Urteil des BVerwG vom 28.05.2015

DDR, Berufliche Tätigkeit, Konstitutive Wirkung, Politische Verfolgung

BVerwGE: nein
Fachpresse: ja
Sachgebiet:
Recht zur Bereinigung von SED-Unrecht
Rechtsquelle/n:
BerRehaG § 1 Abs. 1 Nr. 4, § 25 Abs. 2
VwGO § 137 Abs. 1, Abs. 2, § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
ZPO § 293
Absolventenordnung DDR § 4
Anweisung Nr. 9/1971 DDR § 2, § 3
Stichworte:
berufliche Rehabilitierung; Verweigerung einer vorgesehenen Beschäftigung
nach Studienabschluss; Friedrich-Schiller-Universität Jena; beruflicher Einsatz
von Hochschulabsolventen in der DDR; Absolventenvermittlung; Kommission für
die Absolventenvermittlung; Einsatzbeschlüsse einer Hochschule der DDR;
Wirksamkeit eines Einsatzbeschlusses; Bindungswirkung von
Einsatzbeschlüssen; Erledigung von Einsatzbeschlüssen; Arbeitsvertrag;
Beschäftigung als wissenschaftliche Assistentin; Unterbrechung des Studiums;
Schwangerschaft; Mutterschutzregelungen der DDR; Ausreiseanträge von
Verwandten; berufliche Benachteiligung; Tatsachenfeststellungen; berufliche
Nachteile; Berufsausübung; begonnener Beruf; Berufsaufnahme; hinreichend
verfestigte Anwartschaft; verfestigte berufsbezogene Position; Aufstiegsschaden;
Abstiegsschaden; fremdes Recht; DDR-Recht; Ermittlung von DDR-Recht;
Feststellungen zum Inhalt von DDR-Recht; größtmögliche Annäherung an
fremdes Recht; Ermittlung der Rechtspraxis; Ermittlungspflicht;
Tatsachenfeststellungen; Bindung an Tatsachenfeststellungen; Revisionsgericht;
Wegfall der Bindung; Zurückverweisung zur Sachaufklärung;
Beweiserleichterung.
Leitsätze:
1. Ansprüche auf berufliche Rehabilitierung bestehen nicht nur bei Eingriffen in
einen ausgeübten Beruf, sondern auch bei solchen in einen begonnenen Beruf
ohne Aufnahme der Tätigkeit, sofern bereits eine hinreichend verfestigte
Anwartschaft auf diese berufliche Tätigkeit erlangt worden ist.
2. Ob die Einsatzbeschlüsse der Kommissionen für die Absolventenvermittlung
der DDR-Hochschulen zu einer solchen Verfestigung führten, bestimmt sich
maßgeblich nach der tatsächlichen Handhabung des DDR-Rechts (hier: der
Absolventenordnung); sie ist ausschließlich von den Tatsacheninstanzen
aufzuklären.
Urteil des 3. Senats vom 28. Mai 2015 - BVerwG 3 C 12.14
I. VG Meiningen vom 26. Juni 2014
Az: VG 8 K 158/13 Me
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 12.14
VG 8 K 158/13 Me
Verkündet
am 28. Mai 2015
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Mai 2015
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler, Dr. Wysk,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
und den Richter am Bundesverwaltungsgericht Rothfuß
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen vom
26. Juni 2014 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin beansprucht ihre berufliche Rehabilitierung wegen der Verweige-
rung einer vorgesehenen Beschäftigung nach Abschluss ihres Studiums.
Von 1979 bis 1985 studierte die Klägerin Chemie an der Friedrich-Schiller-
Universität (FSU) Jena. Die dort gebildete Kommission für die Absolventenver-
mittlung fasste unter dem 17. März 1983 einen Einsatzbeschluss, wonach die
Klägerin nach dem vorgesehenen Abschluss ihres Studiums im Jahr 1984 als
wissenschaftliche Assistentin an der FSU Jena beschäftigt werden sollte. We-
gen der Geburt ihrer Tochter unterbrach die Klägerin ihr Studium jedoch von
Oktober 1983 bis Mai 1984 und schloss es erst im Mai 1985 mit dem Diplom
ab. Ein Arbeitsvertrag mit der FSU Jena, wie nach dem Einsatzbeschluss vor-
gesehen, wurde nicht abgeschlossen. Die Klägerin war vielmehr, abgesehen
von einer kurzzeitigen Aushilfstätigkeit, nicht beruflich tätig. Im Oktober 1986
stellte sie einen Ausreiseantrag und siedelte im Juli 1989 mit ihrer Familie in die
Bundesrepublik Deutschland über.
