Urteil des BVerwG vom 09.10.2003

Psychiatrische Behandlung, Kausalität, Eingriff, DDR

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 3 C 1.03
VG 26 A 66.99
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Oktober 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
van S c h e w i c k , Dr. B o r g s - M a c i e j e w s k i , L i e b l e r
und Prof. Dr. R e n n e r t
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungs-
gerichts Berlin vom 10. Dezember 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentschei-
dung vorbehalten.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger begehrt seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung.
Er wurde 1957 in G. geboren und ist bei seinen Eltern aufgewachsen. 1976 schloss
er die Oberschule mit dem Abitur ab. Von 1983 bis 1988 studierte er nebenberuflich
an der Ingenieurschule für Schwermaschinenbau R. in der Fachrichtung Förder- und
Baumaschinen. Von 1986 bis 1990 war er verheiratet und hat zwei 1985 und 1986
geborene Kinder.
1994 und erneut 1995 beantragte der Kläger seine verwaltungsrechtliche und seine
berufliche Rehabilitierung. Mit den Anträgen machte er geltend, er habe sich in der
letzten Klasse der Oberschule einem Anwerbeversuch des MfS widersetzt, sich in
der Folgezeit kritisch gegenüber Regime und System der DDR geäußert und opposi-
tionellen Gruppen angeschlossen. Deshalb sei er vom MfS im Zusammenwirken mit
anderen staatlichen Stellen "operativ bearbeitet" worden, um ihn zu "zersetzen". Die
Maßnahmen hätten im Abhören von Wohnung und Telefon, in Wohnungs- und Ar-
beitsplatzdurchsuchungen, in Reisesperren, in Festnahmen und Verhören, in einem
- letztlich erfolglosen - Versuch, den Abschluss des Fernstudiums zu verhindern, so-
wie in Benachteiligungen im beruflichen Fortkommen bestanden. Hierdurch sei er in
seiner beruflichen Karriere erheblich beeinträchtigt worden. Zugleich habe er psychi-
sche Verletzungen erlitten. Noch heute leide er unter Depressionen und somatischen
Beschwerden.
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Dem Antrag auf berufliche Rehabilitierung wurde auf der Grundlage von § 1 Abs. 1
Nr. 4 BerRehaG entsprochen. Demgegenüber lehnte das Landesamt für Gesundheit
und Soziales des Beklagten den Antrag auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung ab.
Eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung komme nur in Betracht, wenn die Folgen
der rechtsstaatswidrigen Maßnahme noch gegenwärtig unmittelbar schwer und un-
zumutbar fortwirkten. Die behaupteten psychischen Folgen erreichten dieses Aus-
maß nicht. Berufliche Beeinträchtigungen müssten auf einen hoheitlichen Eingriff wie
etwa eine Relegation von der Hochschule zurückgehen. Einen solchen Eingriff habe
der Kläger aber nicht erlitten; vielmehr habe er sein Fernstudium abschließen kön-
nen. Der klägerische Widerspruch blieb ohne Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat die auf Verpflichtung der Beklagten zur verwaltungs-
rechtlichen Rehabilitierung gerichtete Klage abgewiesen. Es sei bereits zweifelhaft,
ob eine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung allein aufgrund eines "Gesamtkomple-
xes" staatlicher Repressionsmaßnahmen unterschiedlicher Art - ohne substantiierte
Darlegung einzelner Maßnahmen und deren konkreter Auswirkungen - in Betracht
komme. Jedenfalls fehle es an hinreichend schweren nachwirkenden Folgen. In Be-
tracht kämen insofern nur gesundheitliche Beeinträchtigungen. Die vom Kläger be-
haupteten und während des Rechtsstreits ärztlich attestierten Leiden hätten ver-
schiedene Ursachen, so auch solche aus dem familiären und sozialen Umfeld. Dass
konkrete rechtsstaatswidrige Verfolgungsmaßnahmen des DDR-Regimes Hauptur-
sache bestimmter, noch heute vorhandener Leiden seien, lasse sich daher nicht
feststellen.
Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger im We-
sentlichen geltend: Dass er rechtsstaatswidrige Verfolgungsmaßnahmen erlitten ha-
be, stehe nach seiner beruflichen Rehabilitierung fest; schon deshalb habe die Klage
Erfolg haben müssen. Im Übrigen habe die Rehabilitierungsbehörde nicht zu prüfen,
ob die geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen bestünden und ob
sie auf der Verfolgung beruhten. Das obliege vielmehr erst der Versorgungsbehörde.
Zudem habe das Verwaltungsgericht einen falschen Kausalitätsmaßstab gewählt. Es
könne nicht verlangt werden, dass die Verfolgung die alleinige oder doch die Haupt-
ursache der gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei. Auch könne kein Vollbeweis
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der Kausalität verlangt werden, wie sich aus § 3 Abs. 5 VwRehaG ergebe, der bloße
Wahrscheinlichkeit genügen lasse.
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
II.
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur
Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht.
1. Das angefochtene Urteil verletzt Bundesrecht. Es beruht auf der Feststellung,
dass die vom Kläger behauptete und belegte gesundheitliche Schädigung ihre
"Hauptursache" nicht in der von ihm geschilderten "operativen Bearbeitung" durch
das MfS in den Jahren seit 1976, sondern zugleich familiäre und soziale Ursachen
aus den Jahren nach 1990 habe. Das verkennt den Prüfungsumfang der Rehabilitie-
rungsbehörde.
Der Anspruch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung beurteilt sich im vorliegen-
den Falle nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsrechtlichen Rehabili-
tierungsgesetzes - VwRehaG - vom 23. Juni 1994 (BGBl I S. 1311) in der Fassung
der Bekanntmachung vom 1. Juli 1997 (BGBl I S. 1620), zuletzt geändert durch Ge-
setz vom 20. Dezember 2001 (BGBl I S. 3986). Er hat nach dem Wortlaut des Ge-
setzes vier (positive) Voraussetzungen (zusätzlich ist die negative Voraussetzung
des § 2 Abs. 2 VwRehaG zu prüfen): Es muss - erstens - eine Verwaltungsmaßnah-
me einer deutschen behördlichen Stelle im Beitrittsgebiet aus der Zeit vom 8. Mai
1945 bis zum 2. Oktober 1990 vorliegen, die - zweitens - mit Grundsätzen eines
Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und - drittens - zu einem Eingriff in eines
der drei geschützten Rechtsgüter Gesundheit, Vermögen oder Beruf geführt hat;
schließlich müssen - viertens - die Folgen des Eingriffs noch unmittelbar schwer und
unzumutbar fortwirken. Das dritte und das vierte Tatbestandsmerkmal enthalten je-
weils ein Element der Kausalität: einerseits die Kausalität zwischen der hoheitlichen
Maßnahme und der Rechtsgutsverletzung (sog. Primärschaden), andererseits dieje-
nige zwischen diesem Eingriff und den fortwirkenden Folgen (sog. Sekundärschä-
den). Die Rehabilitierungsbehörde muss prüfen, ob die vom Antragsteller bezeichne-
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te Maßnahme erfolgt ist und ob sie rechtsstaatswidrig ist. Jedenfalls bei Eingriffen in
das Rechtsgut Gesundheit hat sie sich jedoch im Übrigen auf eine bloße Schlüssig-
keitsprüfung zu beschränken. Dies ergibt sich aus Folgendem:
a) Das Gesetz überantwortet die Entscheidung über die Rehabilitierung als solche
und die Entscheidung über einen etwaigen Ausgleich der fortwirkenden Folgen zwei
unterschiedlichen Behörden in unterschiedlichen Verwaltungsverfahren. Die Ent-
scheidung über die Rehabilitierung obliegt der Rehabilitierungsbehörde (§ 12
VwRehaG), diejenige über den Ausgleich fortwirkender Folgen (vgl. § 2 Abs. 1
VwRehaG) je nach der Art des Primärschadens dem Versorgungsamt bei Gesund-
heitsschädigung (§ 12 Abs. 4 VwRehaG), der nach dem Vermögensgesetz zuständi-
gen Behörde bei Eingriffen in Vermögenswerte (§ 7 VwRehaG i.V.m. dem Vermö-
gensgesetz) und verschiedenen Sozialleistungsträgern bei beruflicher Benachteili-
gung (§ 8 VwRehaG i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerRehaG). Die beiderseitigen Zustän-
digkeiten sind so zu bestimmen, dass Doppelprüfungen mit der Gefahr einander wi-
dersprechender Entscheidungen möglichst vermieden werden.
Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG sind die Feststellungen der Rehabilitierungs-
behörde für die nachgeschalteten Fachbehörden bindend. Dies betrifft zum einen die
genaue Bezeichnung der hoheitlichen Maßnahme, die den Anknüpfungspunkt für
mögliche Folgeansprüche bildet. Es betrifft zum anderen die Qualifizierung dieser
Maßnahme als rechtsstaatswidrig. Gerade auf diese wertende Beurteilung bezieht
sich ihre fachliche Kompetenz. Hinzu kommt die Aufhebung der Verwaltungsent-
scheidung, sofern von ihr Rechtsfolgen ausgegangen sind, und damit ihre Beseiti-
gung als Rechtsgrund für diese Rechtsfolgen.
Inwieweit die Rehabilitierungsbehörde auch zu dem mit der rechtsstaatswidrigen
Maßnahme verbundenen Eingriff und zu dessen nachwirkenden Folgen die nachge-
schaltete Fachbehörde bindende Feststellungen zu treffen hat, ist je nach der Art des
verletzten Rechtsguts unterschiedlich zu beurteilen. Beim Rechtsgut Beruf etwa
muss die Rehabilitierungsbehörde auch die Verfolgungszeit ermitteln; hierzu muss
sie die berufliche Benachteiligung im Wege eines Vergleichs zwischen der vor der
Maßnahme ausgeübten oder angestrebten und der infolge der Maßnahme tatsäch-
lich ausgeübten Berufstätigkeit genau bezeichnen (§ 1 Abs. 2, § 2 Abs. 1 Satz 1
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Nr. 2 BerRehaG) und auch Kausalitätsfragen namentlich unter dem Gesichtspunkt
des mitwirkenden Verschuldens prüfen (§ 2 Abs. 2 BerRehG). Das erfordert Feststel-
lungen jedenfalls zum Primärschaden, zu dessen Fortwirken bis zum 2. Oktober
1990 (vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BerRehaG) und zur diesbezüglichen Kausalität.
Anders liegt es beim Rechtsgut Gesundheit. Das Folgeverfahren zur Milderung der
Folgen einer gesundheitlichen Schädigung richtet sich nach dem Bundesversor-
gungsgesetz; zuständig sind die Versorgungsämter (§§ 3 bis 6 VwRehaG). Deren
Entscheidungen beziehen sich regelmäßig sowohl auf die Verursachung der ge-
sundheitlichen Schädigung wie auf deren weitere gesundheitliche und wirtschaftliche
Folgen (vgl. § 1 Abs. 1 BVG, § 81 Abs. 1 SVG, § 1 Abs. 1 OEG, § 52 Abs. 1
BseuchG u.a.). Für beide Kausalitätsschritte hat das soziale Entschädigungsrecht
Rechtsregeln entwickelt (vgl. etwa § 1 Abs. 3 BVG, dem § 3 Abs. 5 VwRehaG nach-
gebildet ist). Außerdem besitzen die Versorgungsämter insoweit eine besondere
Fachkunde. Es kann nicht angenommen werden, dass diese rechtliche und fachliche
Entscheidungskompetenz im Rehabilitierungs(folgen)recht eingeschränkt ist. Dem-
entsprechend beschränkt § 12 Abs. 4 VwRehaG die Rehabilitierungsbehörde auf
Feststellungen zur Rechtsstaatswidrigkeit der Maßnahme im Sinne des § 1 und be-
hält "die nach dem Bundesversorgungsgesetz erforderlichen Feststellungen" der
Versorgungsbehörde vor. Freilich mag die rechtsstaatswidrige Maßnahme gerade in
der gesundheitlichen Schädigung liegen; dann muss sich die bindende Feststellung
der Rehabilitierungsbehörde hierauf erstrecken. Doch wird das eher selten sein. Viel-
fach wird die rechtsstaatswidrige Maßnahme die gesundheitliche Schädigung erst zur
weiteren Folge haben. Gerade Fälle einer erst nach einiger Zeit auftretenden ge-
sundheitlichen Schädigung aber werfen typischerweise Kausalitätsfragen auf, deren
Beantwortung der Versorgungsbehörde vorbehalten ist.
