Urteil des BVerwG vom 27.01.2011

Verordnung, Kontrolle vor Ort, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Kennzeichnung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 14.10
OVG 10 LC 96/09
Verkündet
am 27. Januar 2011
Zweigler
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und die
Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert,
Buchheister und Dr. Wysk
für Recht erkannt:
Das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsge-
richts vom 19. Januar 2010 wird geändert. Die Berufung
der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
Stade vom 17. Juni 2009 wird mit der Maßgabe zurück-
gewiesen, dass der Bescheid der Beklagten vom 25. Juli
2006 aufgehoben wird, soweit darin unter entsprechender
Rücknahme der Bewilligungsbescheide ein Betrag von
mehr als 194,97 € zurückgefordert wird.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und des Re-
visionsverfahrens.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung von Rindersonderprämien,
die er für das Jahr 1995 erhalten hatte.
Nach seiner Beteiligungserklärung vom 18. Januar 1995 beantragte der Kläger
mit insgesamt sieben Anträgen die Gewährung von Sonderprämien für männli-
che Rinder, darunter für insgesamt elf Rinder der zweiten Altersklasse. Als An-
lage zur Beteiligungserklärung legte er eine Kopie seines Bestandsverzeichnis-
ses vor. Mit mehreren Bescheiden, die zwischen Juli 1996 und September 1997
ergingen, gab das Amt für Agrarstruktur den letzten fünf Anträgen statt und
zahlte insgesamt 15 149,32 DM (= 7 745,72 €) an den Kläger aus, lehnte aber
die ersten beiden Anträge teilweise, nämlich wegen insgesamt sechs Tieren der
ersten Altersklasse ab, weil die Altersgrenze überschritten sei. Hiergegen legte
der Kläger Widersprüche ein, die mit Blick auf ein anderweitiges Mus-
terverfahren zunächst nicht beschieden wurden.
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Nachdem der Kläger mit Schreiben vom 7. Juni 2006 angehört worden war,
wies die Beklagte die noch offenen Widersprüche mit Widerspruchsbescheid
vom 25. Juli 2006 zurück, hob die ergangenen Bescheide teilweise auf und for-
derte Rindersonderprämie in Höhe von 1 386,63 € zuzüglich Zinsen zurück.
Sonderprämie für die erste Altersklasse könne für sechs Tiere nicht gewährt
werden, weil die Tiere bei der Schlachtung älter als 22 Monate gewesen seien
und damit die Altersgrenze überschritten hätten (sog. Ablehnungsgrund K 11).
Sonderprämie für die zweite Altersklasse könne für alle elf insoweit beantragten
Tiere nicht gewährt werden, weil der Kläger den erforderlichen Altersnachweis
nicht erbracht habe (sog. Ablehnungsgrund K 12); er habe das Bestandsregis-
ter nicht ordnungsgemäß geführt, mit dem allein dieser Nachweis geführt wer-
den könne. Zwar werde ihm die mangelnde Chronologie nicht entgegengehal-
ten, weil diese Anforderung erst im Dezember 1994 eingeführt worden sei. Er
habe aber zahlreiche Tiere nicht mit Zugangs- oder Abgangsdaten versehen.
Mit seiner gegen die Rücknahme und Rückforderung wegen des Ablehnungs-
grundes K 12 gerichteten Klage hat der Kläger eingewendet, vor 1997 habe es
keine gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Führung des Bestands-
verzeichnisses gegeben. Sofern ihm deshalb überhaupt Fehler unterlaufen sei-
en, berührten sie den Prämienanspruch nur dann zur Gänze, wenn sie bei min-
destens zwei Kontrollen innerhalb von 24 Monaten festgestellt worden seien.
Die Behörden hätten Einwände aber vor 2006 durchweg nicht erhoben, weshalb
er auch im guten Glauben gehandelt habe. Schließlich seien Rückforde-
rungsansprüche verjährt.
