nur „normale“ oder „traditionelle“ Lebensmittel, geht fehl.
Der Senat ist dem bereits in seinem Urteil vom 25. Juli 2007 unter Hinweis auf
den weiten Lebensmittelbegriff in § 2 Abs. 2 LFGB entgegengetreten, der auch
für § 2 Abs. 3 LFGB Geltung beansprucht (a.a.O. Rn. 44; ebenso OLG Ham-
burg, Urteil vom 29. Januar 2009 - 3 U 54/08 - ZLR 2009, 246 <262 f.> = juris
Rn. 89). Bestätigt wird dies durch die Materialien zum Zweiten Gesetz zur Än-
derung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor-
schriften vom 27. Juli 2011 (BGBl I S. 1608). Der Gesetzentwurf des Bundes-
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 16. Juli
2010 sah eine Ergänzung des § 2 Abs. 3 LFGB um einen Satz 3 vor, wonach
Nahrungsergänzungsmittel nicht zu den Lebensmitteln im Sinne des Satzes 2
Nr. 1 zählen sollten. Zur Begründung verwies das Ministerium auf die gegentei-
lige Rechtsprechung des Senats zu § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB. Der
Änderungsvorschlag hat indes im späteren Gesetzentwurf der Bundesregierung
vom 3. März 2011 (vgl. BTDrucks 17/4984 S. 5 und S. 19), auf dem die aktuelle
Fassung des § 2 Abs. 3 LFGB beruht, keinen Niederschlag gefunden.
Die Kritik der Beklagten und von Teilen der Literatur an der Entscheidung vom
25. Juli 2007 (siehe z.B. Preuß, ZLR 2008, 92; Hagenmeyer/Hahn, WRP 2008,
601) geben keine Veranlassung, die Senatsrechtsprechung zur Auslegung des
Tatbestandsmerkmals „charakteristische Zutat“ zu modifizieren. Die Kritik ent-
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zündet sich im Kern an der Befürchtung, der Zulassungsvorbehalt im Zusatz-
stoffrecht würde ausgehebelt, wenn bereits die Nennung eines Stoffes im Pro-
duktnamen diesen zu einer charakteristischen Zutat im Sinne von § 2 Abs. 3
Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB machen könnte. Die Bedenken gehen daran vorbei,
dass der Ausschlusstatbestand zusätzlich verlangt, dass die Verwendung als
charakteristische Zutat „üblicherweise“ erfolgt. Auf diese Weise wird sicherge-
stellt, dass der Zulassungsvorbehalt nicht rechtsmissbräuchlich unterlaufen
werden kann (vgl. dazu unter b). Von dem kumulativen Erfordernis der üblichen
Verwendung geht selbstverständlich auch das Senatsurteil vom 25. Juli 2007
aus. Das der Entscheidung zugrunde liegende und durch sie bestätigte Beru-
fungsurteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
17. März 2006 - 13 A 2095/02 - (ZLR 2006, 339) hatte sich neben der Prüfung
des Kriteriums der charakteristischen Zutat ausführlich mit dem Tatbestands-
merkmal der üblichen Verwendung auseinandergesetzt und damit ersichtlich
eine zweistufige Prüfung vorgenommen. Dies hat der Senat nicht beanstandet.
Daher lässt sich seinen Ausführungen keineswegs entnehmen, allein die Anga-
be eines Stoffes im Produktnamen oder die Klassifizierung als wesentlicher Be-
standteil des Lebensmittels genüge, um einen Stoff von der Gruppe der zulas-
sungspflichtigen Stoffe nach § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB auszunehmen.
b) Die Verwendung der Stoffe Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat als cha-
rakteristische Zutaten eines Lebensmittels erfolgt auch üblicherweise.
aa) Der Begriff „üblicherweise“ in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB meint
nach seinem Wortsinn, dass etwas regelhaft geschieht, also gebräuchlich oder
gängig ist. Er unterscheidet sich damit nicht von dem Begriff „in der Regel“ in
§ 2 Abs. 3 Satz 1 LFGB i.V.m. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG)
Nr. 1333/2008. Der zusätzliche Ausnahmetatbestand in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1
Halbs. 2 LFGB nennt die „allgemeine Verkehrsauffassung“ als Prüfungsmaß-
stab dafür, ob die Verwendungspraxis der dort geregelten Stoffgruppen eine
Ausnahme vom Zulassungsvorbehalt rechtfertigt. Gemeint ist damit die Auffas-
sung aller am Verkehr mit Lebensmitteln beteiligten Kreise, das heißt der Her-
steller und Anbieter sowie der Verbraucher (vgl. Rathke, a.a.O., Bd. II, C 102 -
LFGB, Stand: November 2009, § 2 Rn. 65; Wehlau, LFGB, 2010, § 2 Rn. 184).