b) Das bedeutet indes nicht, dass die Rehabilitierungsbehörde die Fragen, auf wel-
che sich ihre bindenden Feststellungen nicht erstrecken, völlig ungeprüft zu lassen
hat. § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG macht schon nach seinem Wortlaut die Rehabilitie-
rung davon abhängig, dass die rechtsstaatswidrige Maßnahme zu einem Eingriff in
eines der drei geschützten Rechtsgüter geführt hat und dass die Folgen dieses Ein-
griffs noch gegenwärtig unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken. Das sind kei-
ne bloßen Verweisungen auf die nachgeschalteten Verfahren wegen möglicher Fol-
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geansprüche. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Beschränkung auf Eingriffe in diese
drei Rechtsgüter sowie das zusätzliche Erfordernis noch gegenwärtig fortwirkender
schwerer und unzumutbarer Folgen mit der erklärten Absicht eingefügt, die Rehabili-
tierung nur für die gravierendsten Fälle zu eröffnen, um die nur begrenzt verfügbaren
Verwaltungsressourcen der Neuen Länder nicht zu überlasten (BTDrucks 12/4994,
S. 22). Dies führt dazu, dass die Rehabilitierungsbehörde die hier in Rede stehenden
Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG - soweit sie nicht selbst ab-
schließende Feststellungen zu treffen hat - jedenfalls im Sinne einer speziellen
Sachentscheidungsvoraussetzung, nämlich als besonders normierte Anforderungen
an das (subjektive) Rehabilitierungsinteresse des Antragstellers und an das (objekti-
ve) Rehabilitierungsbedürfnis - vergleichbar dem Rechtsschutzbedürfnis im Pro-
zess - zu prüfen hat. Auch die Gesetzesbegründung macht diese Tatbestandsmerk-
male zum Prüfstein für das schützenswerte Interesse des Betroffenen an einer Be-
seitigung der rechtsstaatswidrigen Maßnahme (BTDrucks 12/4994, S. 22 ).
Der Antragsteller muss daher schon der Rehabilitierungsbehörde sowohl seine Ver-
letzung in einem der drei geschützten Rechtsgüter als auch diejenigen gegenwärti-
gen Nachteile darlegen, deren Ausgleich er im weiteren Verfahren erstrebt; und er
muss dartun, inwiefern die Verletzung als auch die gegenwärtigen Nachteile als Fol-
ge der rechtsstaatswidrigen hoheitlichen Maßnahme erscheinen, also von dieser
verursacht - zumindest mitverursacht - sind. Diese Darlegung schließt ein, dass er
seine diesbezüglichen tatsächlichen Behauptungen im Rahmen des ihm Möglichen
und Zumutbaren glaubhaft macht (vgl. § 13 Abs. 2 VwRehaG sowie § 12 Abs. 4
Satz 3 VwRehaG i.V.m. § 15 Vfg-KOV). Die Rehabilitierungsbehörde darf den Antrag
ohne weiteres ablehnen, wenn dies unterbleibt. Sie hat ferner zu prüfen, ob die dar-
gelegten gegenwärtigen Beeinträchtigungen - ihre Erweislichkeit unterstellt - schwer
und unzumutbar sind; denn dies ist eine wertende Beurteilung mit typisch rehabilitie-
rungsrechtlichem Gepräge (vgl. hierzu die Erläuterungen in der Begründung des Ge-
setzentwurfs, BTDrucks 12/4994, S. 22 sowie für die Folgen einer beruflichen Be-
nachteiligung § 8 Satz 2 VwRehaG). Schließlich hat sie auch zu prüfen, ob diese
Beeinträchtigungen als "unmittelbare" Folge der rechtsstaatswidrigen Maßnahme in
Betracht kommen, ob sie also nach der allgemeinen Lebenserfahrung als typische
Folge der rechtsstaatswidrigen Maßnahme erscheinen (vgl. BTDrucks 12/4994
ebenda). Sie hat hingegen nicht zu prüfen, ob die behaupteten und belegten Beein-
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trächtigungen tatsächlich vorliegen. Ebenso wenig hat sie zu prüfen, ob sie tatsäch-
lich durch die rechtsstaatswidrige Verwaltungsmaßnahme verursacht oder jedenfalls
mitverursacht sind. Hierzu würde es ihr - anders als den Versorgungsämtern - an
der erforderlichen Fachkompetenz ermangeln. Insofern hat sie sich mit einer Schlüs-
sigkeitsprüfung des Vortrags des Antragstellers zu begnügen; die nähere Prüfung
- ggf. einschließlich einer Beweisaufnahme - obliegt insofern allein der Behörde, wel-
che über die Folgeansprüche entscheidet.