Das Verwaltungsgericht hat den Widerspruchsbescheid mit Urteil vom 17. Juni
2009 aufgehoben, soweit darin die Bewilligungsbescheide geändert und Rin-
dersonderprämie zurückgefordert wurde. Es könne dahinstehen, ob die Rück-
nahmevoraussetzungen vorlägen oder ob sich der Kläger jedenfalls auf Ver-
trauensschutz berufen könne. Der Rückforderungsanspruch der Beklagten sei
aber verjährt. Insofern sei die Verordnung (EG, EURATOM) Nr. 2988/95 anzu-
wenden, deren äußerste achtjährige Verjährungsfrist verstrichen sei.
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Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom
19. Januar 2010 das erstinstanzliche Urteil geändert und die Klage abgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Rücknahme der Bescheide über die
Gewährung von Rindersonderprämie für 1995 für Tiere der zweiten Altersklasse
sei rechtmäßig. Rindersonderprämie hätte insoweit nicht gewährt werden
dürfen; denn der Kläger habe das vorgeschriebene Bestandsregister nicht
ordnungsgemäß geführt. Darin müssten alle im Betrieb gehaltenen männlichen
Tiere mit einer fortlaufenden Nummer, ihrer Ohrmarke, dem Geburtsdatum,
dem Tag des Zugangs bei Zukauf mit Name und Anschrift des Erzeugers, der
Art der Nutzung (Bulle oder Ochse), dem Tag des Abgangs beim Verkauf mit
Name und Anschrift des Käufers sowie sonstigen Bemerkungen aufgeführt
werden. Das Bestandsregister diene nicht nur der Identifizierung und Registrie-
rung der männlichen Rinder im Betrieb, sondern auch dem Nachweis, dass die
Tiere das für die Gewährung der Rindersonderprämie der zweiten Altersklasse
erforderliche Mindestalter von 23 Monaten erreicht hätten und mindestens vier
Monate seit dem 20. Lebensmonat auf dem Betrieb gehalten worden seien. Auf
ergänzende Informationsquellen könne nur zurückgegriffen werden, wenn das
Bestandsregister zwar vollständig sei, aber Zweifel bestünden, dass es fortlau-
fend zeitnah geführt worden sei. Diese Rechtslage habe seit 1992 bestanden;
darauf sei der Kläger durch Merkblätter hingewiesen worden. Die Rücknahme-
befugnis der Beklagten sei als solche auch nicht verjährt. Der Verjährung unter-
liege allerdings der Rückforderungsanspruch. Insoweit gelte nach der Verord-
nung (EG) Nr. 2419/2001 jedoch eine zehnjährige Verjährungsfrist, die mit der
nicht nur vorschussweisen Auszahlung der Prämie beginne und durch die An-
hörung zur beabsichtigten Rückforderung im Juni 2006 unterbrochen worden
sei.
Zur Begründung seiner Revision trägt der Kläger vor: Entgegen der Ansicht des
Berufungsgerichts seien Fehler bei der Führung des Bestandsregisters nach
ihrer jeweiligen Schwere zu ahnden und könnten keineswegs durchweg den
vollständigen Prämienverlust zur Folge haben. Diese Ansicht habe das Beru-
fungsgericht erst 2004 entwickelt; es stehe damit allein. Auch bei den Vor-Ort-
Kontrollen der Behörde habe insbesondere etwa die richtige Chronologie der
Eintragungen zu keinem Zeitpunkt eine Rolle gespielt. Richtig sei, dass bei ei-
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nem Prämienantrag das Bestandsregister vorgelegt werden müsse und dass
die Antragstiere darin mit den prämienrelevanten Angaben aufgeführt sein
müssten; zur Behebung von Zweifeln etwa am Alter von Antragstieren dürfe auf
andere Nachweise zurückgegriffen werden. Anderweitige Fehler des Bestands-
registers - namentlich bei Nichtantragstieren - führten nur dann zu Prämienkür-
zungen, wenn sie bei mindestens zwei Kontrollen innerhalb von 24 Monaten
festgestellt würden. Nach diesen Maßstäben hätten die Voraussetzungen für
die Gewährung von Rindersonderprämien für die zweite Altersklasse hier vor-
gelegen, weshalb die Bewilligungsbescheide nicht hätten zurückgenommen
werden dürfen. Jedenfalls aber seien Rückforderungsansprüche verjährt.