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Es liegt nahe, in die Beurteilung, ob der Ausschlussgrund des § 2 Abs. 3 Satz 2
Nr. 1 Halbs. 1 LFGB eingreift, ebenfalls die Anschauung der am Verkehr mit
dem fraglichen Lebensmittel beteiligten Kreise mit einzubeziehen; denn ent-
spricht die Verwendung einer Zutat in einem Lebensmittel der Erwartung von
Produzenten und Verbrauchern, weist das zugleich darauf hin, dass die Ver-
wendung allgemein üblich ist. Von einer regelhaften oder üblichen Verwendung
eines Stoffes als charakteristische Lebensmittelzutat kann daher gesprochen
werden, wenn sich hierzu eine Herstellungs- und Vertriebspraxis auf Seiten der
Lebensmittelunternehmen (§ 3 Nr. 6 LFGB i.V.m. Art. 3 Nr. 2 BasisVO) heraus-
gebildet hat, die einhergeht mit einer entsprechenden Ernährungsgewohnheit
auf Seiten der Verbraucher.
Das verlangt allerdings einen längeren Zeitraum, über den das Produkt oder
vergleichbare Erzeugnisse mit der fraglichen Zutat in den Verkehr gebracht und
am Markt in relevantem Umfang nachgefragt werden. Eine erst kurze Marktprä-
senz kann mit Rücksicht auf den Schutzzweck der Gleichstellungsklausel das
Eingreifen des Ausschlusstatbestandes nicht rechtfertigen. Der Zulassungsvor-
behalt für die den Lebensmittelzusatzstoffen gleichgestellten Stoffe bezweckt,
Gefahren für die menschliche Gesundheit vorzubeugen, die durch das Inver-
kehrbringen und den Verzehr von Lebensmitteln mit neuartigen Zutaten entste-
hen können, für die noch keine ausreichenden Erkenntnisse über ihre gesund-
heitliche Unbedenklichkeit vorliegen. Demgemäß beruht der Ausschlusstatbe-
stand auf der gesetzgeberischen Einschätzung, dass es im Falle einer lang an-
haltenden Übung bei der Verwendung einer Lebensmittelzutat keiner gesonder-
ten Zulassungsprüfung mehr bedarf, weil eine jahrelange Herstellungs- und
Verzehrpraxis die gesundheitliche Unbedenklichkeit des Stoffes für den norma-
len Verbraucher - das heißt einen Konsumenten ohne besondere gesundheitli-
che Empfindlichkeit (vgl. Art. 14 Abs. 4 Buchst. c BasisVO) - indiziert. Nament-
lich eine fortwährende, gefestigte Ernährungsgewohnheit wird sich nach allge-
meiner Lebenserfahrung nur entwickeln, wenn die Konsumenten das Produkt in
dem Bewusstsein verzehren, dass es nicht gesundheitsgefährdend ist. Der Be-
fund einer langjährigen Herstellungs- und Ernährungspraxis rechtfertigt daher
die Annahme, dass in Bezug auf den Verbraucherkreis, für den das Lebensmit-
tel mit der fraglichen Zutat bestimmt ist, unter den normalen Bedingungen sei-
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nes Verzehrs (vgl. Art. 14 Abs. 3 BasisVO) eine Gefahr für die menschliche Ge-
sundheit nicht zu erwarten ist und das Lebensmittel als sicher im Sinne von
Art. 14 BasisVO gelten kann.
