Urteil des BVerwG vom 21.01.2003

Beihilfe, Formelles Gesetz, Gewahrsam, Verwaltung

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IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 12.02
OVG 6 B 2.99
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Januar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht van S c h e w i c k ,
Dr. B o r g s - M a c i e j e w s k i , K i m m e l
und Dr. B r u n n
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen den Beschluss
des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 18. März
2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsver-
fahrens.
G r ü n d e :
I.
Die Parteien streiten über den Umfang der dem Kläger zustehen-
den sozialen Ausgleichsleistungen nach dem Strafrechtlichen
Rehabilitierungsgesetz - StrRehaG -.
Nachdem der Rechtsstreit zum ganz überwiegenden Teil durch das
rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom
8. September 1997 seine Erledigung gefunden hat, ist Gegen-
stand des Verfahrens nur noch ein vom Kläger begehrter zusätz-
licher Betrag von 4 400 DM.
Der Kläger befand sich von Anfang 1949 bis Mai 1956 aufgrund
einer Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal in
der DDR in politischem Gewahrsam. Nach seiner Entlassung er-
hielt er 1956 in der Bundesrepublik Deutschland für diese Zeit
eine Bescheinigung nach § 10 Abs. 4 des Häftlingshilfegesetzes
(HHG). Zugleich wurde ihm eine Beihilfe gemäß den Beihilfe-
richtlinien des Bundesministers für Vertriebene, Flüchtlinge
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und Kriegsgeschädigte und des Bundesministers für Finanzen vom
9. November 1955 (Beihilferichtlinien) in Höhe von 4 400 DM
neben Eingliederungshilfen gemäß § 9 b HHG gewährt.
Mit Bescheid vom 21. September 1993 bewilligte ihm das Lan-
desamt auf seinen Antrag eine Kapitalentschädigung in Höhe von
5 060 DM gemäß § 17 i.V.m. § 25 Abs. 2 StrRehaG. Dabei wurden
die aufgrund des Gewahrsams zuvor gewährten Eingliederungsbei-
hilfen und auch die Beihilfe nach den Beihilferichtlinien ge-
mäß § 17 Abs. 1 StrRehaG angerechnet. Den auf Bedenken gegen
die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift gestützten Wider-
spruch wies die Senatsverwaltung für Soziales mit Bescheid vom
8. Dezember 1993 zurück.
Den mit der Klage geltend gemachte Anspruch auf weitere Kapi-
talentschädigung in Höhe von mindestens 42 240 DM hat das Ver-
waltungsgericht in Höhe von 4 400 DM anerkannt. § 17 Abs. 2
StrRehaG lasse die vom Beklagten vorgenommene Anrechnung der
aufgrund der Beihilferichtlinien gezahlten Entschädigung nicht
zu. Die Beihilferichtlinien seien lediglich verwaltungsinterne
Anweisungen und keine gesetzlichen Vorschriften.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht
auch diesen Teil der Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es
im Wesentlichen ausgeführt, die 1956 aufgrund der Beihilfe-
richtlinien erfolgte Leistung sei bei der 1960 bzw. 1974 er-
folgten Bewilligung von HHG-Leistungen im Wege der Anrechnung
berücksichtigt und damit i.S. des § 17 Abs. 2 StrRehaG unmit-
telbar aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften erbracht
worden; sie sei deshalb auch auf die Kapitalentschädigung nach
§ 17 Abs. 1 StrRehaG anzurechnen.
Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt
der Kläger das Ziel weiter, die ihm vom Verwaltungsgericht zu-
gebilligte Forderung durchzusetzen. Nach seiner Ansicht setzt
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das Strafrechtliche Rehabilitierungsgesetz mit der Formulie-
rung "gesetzliche Vorschriften" ein formelles Gesetz voraus.
Zudem habe er die Leistungen 1956 nicht "unmittelbar" aufgrund
gesetzlicher Vorschriften, sondern gewissermaßen freiwillig
erhalten. Schließlich habe der Gesetzgeber im Jahre 1991 durch
die Neufassung der Anrechnungsvorschrift des § 9 a Abs. 4 HHG,
der die Beihilferichtlinien gerade nicht mehr erwähne, seinen
früheren Willen hinsichtlich der Anrechenbarkeit von Leistun-
gen nach den Beihilferichtlinien aufgegeben.