Die Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
II
Die Revision ist begründet. Das Berufungsgericht hat die Beklagte für berechtigt
erachtet, die Bewilligung von Sonderprämie für männliche Rinder der zweiten
Altersklasse für 1995 zurückzunehmen und die gezahlten Beträge zurück-
zufordern, weil die Bewilligungsbescheide insoweit rechtswidrig gewesen seien;
die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Sonderprämie hätten nicht vor-
gelegen. Zu diesen Voraussetzungen zählt es die Vorlage eines zeitnah und
chronologisch geführten, inhaltlich vollständigen und richtigen Bestandsver-
zeichnisses. Das verletzt Bundes- und europäisches Gemeinschaftsrecht.
1. Allerdings war der Kläger verpflichtet, ein Bestandsregister zu führen.
a) Diese Pflicht war im Jahre 1995 im europäischen Recht lediglich durch eine
Richtlinie vorgesehen. Nachdem der Rat im Jahr 1990 aus tierseuchenrechtli-
chen Gründen die Kennzeichnung und Registrierung von Tieren für den inner-
gemeinschaftlichen Handel und 1991 für die Einfuhr von Tieren aus Drittländern
durch Richtlinien vorgeschrieben hatte, erließ er am 27. November 1992 die
allgemeine Richtlinie 92/102/EWG über Mindestanforderungen für die
Kennzeichnung und Registrierung von Tieren (ABl Nr. L 355 S. 32). Geregelt
war neben einem von der zuständigen Behörde zu führenden Betriebsver-
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zeichnis (Art. 3) und der Kennzeichnung jedes Rindes durch eine Ohrmarke mit
einem alphanumerischen Code (Art. 5 Abs. 2) auch ein von jedem Tierhalter zu
führendes Bestandsregister (Art. 4). In Ansehung von Rindern wurde das
Richtlinienrecht erst mit Wirkung vom 1. Juli 1997 durch gemeinschaftliches
Verordnungsrecht, nämlich durch die Verordnung (EG) Nr. 820/97 des Rates
vom 21. April 1997 zur Einführung eines Systems zur Kennzeichnung und Re-
gistrierung von Rindern (ABl Nr. L 117 S. 1) ersetzt.
Die Richtlinie 92/102/EWG wurde freilich nicht mehr nur zu tierseuchenrechtli-
chen Zwecken, sondern auch zu Zwecken bestimmter gemeinschaftlicher Bei-
hilferegelungen erlassen (vgl. deren dritten Erwägungsgrund). Dementspre-
chend bestimmte Art. 5 der am selben Tage erlassenen sektorenübergreifen-
den Verordnung (EWG) Nr. 3508/92 des Rates vom 27. November 1992 zur
Einführung eines integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems für bestimmte
gemeinschaftliche Beihilferegelungen (ABl Nr. L 355 S. 1), dass das System zur
Kennzeichnung und Registrierung von Tieren, die für die Gewährung einer
Beihilfe - auch etwa einer Sonderprämie - berücksichtigt werden, gemäß den
einschlägigen Artikeln dieser Richtlinie einzurichten ist. Die grundlegende Sek-
torenverordnung (EWG) Nr. 805/68 des Rates vom 27. Juni 1968 über die ge-
meinsame Marktorganisation für Rindfleisch (ABl Nr. L 148 S. 24), die für 1995
in der Fassung der Änderungsverordnung (EWG) Nr. 2066/92 des Rates vom
30. Juni 1992 (ABl Nr. L 215 S. 49) galt, erwähnt das Bestandsregister zwar nur
in Art. 4g Abs. 4 und damit im Zusammenhang mit der Begrenzung der Son-
derprämie durch einen Besatzdichtefaktor. Jedoch knüpft Art. 14 der Verord-
nung (EWG) Nr. 3886/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 (ABl
Nr. L 391 S. 20), die für das Kalenderjahr 1995 in der Fassung der Verordnung
(EG) Nr. 3269/94 der Kommission vom 21. Dezember 1994 (ABl Nr. L 339
S. 46) galt und die Durchführungsbestimmungen für die Sonderprämie für
männliche Rinder enthält, generell an die Pflicht zur Führung eines Bestands-
registers an; nur für den Fall, dass ein Mitgliedstaat die Richtlinie 92/102/EWG
noch nicht umgesetzt hat, sieht Art. 59 der Verordnung Übergangsbestimmun-
gen vor.