bb) Wie beim Tatbestandsmerkmal der charakteristischen Zutat ist eine Be-
schränkung auf „traditionelle“ oder „klassische“ Lebensmittel und Lebensmittel-
zutaten auch bei dem Kriterium der üblichen Verwendung nicht geboten. Weder
der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzesmaterialien geben hierfür etwas her
(vgl. die amtliche Begründung zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur
Neuordnung des Lebensmittel- und des Futtermittelrechts vom 24. August
2004, BTDrucks 15/3657 S. 58). Dafür lässt sich auch aus den unionsrechtli-
chen Regelungen zum Zusatzstoffrecht nichts gewinnen, wie in dem angegrif-
fenen Urteil zutreffend ausgeführt wird. Weder der Richtlinie 89/107/EWG vom
21. Dezember 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden dürfen (ABl Nr. L 40
S. 27), noch der richtlinienersetzenden Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 kann
eine Auslegung des Begriffs der regelhaften Verwendung (vgl. Art. 1 Abs. 2
bzw. Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) entnommen werden, wonach nur traditionelle Le-
bensmittel oder Lebensmittelzutaten erfasst würden. Soweit in Art. 3a der Richt-
linie (i.d.F. der Änderungsverordnung (EG) Nr. 1882/2003 vom 29. September
2003, ABl Nr. L 284 S. 1) und nunmehr in Erwägungsgrund 15 sowie Art. 20 der
Verordnung von „traditionellen Lebensmitteln“ die Rede ist, ergibt sich daraus
nichts Gegenteiliges. Die Vorschrift erlaubt für die Herstellung einzeln benann-
ter traditioneller Lebensmittel, dass die Verwendung bestimmter Klassen von
Lebensmittelzusatzstoffen durch den jeweiligen Mitgliedstaat weiterhin verboten
werden kann. Es handelt sich mithin um eine Ausnahmebestimmung zu Art. 4
der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008, der bestimmt, dass die in der Gemein-
schaftsliste aufgeführten Lebensmittelzusatzstoffe für die Verwendung in Le-
bensmitteln zugelassen sind. Die Gegenüberstellung des Begriffs des traditio-
nellen Lebensmittels in Art. 20 mit dem weiten Lebensmittelbegriff in Art. 3
Abs. 2 Buchst. a der Verordnung bestätigt vielmehr, dass der Anwendungsbe-
reich von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a und damit auch das Tatbestandsmerkmal der
regelhaften Verwendung keine Einengung auf „traditionelle“ oder „normale“ Le-
bensmittel und Lebensmittelzutaten erfährt. Hinzu kommt, dass mit der Richtli-
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nie 2002/46/EG die vergleichsweise neuartige Produktgruppe der Nahrungs-
ergänzungsmittel eine gesonderte Regelung erfahren hat. Die Richtlinie ver-
weist auf eine „breite Palette“ von Zutaten, die in Nahrungsergänzungsmitteln
enthalten sein können (Erwägungsgrund 6). Hieraus ist ebenfalls zu folgern,
dass der europäische Gesetzgeber für den Bereich der aus anderen als techno-
logischen Gründen zugesetzten Stoffe gerade keine Beschränkung auf her-
kömmliche Lebensmittel vornimmt (siehe hierzu auch OVG Münster, Urteile
vom 17. März 2006 a.a.O. = juris Rn. 152 und vom 22. Januar 2008 - 13 A
3308/03 - juris Rn. 85 f.; OLG Hamburg, Urteile vom 29. Januar 2009 a.a.O.
S. 262 f. bzw. Rn. 88 ff. und vom 11. Juni 2009 - 3 U 125/08 - LMuR 2009, 192
<195 f.> = juris Rn. 52).
cc) Der Normzweck gebietet ebenfalls nicht, allein „traditionelle“ oder „normale“
Lebensmittel und Lebensmittelzutaten als vom Ausschlusstatbestand erfasst
anzusehen. Die Gleichstellung der Stoffe, die aus ernährungsphysiologischen
oder anderen nicht technologischen Gründen als Lebensmittelzutat verwendet
werden, mit den Lebensmittelzusatzstoffen bezweckt, auch die sonstigen Stoffe
einer Verwendungsbeschränkung zu unterwerfen, indem das Verbot mit Er-
laubnisvorbehalt auf diese Stoffgruppe erstreckt wird. Es soll verhindert werden,
dass Lebensmittel mit Zutaten auf dem Markt sind, deren Verzehr im Sinne von
§ 5 Abs. 1 Satz 1 LFGB gesundheitsschädlich ist (vgl. amtliche Begründung
zum Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Lebensmittel- und
des Futtermittelrechts, a.a.O.). Diese Zielsetzung lässt sich, wie gezeigt, auch
erreichen, wenn der Anwendungsbereich des Ausnahmetatbestands in § 2
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB nicht auf Stoffe beschränkt bleibt, die tradi-
tionellerweise als Lebensmittel oder als charakteristische Zutat eines Lebens-
mittels verwendet werden. Das Abstellen auf eine langjährige Herstellungs- und
Verzehrpraxis stellt sicher, dass neue Substanzen, für die ausreichende wis-
senschaftliche Daten über die Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit
noch nicht vorliegen, dem Zulassungsvorbehalt unterfallen. Auch erfüllt ein
„plötzliches Überschwemmen“ des Marktes mit neuartigen Produkten nicht die
Voraussetzung einer üblichen Verwendung im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2
Nr. 1 LFGB. Es ist Sache der zuständigen Lebensmittelüberwachungsbehör-
den, in derartigen Fällen von den ordnungsrechtlichen Eingriffsbefugnissen Ge-
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brauch zu machen (vgl. etwa § 39 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 1
Buchst. a, Nr. 2, § 4 Abs. 1 Nr. 2 LFGB). Soweit es um das Inverkehrbringen
neuer Nahrungsergänzungsmittel geht, gewährleistet zudem die Anzeigepflicht
nach § 5 NemV, dass den Behörden eine effiziente Überwachung erleichtert
wird. Dass die ordnungsbehördliche Praxis von Bundesland zu Bundesland un-
einheitlich sein mag, eine zeitnahe Überwachung angesichts der Menge zu
überprüfender Lebensmittel und Lebensmittelzutaten Schwierigkeiten begegnet
und die Behörden bisweilen nur zögerlich eingreifen oder eingeleitete Verfahren
sich hinziehen, gebietet kein anderes Normverständnis. Weil erst eine langjäh-
rige Verwendung einer Lebensmittelzutat den Zulassungsvorbehalt entfallen
lässt, bleibt den Überwachungsbehörden ausreichend Zeit, um tätig zu werden.