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Am 27. Oktober 2011 beantragte sie ihre berufliche Rehabilitierung mit der Be-
gründung, ihr sei die Tätigkeit an der FSU Jena aus politischen Gründen ver-
wehrt worden. Dazu sei ihr im Sommer 1984 mündlich erklärt worden, dass ei-
ne Tätigkeit an der Universität nicht in Betracht komme, da ihre Schwiegerel-
tern, ihr Schwager und ihre Schwägerin wegen eines Ausreiseantrags inhaftiert
worden seien. Bewerbungen bei Firmen seien gescheitert, sobald man ihre Ak-
te gesehen habe. Man habe ihr erklärt, sie solle sich nicht weiter bewerben.
Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 19. Juni 2012 ab. Der Kläge-
rin sei lediglich ein angestrebter Aufstieg verwehrt worden. In eine innegehabte
berufsbezogene Position sei nicht eingegriffen worden, weil es nicht zum Ab-
schluss eines Arbeitsvertrages gekommen sei. Den Widerspruch hiergegen
wies der Beklagte mit Bescheid vom 21. Februar 2013 zurück. Der berufliche
Einsatz von Hoch- und Fachschulabsolventen sei in der DDR langfristig geplant
und durch Einsatzbeschlüsse festgelegt worden. Jedoch seien die wechsel-
seitigen Rechte und Pflichten erst in den Arbeitsverträgen konkretisiert worden,
die zu Beginn des letzten Ausbildungsjahres zwischen den Studenten und den
Betrieben abzuschließen waren. Wenn es im Fall der Klägerin nicht zum Ab-
schluss des für den Beginn des vierten Studienjahres vorgesehenen Arbeitsver-
trages gekommen sei, dann deshalb, weil sie ihr Studium wegen einer Schwan-
gerschaft unterbrochen und nicht planmäßig 1984 abgeschlossen habe. Des-
halb sei auch der Einsatzbeschluss, der den Arbeitsvertrag nicht ersetzen kön-
ne, nicht bindend gewesen.
Die Klage mit dem Antrag, sie für die Zeit vom 1. Mai 1985 bis zum 27. Juli
1989 beruflich zu rehabilitieren, hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und
zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe in der fragli-
chen Zeit keine verfestigte berufliche Stellung innegehabt. Zum Abschluss ei-
nes Arbeitsvertrages sei es nicht gekommen. Der Einsatzbeschluss sei noch
nicht als hinreichend verfestigte Anwartschaft auf eine Berufstätigkeit anzuse-
hen. Zwar sei der Absolventenordnung der DDR zu entnehmen, dass der Ab-
schluss eines Arbeitsvertrages zwingend das Vorliegen eines Einsatzbeschlus-
ses erfordert habe; der weitergehende Schluss, dass ein Beschluss auch zwin-
gend zum Abschluss eines Arbeitsvertrages geführt habe, ergebe sich aus den
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Vorschriften aber nicht. Zu berücksichtigen sei zudem, dass der Einsatzbe-
schluss von einer Beendigung des Studiums und mithin der Möglichkeit eines
beruflichen Einsatzes der Klägerin an der FSU Jena im Jahre 1984 ausgegan-
gen sei. Durch die Geburt ihrer Tochter habe sich das Studium aber verzögert,
sodass die Klägerin zum vorgesehenen Zeitpunkt nicht habe eingesetzt werden
können. Den der Kammer vorliegenden Rechtsvorschriften sei nicht zu ent-
nehmen, ob ein einmal gefasster Einsatzbeschluss in einem solchen Fall weiter
Geltung beansprucht habe oder ob ein neuer Beschluss habe gefasst werden
müssen. Es könne auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Universität ih-
ren Bedarf an Assistenten 1984 bereits anderweitig habe decken können und
1985 keine weitere Stelle zur Verfügung gestanden habe. Schließlich sei der
Einsatzbeschluss auch nicht mit einer Aspirantur vergleichbar, die das Bundes-
verwaltungsgericht mit Urteil vom 18. März 2010 - 3 C 34.09 - als berufliche
Position anerkannt habe; denn anders als bei einer Aspirantur sei die Klägerin
nicht bereits für die Universität tätig gewesen.