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b) Die Richtlinie 92/102/EWG wurde in Deutschland - teilweise schon vorzeitig -
im Kontext der Viehverkehrsverordnung (VVVO), nämlich durch die Erste Ver-
ordnung zur Änderung der Viehverkehrsverordnung vom 19. Dezember 1986
(BGBl I S. 2651) umgesetzt. Weitere Regelungen wurden später in die Rinder-
und Schafprämien-Verordnung (RSVO) vom 5. Februar 1993 (BGBl I S. 200)
aufgenommen, die zu Beginn des Kalenderjahres 1995 bis zum 27. Oktober
1995 in der Fassung der Vierten Änderungsverordnung vom 17. Dezember
1994 (BGBl I S. 3846) galt. Die Gesamtregelung wurde dann durch die Ände-
rungsverordnung vom 19. April 1995 (BGBl I S. 528) neu auf die Viehverkehrs-
verordnung und die Rinder- und Schafprämien-Verordnung aufgeteilt.
Dass ein Bestandsregister geführt werden muss, ergab sich bis zu der Ände-
rungsverordnung aus § 5 Abs. 4 RSVO und hernach aus § 5 Abs. 1 RSVO
i.V.m. § 24c VVVO. Seinen Mindestinhalt legte § 5 RSVO fest. Hiernach musste
das Bestandsregister für jedes männliche Rind die Ohrmarkennummer (bzw.
Ersatzohrmarkennummer), das Geburtsdatum, die Angabe, ob es kastriert ist,
sowie bei Bestandsveränderungen das Zukauf- oder Abgabedatum und den
Verkäufer oder Abnehmer verzeichnen. Seit dem 28. Oktober 1995 musste der
Verkäufer oder Abnehmer nicht nur mit dem Namen, sondern auch mit der An-
schrift bezeichnet werden.
Dass das Bestandsregister chronologisch geführt werden müsse, ist - entgegen
der Ansicht des Berufungsgerichts - nicht vorgeschrieben. Allerdings schreibt
Art. 14 der Verordnung (EWG) Nr. 3886/92 vor, dass jedes im Betrieb gehalte-
ne männliche Rind mit seiner Identifizierungsnummer spätestens am dritten Tag
nach seinem Eintreffen im Betrieb in das Bestandsregister eingetragen werden
muss; wird dies beachtet, so ergibt sich hieraus eine gewisse Chronologie der
Eintragungen. Das „Eintreffen im Betrieb“ erfasst jedenfalls einen Zugang durch
Zukauf. Bei Zugängen durch Geburt im Betrieb hingegen dürfte die
Dreitagesregel kaum einzuhalten sein; denn eine Eintragung ist erst möglich,
nachdem die Behörde eine Identifizierungsnummer zugeteilt hat. Dabei ist zu
bedenken, dass der Betriebsinhaber das in seinem Betrieb geborene Tier ge-
mäß § 4 RSVO, § 19b VVVO regelmäßig binnen dreißig Tagen mit einer Ohr-
marke kennzeichnen muss. Art. 14 der Verordnung (EWG) Nr. 3886/92 ist des-
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halb wohl dahin zu verstehen, dass im Betrieb geborene Tiere binnen drei Ta-
gen nach Zuteilung einer Identifizierungsnummer in das Bestandsregister ein-
getragen werden müssen.