Etwaige Vollzugsdefizite oder gar behördliche Versäumnisse sind nicht den
Marktteilnehmern anzulasten. Es ist Sache des Staates, die Ordnungsbehörden
so einzurichten und zu organisieren, dass sie ihren gesetzlichen Überwa-
chungspflichten nachkommen können.
Abgesehen davon führt das Eingreifen des Ausschlusstatbestandes in § 2
Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB nicht dazu, dass die fraglichen Stoffe der
lebensmittelrechtlichen Kontrolle entzogen sind. Eine übliche Verwendung im
Sinne der Vorschrift überwindet zwar den Zulassungsvorbehalt und erlaubt den
betroffenen Lebensmittelunternehmen zunächst, die Stoffe bei der Herstellung
von Lebensmitteln einzusetzen und die Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen.
Das enthebt sie aber nicht der Einhaltung des in § 5 LFGB geregelten allgemei-
nen Verbots, gesundheitsschädliche Lebensmittel herzustellen und zu vertrei-
ben. Sollte sich ein Produkt wegen gesundheitlicher Gefahren, die eine Zutat
generell oder für bestimmte Verbrauchergruppen besorgen lässt, nicht oder nur
unter Auflagen als verkehrsfähig erweisen, haben die zuständigen Überwa-
chungsbehörden daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen. Die Er-
mächtigungsgrundlage in § 39 LFGB stellt dafür das notwendige rechtliche Ins-
trumentarium bereit.
dd) Vor diesem Hintergrund streiten für das Auslegungsergebnis schließlich
grundrechtliche Erwägungen. Eine Beschränkung der von dem Zulassungsvor-
behalt ausgenommenen Stoffe auf klassische Lebensmittelzutaten schließt
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neuartige Produkte ohne Berücksichtigung des konkreten Einzelfalls generell
aus dem Anwendungsbereich des Ausnahmetatbestandes aus. Das Herstellen
und Inverkehrbringen solcher Erzeugnisse wäre ungeachtet einer zwischenzeit-
lich herausgebildeten Herstellungs- und Verzehrgewohnheit ohne eine Listen-
zulassung nur im Wege einer ausnahmsweisen Zulassung nach Maßgabe von
§ 68 LFGB zulässig. Das erweist sich im Lichte von Art. 12 Abs. 1 GG als un-
verhältnismäßig, weil es der einschränkenden Auslegung des Ausschlusstatbe-
standes in § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Halbs. 1 LFGB wie gezeigt nicht bedarf, um
den gebotenen Gesundheitsschutz zu erreichen.
ee) Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass
die Stoffe Glucosaminsulfat und Chondroitinsulfat üblicherweise verwendet wer-
den. Nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen
besteht in Bezug auf die Verwendung der beiden Substanzen in Nahrungs-
ergänzungsmitteln eine langjährige Herstellungs- und Verzehrpraxis. Zwischen
den Beteiligten ist unstreitig, dass Produkte dieser Art seit etwa einem Jahr-
zehnt am deutschen Markt präsent sind und dabei ein Umsatzvolumen von ca.