Der Beklagte und der Vertreter des Bundesinteresses verteidi-
gen das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ent-
spricht der Rechtslage.
Nach der hier allein maßgeblichen Bestimmung des § 17 Abs. 2
StrRehaG sind auf die dem Kläger unbestritten zustehende Kapi-
talentschädigung "die aufgrund desselben Sachverhalts unmit-
telbar nach anderen gesetzlichen Vorschriften erbrachten Ent-
schädigungsleistungen anzurechnen". In Übereinstimmung mit dem
Berufungsgericht ist der Senat der Ansicht, dass die dem Klä-
ger 1956 gewährte Beihilfe von dieser Vorschrift erfasst wird.
1. Dass es sich bei den nach den Beihilferichtlinien gewährten
Leistungen um "Entschädigungsleistungen" i.S. von § 17 Abs. 2
StrRehaG handelt, kann ungeachtet ihrer hiervon abweichenden
Bezeichnung als "Beihilfe" nicht bezweifelt werden. Schon der
Wortlaut des § 17 Abs. 2 StrRehaG zeigt mit seiner Bezugnahme
auf das Häftlingshilfegesetz (HHG), dessen Leistungen als
"Eingliederungshilfen" überschrieben sind, dass nicht die für
eine staatliche Zuwendung gewählte Bezeichnung entscheidend
für ihre Einbeziehung in den Geltungsbereich der Vorschrift
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ist, sondern der ihre Bewilligung rechtfertigende sachliche
Grund. Dies ist bei den HHG-Leistungen die Anknüpfung an er-
littenen politischen Gewahrsam, für den zumindest ein
Ausgleich gewährt werden soll. Nicht anders verhält es
sich bei den vor In-Kraft-Treten des § 9 a HHG nach den Bei-
hilferichtlinien gewährten Leistungen. So verweisen die Bei-
hilferichtlinien unter Ziffer I 1 a und b auf § 1 Abs. 1 HHG
und damit auf politischen Gewahrsam als Anknüpfungspunkt der
Leistungen. Dieses Verständnis wird durch die Entstehungsge-
schichte der Beihilferichtlinien bestätigt. Bei den parlamen-
tarischen Beratungen herrschte erkennbar Einmütigkeit darüber,
dass es sich bei den Beihilfen der Sache nach um Entschädi-
gungsleistungen handelte (vgl. etwa BTDrucks 2/701; 2/1450
S. 6).
2. Entgegen der Auffassung des Klägers ist die 1956 gezahlte
Entschädigungsleistung auch den Anforderungen des § 17 Abs. 2
StrRehaG entsprechend "nach gesetzlichen Vorschriften er-
bracht" worden. Dem steht die Ableitung der Ansprüche aus den
Beihilferichtlinien nicht entgegen. Der Begriff der "gesetzli-
chen Vorschriften" ist wegen seiner Vielschichtigkeit ausle-
gungsfähig und auslegungsbedürftig. Mitunter werden darunter
nur formelle, in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren zu-
stande gekommene Vorschriften verstanden, häufig aber auch al-
le allgemein, verbindlichen Anordnungen mit Außenwirkung (Ge-
setze im materiellen Sinne). Selbst das Gewohnheitsrecht zählt
nach landläufiger Meinung (vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch,
16. Aufl., München 2000) zu den Anordnungen der letzteren Art.
Im Hinblick auf § 17 Abs. 2 StrRehaG vermag der Senat keinen
Anhaltspunkt für eine Verengung auf formelle Gesetze - wie sie
der Kläger vornimmt - zu erkennen.
2.1 Allerdings stellen Verwaltungsvorschriften, zu denen auch
die hier in Rede stehenden Beihilferichtlinien gehören, Geset-
ze weder im formellen, noch auch nur im materiellen Sinne dar.