2. Fehler und Versäumnisse bei der Führung des Bestandsregisters führten im
Antragsjahr 1995 nach dem europäischen Gemeinschaftsrecht nicht zum voll-
ständigen Prämienverlust.
a) Welche Rechtsfolgen Fehler und Versäumnisse bei der Führung des Be-
standsregisters nach sich ziehen, regelt die Verordnung (EWG) Nr. 3887/92
der Kommission vom 23. Dezember 1992 (ABl Nr. L 391 S. 36), die für das An-
tragsjahr 1995 in der Fassung der Änderungsverordnung (EWG) Nr. 1648/95
der Kommission vom 6. Juli 1995 (ABl Nr. L 156 S. 27) galt. Diese Verordnung
sieht lediglich bestimmte Prämienkürzungen vor, wenn bei antragsunabhängi-
gen Vor-Ort-Kontrollen festgestellt wurde, dass nicht alle Tiere, die im Betrieb
gehalten wurden, im Bestandsverzeichnis mit ihrer Kennzeichnung aufgeführt
waren.
Nach Art. 6 Abs. 6 der Verordnung erstreckt sich eine behördliche Kontrolle vor
Ort (Betriebskontrolle) bei einem Betrieb, dessen Inhaber auch Sonderprämie
für männliche Rinder gewährt wird, unter anderem darauf, ob alle im Betrieb
vorhandenen männlichen Rinder mit einem Alter von über 30 Tagen ordnungs-
gemäß identifiziert - also mit einer Ohrmarke versehen - und im Bestandsregis-
ter geführt sind. Diese Kontrolle steht nicht in zeitlichem oder sachlichem Zu-
sammenhang mit einem bestimmten Prämienantrag; das Bestandsregister wird
nicht nur mit Blick auf Antragstiere, sondern mit Blick auf alle Tiere kontrolliert,
die für eine Prämie in Betracht kommen. Verstöße führen dementsprechend
auch nicht bei einem einzelnen Prämienantrag zu Sanktionen, sondern bei den
Prämien, die in dem betreffenden Kalenderjahr insgesamt beansprucht werden.
In diesem Sinne prämienschädlich sind aber nicht sämtliche Fehler und Ver-
säumnisse; prämienschädlich ist nur, wenn einzelne Tiere überhaupt nicht im
Bestandsregister aufgeführt waren. Ferner führen nicht alle hiernach potentiell
prämienschädlichen Fehler sogleich zum vollständigen Prämienverlust; viel-
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mehr sieht das Gemeinschaftsrecht ein System abgestufter Sanktionen vor. So
bestimmte Art. 10 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 in ihrer ursprüng-
lichen Fassung, dass, wenn bei einer Kontrolle festgestellt wurde, dass die Zahl
der im Betrieb vorhandenen und für eine Prämienbeantragung in Betracht
kommenden Tiere nicht der Zahl der im Bestandsregister geführten Tiere ent-
spricht, der Gesamtbetrag der Sonderprämien, die dem Betriebsinhaber für das
betreffende Kalenderjahr zu gewähren sind, außer im Falle höherer Gewalt
entsprechend gekürzt wird; nur bei erheblichen Abweichungen und bei wieder-
holter Abweichung bei zwei Kontrollen in demselben Kalenderjahr wird für die-
ses Kalenderjahr keinerlei Prämie gewährt. Art. 10 Abs. 4 der Verordnung in der
Fassung der Änderungsverordnung (EG) Nr. 1678/98 vom 29. Juli 1998 (ABl
Nr. L 212 S. 23) und Art. 10c der Verordnung in der Fassung der Ände-
rungsverordnung (EG) Nr. 2801/1999 (ABl Nr. L 340 S. 29) modifizieren diese
Bestimmung, ergänzen insbesondere die „Fehler“ des Bestandsregisters um
„Versäumnisse“ bei seiner Führung, ohne jedoch am Grundsatz etwas zu än-
dern. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob für das Kalenderjahr 1995 anstelle der
ursprünglichen Fassung in Anwendung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung
(EG, EURATOM) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den
Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl
Nr. L 312 S. 1) eine der späteren Fassungen als günstigere Sanktionsregelung
rückwirkend anzuwenden ist (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 14. Dezember
2004 - 10 LC 67/02 - AUR 2005, 157).