Soweit die Rehabilitierungsbehörde hiernach prüfen muss, ob eine gesundheitliche
Schädigung durch die rechtsstaatswidrige Maßnahme sowie fortwirkende Folgen die-
ses Eingriffs vom Antragsteller schlüssig dargelegt sind, hat sie die rechtlichen
Maßstäbe des nachgeschalteten Verfahrens vor der Versorgungsbehörde zugrunde
zu legen. Das gilt namentlich für Fragen der Kausalität. Nach der Rechtsprechung
des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 19. März 1986 - 9a RVi 2/84 - BSGE 60,
58 m.w.N.; stRspr), der sich das Bundesverwaltungsgericht für das Dienstunfallrecht
der Beamten angeschlossen hat (BVerwG, Urteil vom 23. Februar 1989 - BVerwG
2 C 38.86 - BVerwGE 81, 265 <268> m.w.N.), sind als ursächlich für den eingetrete-
nen Schaden nur diejenigen Bedingungen im natürlich-logischen Sinne anzusehen,
die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mit-
gewirkt haben. Unter mehreren zusammenwirkenden Bedingungen ist eine als allei-
nige Ursache im Rechtssinne anzusehen, wenn sie bei natürlicher Betrachtungswei-
se überragend zum Erfolg beigetragen hat, während jede von ihnen als wesentliche
(Mit-)Ursache im Rechtssinne anzusehen ist, wenn sie annähernd die gleiche Be-
deutung für den Eintritt des Erfolgs haben.
c) Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht das Bestehen eines Anspruchs
auf verwaltungsrechtliche Rehabilitation davon abhängig gemacht, dass die Kausali-
tät zwischen den vom Kläger angegebenen hoheitlichen Maßnahmen und den gel-
tend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht nur schlüssig dargelegt
und glaubhaft gemacht sein, sondern objektiv vorliegen müsse. Es hat die Klage al-
lein deshalb abgewiesen, weil diese Kausalität nicht gegeben sei. Das verkennt den
Prüfungsumfang der Rehabilitierungsbehörde nach § 1 Abs. 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 1
VwRehaG.
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Das Verwaltungsgericht hat ferner verlangt, dass die rechtsstaatswidrige Maßnahme
die "Hauptursache" der dargelegten gesundheitlichen Beeinträchtigung sein müsse.
Das wird dem Kausalitätsbegriff des sozialen Entschädigungsrechts nicht gerecht,
der der Schlüssigkeitsprüfung zugrunde zulegen ist.
Das Verwaltungsgericht hat auch nicht näher geprüft, ob die vom Kläger behaupteten
und durch zwei ärztliche Atteste belegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen - ihr
Vorliegen unterstellt - schwer und unzumutbar sind und ob sie obendrein als
unmittelbare, d.h. nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise erwartbare
Folge der vom Kläger geschilderten "operativen Bearbeitung" angesehen werden
können.
2. Das angefochtene Urteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig
(§ 144 Abs. 4 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat Zweifel angedeutet, ob eine ver-
waltungsrechtliche Rehabilitierung sich überhaupt auf einen "Gesamtkomplex" von
Maßnahmen beziehen könne, die nicht einzeln konkretisiert sind. Diese Zweifel sind
jedenfalls für gesundheitliche Schädigungen infolge einer "operativen Bearbeitung"
durch das oder auf Veranlassung des MfS unbegründet.