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Revision macht die Klägerin gel-
tend, das angefochtene Urteil bestehe zu Unrecht darauf, dass der Abschluss
eines Arbeitsvertrages Voraussetzung für die Rehabilitierung sei. Nach der Ab-
solventenordnung sei schon mit dem Einsatzbeschluss eine weitgehende Kon-
kretisierung des zukünftigen Arbeitsverhältnisses eingetreten. Die Betriebe sei-
en verpflichtet gewesen, Arbeitsverträge gemäß den Einsatzbeschlüssen abzu-
schließen. Die Einsatzbeschlüsse seien Einzelentscheidungen mit verbindlichen
Festlegungen gewesen, hätten auch im Verhältnis zu den Adressaten ein kon-
kretes Rechtsverhältnis begründet und konstitutive Wirkung für das zu begin-
nende Arbeitsverhältnis gehabt. Dem Verwaltungsgericht sei weiter nicht darin
zu folgen, dass nach ihrer Schwangerschaft ein neuer Beschluss hätte gefasst
werden müssen. Einsatzbeschlüsse hätten ihre Wirksamkeit nach allgemeinen
Grundsätzen nur durch Aufhebung, Widerruf oder sonstiges Erlöschen verlieren
können. Andere Regeln hätten die einschlägigen Rechtsvorschriften nicht ent-
halten, weshalb Einsatzbeschlüsse auch bei Verzögerungen des Studiums ver-
pflichtend geblieben seien. Von dem Recht, gegen den Beschluss Einspruch
einzulegen, habe in ihrem Fall keine Partei Gebrauch gemacht. Mit der bewuss-
ten Verhinderung des Abschlusses eines Arbeitsvertrages habe daher ein Ein-
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griff in eine berufsbezogene Rechtsposition im Sinne des Beruflichen Rehabili-
tierungsgesetzes vorgelegen. Dieser Eingriff habe in ihrem Falle der politischen
Verfolgung gedient, denn es sei wegen der Ausreiseanträge naher Verwandter
vermutet worden, dass sie für die angestrebte Tätigkeit einer wissenschaftli-
chen Assistentin politisch ungeeignet sei. Aus demselben Grund seien auch
ihre anderen Bewerbungen erfolglos geblieben.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung
von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat es
verfahrensfehlerhaft unterlassen, hinreichende Tatsachen zu ermitteln, um dem
Bundesverwaltungsgericht eine Klärung der Frage zu ermöglichen, ob Einsatz-
beschlüsse einer Hochschule der DDR eine rehabilitierungsfähige berufsbezo-
gene Position vermitteln. Die Klageabweisung erweist sich auch nicht aus ande-
ren Gründen als richtig. Daher lässt sich ohne weitere Tatsachenfeststellungen
nicht entscheiden, ob die Klage Erfolg hat; die Sache ist deshalb zur anderwei-
tigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuver-
weisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Die Klage ist begründet, wenn die Klägerin gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 des Be-
ruflichen Rehabilitierungsgesetzes (BerRehaG) durch eine andere, also nicht
unter Nr. 1 bis 3 fallende Maßnahme im Beitrittsgebiet, die der politischen Ver-
folgung gedient hat, zumindest zeitweilig weder einen bisher ausgeübten, be-
gonnenen, erlernten oder durch den Beginn einer berufsbezogenen Ausbildung
nachweisbar angestrebten noch einen sozial gleichwertigen Beruf ausüben
konnte. Die Klägerin macht als berufliche Nachteile im Sinne dieser Vorschrift
geltend, sie sei an einer sich an das Studium anschließenden Tätigkeit als wis-
senschaftliche Assistentin an der FSU Jena gehindert worden und ferner - wie
unten auszuführen ist - an der Ausübung des erlernten Berufs einer Diplom-
Chemikerin.