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Sie sind nicht in einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren er-
lassen worden und können keine unmittelbare Außenwirkung bean-
spruchen, vielmehr sind sie Handlungsanweisungen für den in-
ternen Verwaltungsbereich. Der fehlende Rechtsnormcharakter
steht gleichwohl nicht der Annahme entgegen, die dem Kläger
1956 gewährte Beihilfe sei eine nach anderen gesetzlichen Vor-
schriften erbrachte Entschädigungsleistung i.S. von § 17
Abs. 2 StrRehaG. Die Beihilferichtlinien entfalten nämlich un-
ter der Geltung des Gleichheitssatzes (Art. 3 GG) und des Ver-
trauensschutzgebots (Art. 20, 28 GG) nicht nur eine interne
Bindung der Verwaltung, sondern auch Außenwirkung für die von
ihnen betroffenen Bürger. In der Rechtsprechung des Bundesver-
waltungsgerichts (vgl. Urteil vom 8. April 1997 - BVerwG 3 C
6.95 - NVwZ 1998, 273) ist anerkannt, dass Verwaltungsvor-
schriften über die ihnen zunächst nur innewohnende interne
Bindung hinaus vermittels der genannten Verfassungsgrundsätze
eine anspruchsbegründende Außenwirkung im Verhältnis der Ver-
waltung zum Bürger zu begründen vermögen. Voraussetzung ist
allerdings, dass die zu beurteilende Verwaltungsvorschrift ei-
ne Willensäußerung der Exekutive darstellt, zukünftig alle ihr
entsprechenden Fälle auch hiernach zu behandeln. Dieser Gedan-
ke der "antizipierten Verwaltungspraxis" (vgl. Urteil vom
24. März 1977 - BVerwG 2 C 14.75 - BVerwGE 52, 193, 199) lag
den Beihilferichtlinien von 1955 zweifelsfrei zugrunde. Der
Kläger hatte zur Zeit ihrer Gültigkeit einen Anspruch auf feh-
lerfreie Ermessensausübung unter Beachtung des Gleichheitssat-
zes und des Vertrauensschutzgebots. Von diesem Ermessen hat
die Verwaltung in seinem Fall Gebrauch gemacht, indem sein
Rechtsanspruch auf Gewährung der nach den Beihilferichtlinien
üblichen Beihilfe durch Leistungsbescheid vom 28. August 1956
bestandskräftig festgestellt wurde.
2.2 Für diese Sichtweise spricht auch die Entstehungsgeschich-
te des § 17 Abs. 2 StrRehaG. Die Gesetz gewordene Formulierung
geht zurück auf die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
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des Deutschen Bundestages (BTDrucks 12/2820, S. 13). Danach
sollten durch den Hinweis auf andere gesetzliche Vorschriften
auf freiwilliger Basis erbrachte Leistungen auch dann von der
Anrechnungspflicht ausgenommen werden, wenn sie für denselben
Freiheitsentzug gewährt worden waren, da anderenfalls privatem
Hilfswillen die Basis entzogen würde (BTDrucks, a.a.O.,
S. 31). Die Linie der Abgrenzung zwischen anrechnungsfreien
und anzurechnenden früheren Leistungen verläuft demnach zwi-
schen solchen Leistungen, die der Betreffende erhielt, ohne
einen Rechtsanspruch darauf zu haben, und den Leistungen, auf
die ein Rechtsanspruch bestand.