Allerdings setzt das Gesetz für den direkten Anwendungsbereich von § 1 Abs. 1
Satz 1 VwRehaG das Vorhandensein einer konkreten, genau angebbaren Verwal-
tungsentscheidung voraus. Nur von einer konkreten Verwaltungsentscheidung kön-
nen weiterhin Rechtsfolgen ausgehen (vgl. Art. 19 EV, § 15 VwRehaG); nur eine
konkrete Verwaltungsentscheidung kann daher im Rehabilitierungsverfahren aufge-
hoben werden.
Bei Realakten und anderen Maßnahmen, die nicht auf die Herbeiführung einer
Rechtsfolge gerichtet waren, liegt es jedoch anders. Eine Aufhebung derartiger
Maßnahmen kommt nicht in Betracht; an deren Stelle tritt die Feststellung ihrer
Rechtsstaatswidrigkeit (§ 1 Abs. 5 VwRehaG). Damit bleibt denkbar, dass sich eine
solche Feststellung nicht nur auf eine einzelne Maßnahme, sondern auch auf einen
Gesamtkomplex mehrerer Maßnahmen beziehen kann. Ob dies auch für Eingriffe in
die Rechtsgüter Vermögen, Beruf oder Ehre anzunehmen ist, mag dahinstehen. Bei
Eingriffen in das Rechtsgut Gesundheit jedenfalls kommt eine Rehabilitierung auch
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wegen eines Gesamtkomplexes von Maßnahmen des schlichten Verwaltungshan-
delns in Betracht. Der Gesetzgeber wollte gerade auch "psychischen Terror durch
Überwachungsmaßnahmen, gezielt sachwidrige Medikation oder psychiatrische Be-
handlung etc." erfassen, die zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt haben
(BTDrucks 12/4994, S. 32). Das schließt Maßnahmen ein, die nicht als einzelne,
sondern nur in ihrer Abfolge und in ihrem Zusammenwirken dem Betroffenen auf
längere Sicht gesundheitliche Schäden - namentlich psychischer Art - zufügten. In
erster Linie ist hierfür an die Maßnahmen der "Zersetzung" zu denken, wie sie in
Nr. 2.6 der Richtlinie des MfS Nr. 1/76 (GVS MfS 008-100/76) erläutert werden.
Dementsprechend stellt auch das Bundesministerium der Justiz in seinem "Merkblatt
zur verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung" (Stand Juli 1997) gerade die jahrelange
Bespitzelung und Drangsalierung durch die Stasi, die zu Gesundheitsstörungen ge-
führt hat, als Anwendungsfall von § 1 Abs. 5 VwRehaG heraus (VIZ 1998, S. 313
<315>).
Auch in derartigen Fällen muss die Rehabilitierungsentscheidung freilich einen taug-
lichen Anknüpfungspunkt für denkbare Folgeansprüche nach den §§ 3 ff. VwRehaG
bieten (vgl. § 12 Abs. 4 VwRehaG). Das setzt voraus, dass die mehreren Einzel-
maßnahmen möglichst genau - zumindest nach ihrer Art und ihrem Zeitpunkt oder
Zeitraum - bezeichnet werden. Ferner müssen sie durch einen angebbaren Umstand
zu einem "Gesamtkomplex" verbunden werden. Dieser Umstand ist regelmäßig in
einem einheitlichen Plan oder Willensentschluss zu suchen. Derartige Einzelmaß-
nahmen sind nämlich typischerweise Ausfluss einer einheitlichen Entscheidung der
staatlichen Stellen - insbesondere des MfS -, den Betroffenen in dieser Weise "ope-
rativ zu bearbeiten". Das Rechtsstaatswidrigkeitsurteil bezieht diesen leitenden Wil-
lensentschluss (der freilich seinerseits mehrfach erneuert worden sein kann) not-
wendig ein. Durch ihn werden die einzelnen Maßnahmen erst ihren gemeinsamen
- rechtsstaatswidrigen - Sinn erhalten und zu einer Kette von einheitlich motivierten
Maßnahmen verbunden. Der Antragsteller muss auch diesen leitenden Plan oder
Willensentschluss belegen. Hierzu kann er sich der Akten der sog. Gauck-Behörde
und anderer Quellen bedienen.