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a) Was die Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin an der FSU Jena anlangt,
liegt eine berufliche Benachteiligung vor, wenn die Klägerin im Zeitpunkt des
(unterstellten) Eingriffs bereits eine hinreichend verfestigte Anwartschaft auf
diese Tätigkeit hatte (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 4. Februar 2010 - 3 PKH
9.09 - ZOV 2010, 145 Rn. 7 und vom 20. Dezember 2010 - 3 PKH 6.10 - juris
Rn. 5). In diesem Fall wäre sie daran gehindert worden, einen begonnenen Be-
ruf auszuüben. Wie schon der Wortlaut deutlich macht, erfasst § 1 Abs. 1 Nr. 4
BerRehaG nicht nur Eingriffe in eine tatsächlich ausgeübte Berufstätigkeit, son-
dern auch Fälle, in denen der Betroffene daran gehindert wurde, eine Ausbil-
dung abzuschließen oder einen erlernten Beruf aufzunehmen (vgl. BVerwG,
Urteil vom 12. Februar 1998 - 3 C 25.97 - Buchholz 115 Sonstiges Wiederver-
einigungsrecht Nr. 11 S. 23). Mit dem Begriff des begonnenen Berufs bezieht
das Gesetz Sachverhalte in den Schutzbereich ein, in denen die Arbeit zwar
noch nicht aufgenommen, die zukünftige Berufstätigkeit aber so konkret abseh-
bar war, dass von einer verfestigten berufsbezogenen Position gesprochen
werden kann. Die Gesetzesmaterialien nennen dazu den Abschluss eines Ar-
beitsvertrages. Damit sollte klargestellt werden, dass eine tatsächliche Arbeits-
aufnahme nicht erforderlich ist (vgl. Begründung des Entwurfs eines Zweiten
SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 19. Mai 1993, BT-Drs. 12/4994
S. 44). Im Fall der Klägerin ist ein solcher Vertrag, der zu Beginn des letzten
Studienjahres (1984) vorgesehen gewesen war, indes unbestritten nicht zu-
stande gekommen. Nach Wortlaut wie Gesetzeszweck kann der Berufsbeginn
aber auch durch andere Kriterien als den Abschluss eines Arbeitsvertrages be-
stimmt werden, wenn diese im Lichte des Schutzzwecks des Gesetzes zu einer
vergleichbaren Verfestigung geführt haben. Durch diese Verfestigung unter-
scheidet sich vor Aufnahme der eigentlichen Berufstätigkeit der begonnene Be-
ruf von bloß hypothetischen Berufschancen, deren Verhinderung einen nicht
rehabilitierungsfähigen Aufstiegsschaden ausmachen (dazu BVerwG, Urteil
vom 18. März 2010 - 3 C 34.09 - Buchholz 428.8 § 1 BerRehaG Nr. 4 Rn. 18).
b) Ob die Klägerin eine ausreichend verfestigte Anwartschaft auf die Berufstä-
tigkeit als wissenschaftliche Assistentin erworben hatte, lässt sich auf der
Grundlage der Feststellungen im angefochtenen Urteil nicht beantworten. Nach
Lage des Falles kann nur der Einsatzbeschluss vom März 1983 der Klägerin
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eine im dargelegten Sinne verfestigte berufsbezogene Position vermittelt ha-
ben. Ob dies zu bejahen ist, beurteilt sich anhand der einschlägigen Rechtsvor-
schriften der DDR. Das Verwaltungsgericht hat insoweit die "Verordnung über
die Vorbereitung und Durchführung des Einsatzes der Hoch- und Fachschulab-
solventen des Direktstudiums und die Förderung der Absolventen beim Über-
gang vom Studium zur beruflichen Tätigkeit - Absolventenordnung - vom
3. Februar 1971" (GBl. DDR Teil II S. 297) und die "Anweisung Nr. 9/1971 über
die Aufgaben und Arbeitsweise der Kommissionen für die Vermittlung der Ab-
solventen an den Hoch- und Fachschulen vom 15. Mai 1971" (VuM Nr. 6 S. 9)
zugrunde gelegt und daraus die Schlussfolgerung gezogen, ein Einsatzbe-
schluss sei notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Abschluss
eines Arbeitsvertrages und führe daher nicht zu einer hinreichenden Verfesti-
gung. An diese Auslegung ist der Senat im Grundsatz gebunden; denn Feststel-
lungen zum Inhalt von DDR-Recht, das nicht als Bundesrecht fortgilt (vgl. Art. 9
des Einigungsvertrages i.V.m. Anlage II Kap. XVI A III und B III), betreffen Tat-
sachen, deren Ermittlung dem Revisionsgericht verwehrt ist (§ 137 Abs. 2
VwGO). Insofern gilt nichts anderes als nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 293
ZPO bei ausländischem Recht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 20. März 1989
- 1 B 43.89 - Buchholz 130 § 3 RuStAG Nr. 2 S. 2 f., vom 3. Mai 1996 - 4 B
46.96 - Buchholz 11 Art. 14 GG Nr. 296 S. 8, vom 14. Oktober 2004 - 6 B
6.04 - juris Rn. 142 und vom 29. Mai 2012 - 3 B 90.11 - ZOV 2012, 213 Rn. 5).