b) Daneben können Fehler im Bestandsregister, die einzelne Tiere betreffen,
den Prämienanspruch für diese Tiere ausschließen sowie ggf. Anlass für weite-
re Prämienkürzungen bieten, wenn sie nämlich verhindern, dass diese Tiere im
Sinne des Art. 10 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 als prä-
mienberechtigt „festgestellt“ werden können.
Das Gemeinschaftsrecht sah dies für das Kalenderjahr 1995 indes noch nicht
vor. Erst seit der Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 durch die Ver-
ordnung (EG) Nr. 1678/98, die nur für Prämienanträge für das Jahr 1999 gilt,
ordnet Art. 10 Abs. 5 Unterabs. 1 Buchstabe b an, dass ein Rind nur dann als
festgestellt gilt, wenn es ordnungsgemäß im Bestandsregister geführt ist (vgl.
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auch EuGH, Urteil vom 24. Mai 2007 - Rs. C-45/05, Maatschap Schonewille-
Prins - Slg. I-4025 , wo ebenfalls ein Registrierungsfehler den
Beihilfeanspruch gerade für das betroffene Tier ausschloss). Dasselbe be-
stimmt Art. 10d Unterabs. 1 Buchstabe b der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 in
der ab dem Jahr 2000 geltenden Fassung der Änderungsverordnung (EG)
Nr. 2801/1999. Für die Jahre vor 1999 fehlt eine vergleichbare Bestimmung;
Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 in der 1995 anzuwendenden Fas-
sung setzt für die Prämienfähigkeit eines Tieres in formeller Hinsicht lediglich
voraus, dass es im Beihilfeantrag identifiziert wurde (Abs. 4 Unterabs. 1), knüpft
die „Feststellung“ der Prämienfähigkeit aber an keine darüber hinausgehenden
formellen Voraussetzungen.
Für die Jahre vor 1999 verbleibt es damit bei den Rechtsfolgen des bereits er-
wähnten Art. 10 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92, dass prämien-
schädlich nur sein kann, wenn im Bestandsregister nicht alle Tiere des Betrie-
bes verzeichnet sind, und wenn dies bei einer (oder bei mehreren) Vor-Ort-
Kontrollen festgestellt wird. Dass dies die einzige Rechtsfolge war, wird auch
dadurch bestätigt, dass Art. 10 Abs. 3 nicht zwischen Antragstieren und Nicht-
antragstieren unterscheidet. Erst die erwähnten Änderungsverordnungen haben
diese Unterscheidung eingeführt; nunmehr sind nicht ordnungsgemäße
Eintragungen von Antragstieren unmittelbar prämienschädlich (Art. 10 Abs. 2
und 5 der Verordnung i.d.F. der Änderungsverordnung Nr. 1678/98),
während der Anwendungsbereich der Nachfolgeregelung zu Art. 10 Abs. 3 - of-
fenbar um Doppelsanktionen zu vermeiden - auf Nichtantragstiere beschränkt
wurde (vgl. Art. 10 Abs. 4 der Verordnung i.d.F. der Änderungsverordnung
Nr. 1678/98: „Bei anderen als den unter die Absätze 2 und 3 fallenden
Rindern ...“).