2.3 Sinn und Zweck der Regelung des § 17 Abs. 2 StrRehaG spre-
chen ebenfalls für die Einbeziehung der Beihilfeleistung. Die
Bestimmung zielt darauf ab, Doppelleistungen aufgrund dessel-
ben politischen Gewahrsams zu vermeiden. Bei der in Rede ste-
henden Beihilfe handelt es sich um eine Leistung, die den spä-
ter nach § 9 a HHG gewährten Leistungen der Sache nach völlig
gleich steht. Das ergibt sich bereits aus dem Häftlingshilfe-
gesetz selbst. Mit der 1957 erfolgten Aufnahme der Entschädi-
gungsleistung in das Hälftlingshilfegesetz als dessen § 9 a
(BGBl I S. 165) wurde zugleich in § 9 a Abs. 2 HHG ausdrück-
lich die Anrechnung der nach den Beihilferichtlinien bewillig-
ten Leistungen auf die nach § 9 a Abs. 1 HHG zu gewährenden
Leistungen bestimmt. Zwar wurde 1960 § 9 a Abs. 2 HHG als
§ 9 a Abs. 4 HHG geringfügig geändert, doch verblieb es bei
der Anrechnungsanordnung bis zur grundlegenden Neufassung des
§ 9 a Abs. 4 HHG durch Art. 2 Nr. 3 b des Gesetzes zur Aufhe-
bung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vor-
schriften vom 20. Dezember 1991 (BGBl I S. 2317), worin die
Beihilferichtlinien keine Erwähnung mehr finden. Als Grund für
die Neufassung des § 9 a Abs. 4 HHG verweist die Begründung
des Gesetzentwurfs darauf, dass die bisherige Fassung durch
Zeitablauf überholt sei (BTDrucks 12/1254, S. 9). Angesichts
dessen kann dem Argument des Klägers nicht gefolgt werden, der
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Gesetzgeber habe mit der Herausnahme der Beihilferichtlinien
seine Absicht zu erkennen gegeben, künftig die hiernach ge-
währten Leistungen nicht mehr anzurechnen.
3. Schließlich kann der Kläger nicht damit gehört werden, die
ihm gewährte Beihilfe sei jedenfalls nicht - wie in § 17
Abs. 2 StrRehaG verlangt - "unmittelbar" nach gesetzlichen
Vorschriften erbracht worden. Der Senat sieht keinerlei An-
haltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber durch Aufstellen die-
ses Erfordernisses von der Anrechenbarkeit von Leistungen nach
den Beihilferichtlinien entgegen seiner früheren Konzeption
absehen wollte. Wie die Entstehungsgeschichte dieses auf eine
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bun-
destages zurückgehenden Tatbestandsmerkmals ausweist, dient
das Unmittelbarkeitserfordernis zur Verdeutlichung und Bekräf-
tigung der normativen Absicht freiwillig gewährte Leistungen
von einer Anrechnung freizustellen. Solche Leistungen sollten
dem Bedachten selbst dann ungeschmälert zugute kommen, wenn
die hierfür benötigten Mittel den Leistungserbringern - in der
Regel Stiftungen - aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung ge-
stellt worden waren. Das Unmittelbarkeitserfordernis soll aus-
schließen, dass solche Leistungen mit der Begründung, sie sei-
en aufgrund der Bereitstellung im Haushaltsgesetz "nach ande-
ren gesetzlichen Vorschriften" erbracht worden, der Anrechnung
unterworfen werden (vgl. BTDrucks 12, 2820 S. 31).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Borgs-Maciejewski
Kimmel Dr. Brunn
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfah-
ren auf 2 249 € festgesetzt.
Prof. Dr. Driehaus Dr. Borgs-Maciejewski Kimmel
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Bereinigung von SED-Unrecht
Fachpresse:
ja
Strafrechtliches
Rehabilitierungsgesetz
Rechtsquellen:
StrRehaG § 17 Abs. 1, § 17 Abs. 2
HHG § 9 a Abs. 1, § 9 a Abs. 4 (§ 9 a Abs. 2 a.F.)
Stichworte:
politischer Gewahrsam; Entschädigungsleistung; Beihilfericht-
linien; Außenwirkung von Verwaltungsrichtlinien; Gleichheits-
satz; Vertrauensgrundsatz.
Leitsatz:
Beihilfen, die aufgrund der Richtlinien für die Gewährung von
Beihilfen an ehemalige politische Häftlinge aus der sowjeti-
schen Besatzungszone und ihr gleichgestellten Gebieten (sog.
"Beihilferichtlinien") vom 9. November 1955 gezahlt worden
sind, unterliegen der Anrechnungspflicht nach § 17 Abs. 2
StrRehaG.
Urteil des 3. Senats vom 21. Januar 2003 - BVerwG 3 C 12.02
I. VG Berlin vom 08.09.1997 - Az.: VG 26 A 2.95 -
II. OVG Berlin vom 18.03.2002 - Az.: OVG 6 B 2.99 -