Die Bindung greift nur dann nicht, wenn in Bezug auf die Feststellungen zuläs-
sige und begründete Revisionsgründe dargelegt werden und vorliegen (§ 137
Abs. 2 VwGO) oder die Würdigung des DDR-Rechts materiell schlechterdings
nicht nachvollziehbar ist (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 - 10 C 2.12 -
BVerwGE 143, 369 Rn. 13). Das ist vorliegend der Fall. Es spricht schon viel
dafür, dass das Verwaltungsgericht die Regelungen über die Absolventenver-
mittlung hinsichtlich ihrer Bedeutung als staatliches Lenkungsinstrument für den
beruflichen Einsatz von Hoch- und Fachschulabsolventen nicht richtig erfasst
hat (c). Vor allem aber hat es die gebotene Aufklärung unterlassen, wie diese
Regelungen tatsächlich gehandhabt wurden (d). Schließlich ist es der Frage,
wie sich die Unterbrechung des Studiums im Falle der Klägerin konkret ausge-
wirkt hat, nicht ausreichend nachgegangen (e).
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c) Die Revision rügt, dass das Verwaltungsgericht die einschlägigen Rechts-
grundlagen nicht nachvollziehbar gewürdigt hat. Das liegt nahe, ohne dass dem
Senat insofern eine abschließende Entscheidung möglich ist. Offenkundig rich-
tig ist allerdings, dass das Verwaltungsgericht am Wortlaut der zentralen Aus-
sagen in § 4 der Absolventenordnung vorbeigeht, wonach zu Beginn des letzten
Ausbildungsjahres zwischen den Studenten und den Betrieben Arbeitsverträge
abzuschließen "sind" (Abs. 1), die nur auf der Grundlage des (für den jeweiligen
Studenten) gefassten Einsatzbeschlusses zulässig waren (Abs. 2). Das spricht
deutlich für eine strikte Rechtspflicht, nach Maßgabe der Einsatzbeschlüsse zu
verfahren. Gestützt wird dieses Verständnis durch den Rechtsrahmen, der "im
Interesse der sozialistischen Gesellschaft und des Absolventen" (§ 2 Abs. 3
Absolventenordnung) eine umfassende "Planung und Leitung des Einsatzes der
Absolventen" auf der Grundlage der Fünfjahresplanung und der Jahresvolks-
wirtschaftspläne (§ 1 Abs. 2, §§ 5 ff. der Absolventenordnung) vorsah. Das
Verwaltungsgericht bleibt eine Erklärung dafür schuldig, wo in diesem dirigisti-
schen System die normativen Spielräume belassen sein könnten, um Einsatz-
beschlüssen die ihnen offensichtlich prinzipiell beigemessene Steuerungswir-
kung abzusprechen und sie generell als nicht ausreichend für den Abschluss
eines Arbeitsvertrages zu betrachten. Aus der Möglichkeit, gegen sie Einspruch
zu erheben (§ 3 Abs. 6 der Anweisung Nr. 9/1971), lässt sich dies nicht herlei-
ten. Die Einspruchsmöglichkeit zeigt im Gegenteil, dass Einsatzbeschlüssen
eine Bindungswirkung zugedacht war, die nur in einem formellen Verfahren vor
demjenigen Gremium beseitigt werden konnte, das den Einsatzbeschluss ge-
fasst hatte (vgl. § 2 Spiegelstrich 3 der Anweisung Nr. 9/1971). Entsprechendes
gilt für Fälle, in denen sich die tatsächlichen Umstände anders entwickelten als
die einem Einsatzbeschluss zugrunde liegenden Annahmen. Solche Fehlprog-
nosen und Sondersituationen lassen keine Rückschlüsse darauf zu, welche
Bindungswirkung Einsatzbeschlüssen im Regelfall zukommen sollte.