3. Dass eine Verletzung der Pflicht zur ordnungsgemäßen Führung des Be-
standsregisters allein eine Versagung der Sonderprämien für männliche Rinder
rechtfertigt, ergibt sich auch nicht aus dem nationalen Recht.
a) § 3 Abs. 1, § 5 und § 13 RSVO regeln die Anforderungen für den Prämien-
antrag und die Schlachtbescheinigung, teilweise in Wiederholung, teilweise in
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Ergänzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Nach § 5 Abs. 5 RSVO - seit
28. Oktober 1995 nach § 5 Abs. 4 RSVO - muss der Erzeuger mit jedem Antrag
auf Sonderprämie auch eine Abschrift oder Kopie des aktuellen Bestandsregis-
ters vorlegen. Dies stellt ersichtlich eine bloße Ordnungsvorschrift dar. Ihr
Zweck ist es, der Behörde die Prüfung zu erleichtern, ob die „beantragten Tiere“
die Prämienvoraussetzungen erfüllen, also als prämienberechtigt „festgestellt“
werden können; ferner dient es ggf. der Berechnung des Besatzdichtefaktors.
Die zuständige Behörde ist bei der Antragsprüfung nicht an die eigenen Anga-
ben des Erzeugers im Beihilfeantrag gebunden, sondern gehalten, die Richtig-
keit dieser Angaben von Amts wegen zu überprüfen (vgl. § 24 VwVfG). Dabei
ist sie in der Wahl ihrer Erkenntnisquellen frei, kann also neben dem Bestands-
register auch etwa auf das Zuchtbuch oder bei zugekauften Rindern auf den
Kaufvertrag und das Bestandsregister des Verkäufers zurückgreifen. Auch die
eigene Versicherung des Antragstellers kommt in Betracht. Aus Art. 59 Buch-
stabe b der Verordnung (EWG) Nr. 3886/92 lässt sich lediglich entnehmen,
dass sie sich zur Frage des Alters eines Tieres nicht allein auf die eigenen An-
gaben des Erzeugers verlassen darf; lässt sich dieses nicht belegen, so ist der
Altersnachweis nicht geführt.
Aus § 5 Abs. 5 RSVO a.F., § 5 Abs. 4 RSVO n.F. ist aber immerhin zu schlie-
ßen, dass dem Bestandsregister besondere Bedeutung zukommt. Dabei hat die
Behörde durchaus zu berücksichtigen, ob das Bestandsregister zeitnah geführt
wurde und ob es vollständig ist. Bei gegebenem Anlass hat sie auch zu prüfen,
ob es inhaltlich richtig ist. Je nachdem kommt einer Eintragung in das
Bestandsregister nur eine geringe oder gar keine Beweiskraft zu.
b) Das nationale Recht sieht aber nirgends vor, dass die Vorlage eines aktuel-
len Bestandsregisters - vollends eines einwandfrei geführten und inhaltlich voll-
ständigen und richtigen Registers - in dem Sinne (formelle) Prämienvorausset-
zung wäre, dass ein Prämienantrag andernfalls ohne Weiteres, d.h. also ohne
Sachprüfung abgelehnt werden könnte.
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Zu einer derart weitreichenden Sanktionierung der Pflicht zur Führung des Be-
standsregisters wäre Deutschland auch gar nicht berechtigt (vgl. auch EuGH,
Urteil vom 24. Mai 2007, a.a.O. ). Art. 55 der Verordnung (EWG)
Nr. 3886/92 ermächtigt die Mitgliedstaaten zwar zum Erlass von geeigneten
Vorschriften, um die ordnungsgemäße Durchführung dieser Verordnung zu ge-
währleisten. Sie sind mithin zur Konkretisierung ermächtigt, nicht jedoch zur
Veränderung. Die Bestimmung, dass der Erfolg eines jeden Prämienantrags
generell von der Vorlage eines in jedweder Hinsicht einwandfreien Bestandsre-
gisters abhängen soll, stellte aber eine - und zwar erhebliche - Verschärfung
der formellen Prämienvoraussetzungen dar. Das Gemeinschaftsrecht selbst
sieht das nicht vor; es enthält auch keinen Ansatzpunkt, der in diese Richtung
weist. Vielmehr knüpft es an Fehler des Bestandsregisters - wie gezeigt - ganz
andere, und zwar abgestufte Rechtsfolgen.