100 Mio. € erreichen (zur Marktpräsenz vgl. auch VG München, Urteil vom
23. April 2008 - M 18 K 08.91 - juris Rn. 31; VG Hamburg, Urteil vom 19. Januar
2010 - 4 K 2003/08 - LMuR 2010, 96 <102> = juris Rn. 45). Überdies sind Glu-
cosaminsulfat und Chondroitinsulfat auch auf Unionsebene als Zutaten von
Nahrungsergänzungsmitteln bekannt. Die Entscheidung 2007/275/EG der
Kommission vom 17. April 2007 (ABl Nr. L 116 S. 9) bringt das inzident zum
Ausdruck, wenn sie Nahrungsergänzungsmittel, die Glucosamin oder Chondro-
itin enthalten, als Lebensmittel aufführt, die bei der Einfuhr in die Europäische
Union keinen Veterinärkontrollen unterzogen werden müssen (vgl. Art. 6 Abs. 1
Buchst. b i.V.m. Anhang II). Die Regelung wird mit § 5 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Anla-
ge 1 Nr. 7 Buchst. b der Lebensmitteleinfuhr-Verordnung (i.d.F. der Änderungs-
verordnung vom 30. November 2011, BGBl I S. 2399) in nationales Recht um-
gesetzt. Zudem dokumentiert die Aufnahme des Stoffes Glucosaminsulfat in
den so genannten „Novel Food Katalog“ der Europäischen Kommission (vgl.
Europa>European Commission>DG Health and Consumers>Overview>Food
and Feed Safety>Novel Food>Novel Food Catalogue,
http://ec.europa.eu/food/food/biotechnology/novelfood/novel_food_cata-
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logue_en.htm), dass die Substanz bereits vor dem 15. Mai 1997 in der Europäi-
schen Union in nennenswertem Umfang als Nahrungsergänzungsmittelzutat für
den menschlichen Verzehr verwendet worden ist und daher nicht als neuartige
Lebensmittelzutat im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 258/97 über neuartige Le-
bensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (ABl Nr. L 43 S. 1) eingestuft
wird.
4. Hiernach kann dahinstehen, ob das Herstellungs- und Verkehrsverbot für den
Lebensmittelzusatzstoffen gleichgestellte Stoffe (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a,
Nr. 2 i.V.m. § 4 Abs. 1 Nr. 2 LFGB) unionsrechtswidrig und deshalb nicht anzu-
wenden ist (so BGH, Urteil vom 15. Juli 2010 - I ZR 123/09 - LMuR 2011, 13
). Die Frage der Europarechtskonformität ist nicht entscheidungser-
heblich, weil die in Rede stehenden Produkte der Klägerin bereits unter Anwen-
dung des nationalen Rechts nicht dem Herstellungs- und Verkehrsverbot nach
§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Nr. 2 LFGB unterliegen und das zum Erfolg der
Feststellungsklage führt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Kley
Liebler
Buchheister
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Lebensmittelrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
LFGB
§ 2 Abs. 2, § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Nr. 2,
§ 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 6 Abs. 1 Nr. 2, § 68
NemV
§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
VO (EG) Nr. 178/2002
Art. 2 Abs. 1, Art. 14
VO (EG) Nr. 1333/2008
Art. 3 Abs. 2 Buchst. a
Stichworte:
Ausnahmegenehmigung; Bundesinstitut für Risikobewertung; Chondroitinsulfat;
Gefahr für die menschliche Gesundheit; Glucosaminsulfat; Lebensmittel; tradi-
tionelle Lebensmittel; Lebensmittelzusatzstoff; Lebensmittelzusatzstoffen
gleichstehende Stoffe; Nahrungsergänzungsmittel; Verbot mit Erlaubnisvorbe-
halt; Verkehrsfähigkeit; Zulassungsvorbehalt; Zutat; charakteristische Zutat ei-
nes Lebensmittels; übliche Verwendung als charakteristische Zutat eines
Lebensmittels.
Leitsatz:
Charakteristische Zutaten im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 LFGB sind Stof-
fe, die prägender Bestandteil eines Lebensmittels sind (Bestätigung des Urteils
vom 25. Juli 2007 - BVerwG 3 C 21.06 - Buchholz 418.710 LFGB Nr. 4). Solche
Zutaten werden im Sinne der Vorschrift „üblicherweise“ verwendet, wenn in Be-
zug auf ihre Verwendung eine langjährige Herstellungs- und Verzehrpraxis be-
steht.
Urteil des 3. Senats vom 1. März 2012 - BVerwG 3 C 15.11
I. VG Braunschweig vom 15.12.2010 - Az.: VG 5 A 71/09 -