d) Vor allem hat es das Verwaltungsgericht verfahrensfehlerhaft unterlassen,
die Handhabung von Einsatzbeschlüssen in der DDR aufzuklären. § 173 Satz 1
VwGO i.V.m. § 293 ZPO verpflichtet das Gericht im Verwaltungsprozess, frem-
des Recht unter Ausnutzung aller ihm zugänglichen Erkenntnisquellen von
Amts wegen zu ermitteln. Dabei hat es nicht nur die Rechtsnormen, sondern
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auch ihre Umsetzung in der Rechtspraxis zu betrachten (BVerwG, Beschluss
vom 10. Dezember 2004 - 1 B 12.04 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 67
S. 62 f.; Urteil vom 30. Oktober 1990 - 9 C 60.89 - BVerwGE 87, 52 <59>). Der
an diese Ermittlungspflicht anzulegende Maßstab ist streng. Es gilt der Grund-
satz der größtmöglichen Annäherung an das fremde Recht, das in seinem sys-
tematischen Kontext, mit Hilfe der im fremden Rechtssystem gebräuchlichen
Methoden und unter Einbeziehung der dazu ergangenen Rechtsprechung er-
fasst werden muss (BVerwG, Urteil vom 19. Juli 2012 - 10 C 2.12 - BVerwGE
143, 369 Rn. 14). Wegen der in der DDR bekanntermaßen oft willkürlichen Aus-
legung und Handhabung von Rechtsvorschriften kommt der gelebten Rechts-
praxis für die Beurteilung der Bindungswirkung die letztlich ausschlaggebende
Bedeutung zu. Dem ist das Verwaltungsgericht nicht nachgegangen, sondern
hat sich ausschließlich am Normtext orientiert.
e) Das Verwaltungsgericht hat hilfsweise erwogen, aber offen gelassen, ob die
Klägerin eine etwaige berufsbezogene Position aus dem Einsatzbeschluss in-
folge der Verzögerung ihres Studienabschlusses, also verfolgungsunabhängig,
verloren hat. Dieser Frage wäre in der Tat nachzugehen, sollte die weitere Auf-
klärung ergeben, dass aus dem Einsatzbeschluss generell ein Anspruch von
Absolventen auf Abschluss eines Arbeitsvertrages folgte und dieser auch (tat-
sächlich) in einem Arbeitsvertrag mündete. In diesem Fall wäre einerseits zu
erwägen, dass in einem vollständig durchgeplanten, dirigistischen System, wie
es die Absolventenordnung errichtete, die Fortdauer der einem Einsatzbe-
schluss zugrunde liegenden Annahmen mitgedachte Voraussetzung für deren
Fortgeltung sein könnte, sodass sich ein Beschluss erledigt haben könnte,
wenn es im ins Auge gefassten Zeitpunkt nicht zum Abschluss eines Arbeitsver-
trages kam. Das Verwaltungsgericht hat hierzu festgestellt, dass in der Verord-
nung keine normativen Vorkehrungen getroffen sind für Fälle, in denen sich die
einem Einsatzbeschluss zugrunde liegenden Annahmen verändern. Bei der
Frage nach den daraus im Fall der Klägerin zu ziehenden Schlüssen wird aber
zu bedenken sein, dass Schwangeren und Müttern im Studium besondere Un-
terstützung zu gewähren war. Nach der "Anordnung zur Förderung von Studen-
tinnen mit Kind und werdenden Müttern, die sich im Studium befinden, an den
Hoch- und Fachschulen vom 10. Mai 1972" (GBl. DDR II S. 320) sollte eine
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Studienunterbrechung oder -verlängerung nach Möglichkeit vermieden werden
(§ 2). Die speziellen persönlichen Probleme der Studentinnen mit Kind und der
werdenden Mütter waren bei der Durchführung der Ausbildung zu beachten (§ 4
Abs. 2). Auf Antrag war eine Fördervereinbarung abzuschließen, um den Studi-
enausfall aufzuholen (§ 5). Danach erscheint es immerhin gut denkbar, dass die
Verlängerung eines Studiums im Gefolge einer Schwangerschaft die Wirksam-
keit eines Einsatzbeschlusses nicht berührte. Letztlich maßgeblich ist aber auch
insoweit die Handhabung in der Rechtspraxis der DDR.