Daraus ergibt sich zugleich, dass das Gemeinschaftsrecht die vom Berufungs-
gericht vertretene einschneidende Rechtsfolge umgekehrt auch nicht gebietet.
Vielmehr genügt die dargestellte nationale Rechtslage ersichtlich auch der all-
gemeinen Anforderung des europäischen Gemeinschaftsrechts, dass die Um-
setzung des gemeinschaftsrechtlichen Integrierten Verwaltungs- und Kontroll-
systems durch das nationale Recht die finanziellen Interessen der Gemein-
schaft effektiv zu wahren geeignet sein muss, um Unregelmäßigkeiten vorzu-
beugen und diese zu ahnden (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Juni 2010 - Rs. C-
375/08, Pontini u.a. - juris ).
4. Nach allem durfte die Behörde die Prämienanträge für das Kalenderjahr 1995
nicht allein deshalb ablehnen, weil der Kläger sein Bestandsregister nicht
ordnungsgemäß geführt hatte. Das führt zur Rechtswidrigkeit des angefochte-
nen Rücknahme- und Rückforderungsbescheides; dies freilich nur, soweit der
diesbezügliche Ablehnungsgrund „K 12“ reicht, den der Kläger mit seiner Klage
allein angefochten hat, soweit also bei der endgültigen Prämienabrechnung, die
dem Bescheid zugrunde liegt, Sonderprämie für elf Tiere der zweiten Alters-
klasse von jeweils 211,88 DM nicht einbezogen wurde. Dies hat der Kläger im
Revisionsverfahren nochmals klargestellt. Keiner Prüfung bedarf, ob diesem
Prämienanspruch andere Gründe entgegenstehen könnten. Die Beklagte hatte
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in den zurückgenommenen Bewilligungsbescheiden die Prämienvoraussetzun-
gen insofern geprüft und bejaht. Hiervon ist sie in ihrem Rücknahmebescheid
nur aus Gründen abgerückt, die keinen Bestand haben können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Kley
Liebler
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
RiBVerwG Buchheister
Dr. Wysk
ist wegen Urlaubs an der
Unterschrift gehindert
Kley
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Sachgebiet:
BVerwGE
nein
Landwirtschaftsrecht
Fachpresse
ja
Rechtsquellen:
RL 92/102/EWG
VO (EWG) Nr. 3886/92 Art. 14
VO (EWG) Nr. 3887/92 Art. 6 Abs. 6, Art. 10, 10c, 10d
RSVO § 5
VVVO § 24c
Stichworte:
Landwirtschaft; landwirtschaftliche Beihilfe; Rückforderung von Beihilfe; Ge-
meinsame Marktorganisation für Rindfleisch; Sonderprämie für männliche Rin-
der; Altersnachweis; Bestandsregister; Integriertes Verwaltungs- und Kontroll-
system; integriertes System; InVeKoS; Rückforderung; Sanktion
Leitsatz:
Fehler und Versäumnisse bei der Führung des Bestandsregisters führten als
solche im Antragsjahr 1995 nicht zum Verlust von Prämienansprüchen für
männliche Rinder.
Urteil des 3. Senats vom 27. Januar 2011 - BVerwG 3 C 14.10
I. VG Stade
vom 17.06.2009 - Az.: VG 6 A 2077/06 -
II. OVG Lüneburg vom 19.01.2010 - Az.: OVG 10 LC 96/09 -