3. Der Kläger hat behauptet und belegt, dass er Opfer einer derartigen "operativen
Bearbeitung" des MfS gewesen sei, welche bei ihm zu einer gesundheitlichen Schä-
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digung geführt habe. Sofern die gesundheitliche Schädigung als schwer und unzu-
mutbar anzusehen ist und nach der allgemeinen Lebenserfahrung als typischerweise
erwartbare Folge der geltend gemachten "operativen Bearbeitung" erscheint, kommt
eine Rehabilitierung nach § 1 Abs. 5 VwRehaG in Betracht. Die Entscheidung über
den geltend gemachten Rehabilitierungsanspruch erfordert dann die Prüfung, ob die
"operative Bearbeitung" des Klägers in der von diesem behaupteten Weise stattge-
funden hat, und die Würdigung, ob sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaa-
tes schlechthin unvereinbar ist.
Diese Prüfung erübrigt sich entgegen der Auffassung des Klägers nicht deshalb, weil
der Beklagte festgestellt hat, dass der Kläger politisch Verfolgter im Sinne des Beruf-
lichen Rehabilitierungsgesetzes - BerRehaG - vom 23. Juni 1994 (BGBl I S. 1311)
i.d.F. der Bekanntmachung vom 1. Juli 1997 (BGBl I S. 1625) sei. Diese Feststellung
bezieht sich nicht auf die vorliegend angesprochenen hoheitlichen Maßnahmen der
behördlichen Stellen der DDR, sondern auf Benachteiligungen am Arbeitsplatz. Sie
beruht dementsprechend nicht auf § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerRehaG, mit dem das Berufli-
che Rehabilitierungsgesetz an eine Rehabilitierung nach dem Verwaltungsrechtlichen
Rehabilitierungsgesetz anknüpft, sondern auf § 1 Abs. 1 Nr. 4 BerRehaG, die
"andere" - also gerade nicht hoheitliche - Maßnahmen erfasst.
Da dem Revisionsgericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen verwehrt
sind, ist die Sache an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Borgs-Maciejewski
Liebler Prof. Dr. Rennert
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 4 000 € fest-
gesetzt.
Prof. Dr. Driehaus Liebler Prof. Dr. Rennert
Sachgebiet:
BVerwGE:
ja
SED-Unrecht
Fachpresse:
ja
Verwaltungsrechtliche Rehabilitierung
Rechtsquellen:
VwRehaG § 1 Abs. 1 und 5, § 12
Stichworte:
Verwaltungsrechtliche Rehabilitierung; Maßnahmen der "Zersetzung" als hoheitliche
Maßnahme; Prüfungsumfang der Rehabilitierungsbehörde bei geltend gemachter
gesundheitlicher Schädigung; Verursachung einer gesundheitlichen Schädigung und
deren fortwirkende Folgen; Kausalitätsprüfung des Versorgungsamtes.
Leitsatz:
Bei Anträgen auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung muss die Rehabilitierungsbe-
hörde prüfen, ob die vom Antragsteller bezeichnete Maßnahme erfolgt ist und ob sie
rechtsstaatswidrig ist. Jedenfalls bei Eingriffen in das Rechtsgut Gesundheit hat sie
sich jedoch hinsichtlich der gesundheitlichen Schädigung und ihrer fortwirkenden
Folgen auf eine bloße Schlüssigkeitsprüfung zu beschränken, während die endgülti-
ge Feststellung den Versorgungsämtern vorbehalten ist.
Bei Eingriffen in das Rechtsgut Gesundheit kommt eine verwaltungsrechtliche Reha-
bilitierung auch wegen eines Gesamtkomplexes von Maßnahmen des schlichten
Verwaltungshandelns in Betracht.
Urteil des 3. Senats vom 9. Oktober 2003 - BVerwG 3 C 1.03
I. VG Berlin vom 10.12.2001 - Az.: VG 26 A 66.99 -