2. Da der Senat die nötigen Feststellungen nicht selbst treffen kann, ist die Sa-
che zur weiteren Aufklärung zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht wird
dabei insbesondere festzustellen haben, welche Bindungswirkung Einsatzbe-
schlüssen für den Abschluss von Arbeitsverträgen nach der letztlich entschei-
denden Handhabung an den Hochschulen der DDR zukam. Dass zu dieser
Rechtspraxis keine Erkenntnisquellen verfügbar sind, ist nicht erkennbar. Zu
denken ist vor allem an Auskünfte von Hochschulen und ihrer Bediensteten,
aber auch an die Einholung von Sachverständigengutachten. Ergibt sich, dass
eine Bindungswirkung bestand, wie der normative Befund nahelegt, ist zu be-
antworten, ob sich Einsatzbeschlüsse nach der Rechtspraxis der DDR bei
planwidrigen Verzögerungen des Studiums erledigten und dies auch im Fall der
Klägerin anzunehmen ist, sodass die erforderliche Kausalität zwischen einer
(unterstellten) politischen Verfolgung und dem beruflichen Nachteil fehlen wür-
de.
3. Abschließend ist auf Folgendes hinzuweisen:
a) Sollte sich im Zuge der weiteren Aufklärung ergeben, dass sich die Klägerin
zu Beginn ihres letzten Ausbildungsjahres auf einen fortwirkenden Einsatzbe-
schluss berufen konnte, der ihr einen Anspruch auf Abschluss eines Arbeitsver-
trages gab, wäre die Verfolgungslage aufzuklären. Dabei wäre einzustellen,
dass die Behauptung von Repressalien gegen nahe Verwandte von Ausreise-
willigen, die als politische Verfolgung zu bewerten sind, nach den allgemein be-
kannten Verhältnissen in der DDR plausibel ist. Bei einem in sich schlüssigen,
auch im Übrigen glaubhaften Vortrag ist daher zu erwägen, der Klägerin, wenn
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weitere Beweise nicht erreichbar sein sollten, die Beweiserleichterung des § 25
Abs. 2 Satz 1 BerRehaG zugutekommen zu lassen.
b) Sollte sich hingegen erweisen, dass der Einsatzbeschluss keine berufliche
Anwartschaft gewährte oder diese sich im Verfolgungszeitpunkt erledigt hatte,
wäre weiter zu prüfen, ob die Klägerin aus Gründen politischer Verfolgung an
der Ausübung des erlernten Berufs als Diplom-Chemikerin gehindert worden ist.
Dieses Begehren auf das der angegriffene Bescheid vom 19. Juni 2012 aus-
drücklich eingeht, hat die Klägerin im Klageverfahren nicht fallen lassen. Es
wird von dem weitergehenden, an den Einsatzbeschluss anknüpfenden Klage-
begehren mitumfasst und lebt auf, falls die Klägerin mit ihrem vorrangig geltend
gemachten Verfolgungsgeschehen nicht durchdringen sollte. Auch insoweit
könnte bei glaubhaftem Vortrag zu den Bemühungen um Arbeitsaufnahme und
zu den Gründen ihres Scheiterns die Beweiserleichterung des § 25 Abs. 2
Satz 1 BerRehaG anzuwenden sein.
Kley
Liebler
Dr. Wysk
Dr. Kuhlmann
Rothfuß
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