Urteil des BVerwG vom 02.10.2002

Rechtliches Gehör, Fehlerhaftigkeit, Analyse, Widerruf

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BESCHLUSS
BVerwG 3 B 89.02
OVG 13 A 964/00
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Oktober 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. D r i e h a u s sowie die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht van S c h e w i c k und
Dr. B r u n n
beschlossen:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 19. März 2002
wird aufgehoben.
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Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Ver-
handlung und Entscheidung an das Oberverwal-
tungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwer-
deverfahrens, für das Gerichtskosten nicht er-
hoben werden, bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 238 761,24 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde ist begründet. Die Klägerin rügt zu Recht, dass
der angefochtene Beschluss auf einem Verfahrensmangel beruht
(§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf recht-
liches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, indem es ein
unzulässiges "Überraschungsurteil" gefällt hat. Ein solches
Überraschungsurteil liegt nach der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn das Gericht einen bis
dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Ge-
sichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit
dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten
nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen
brauchten (vgl. u.a. Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C
106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235; Beschluss vom
23. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO
Nr. 241). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
Das Oberverwaltungsgericht hat der Berufung des Beklagten
stattgegeben und die Klage gegen den "Schlussbescheid" vom
16. April 1993 insgesamt abgewiesen mit der Begründung, dieser
Bescheid sei in seinem ersten Regelungsteil, durch den der
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Förderrahmen der hier streitigen Baumaßnahme endgültig festge-
setzt worden sei, bestandskräftig. Aus diesem Grund erübrige
sich jede Erörterung, ob die von der Klägerin geltend gemach-
ten Personalkosten für die Betreuung des Bauvorhabens durch
eigene Angestellte förderungsfähig seien, und daraus folge
zwingend die Berechtigung des Rückforderungsverlangens des Be-
klagten. Mit dieser Begründung hat das Berufungsgericht seine
Entscheidung auf eine Grundlage gestellt, die während des ge-
samten Verwaltungs- und des Gerichtsverfahrens von niemandem
in den Blick genommen worden war. Auf die Idee, der angefoch-
tene Bescheid sei in seinem grundlegenden ersten Regelungsteil
bestandskräftig und daher gehe der ganze sich über neun Jahre
hinziehende Streit der Beteiligten ins Leere, war bis zu der
Entscheidung des Berufungsgerichts niemand gekommen.
Der Hinweis des Berichterstatters auf das Urteil des Beru-
fungsgerichts vom 24. November 1989 - OVG 4 A 459.88 - und den
dazu ergangenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom
31. Mai 1990 - BVerwG 3 B 19.90 - war nicht geeignet, die Fra-
ge der Bestandskraft des angefochtenen Bescheides in das Ver-
fahren einzuführen. Die damaligen Entscheidungen befassten
sich mit dem Verhältnis von Bewilligungs- und Abrechnungsbe-
scheid, nicht aber mit der Frage der Bestandskraft des letzte-
ren.
Die Annahme, der angefochtene Bescheid könne in seinem ent-
scheidenden ersten Teil bestandskräftig sein, drängte sich
auch nicht auf, so dass sich ein Hinweis des Gerichts auf die-
sen rechtlichen Gesichtspunkt hätte erübrigen können. Vielmehr
ist der Gedankengang, der das Berufungsgericht zur Bejahung
der Bestandskraft geführt hat, kaum nachzuvollziehen.
Das Berufungsgericht geht davon aus, das Verwaltungsgericht
habe es - in Verkennung des Regelungsgehalts des Bescheides
vom 16. April 1993 - versäumt, die gegen den Regelungsteil 1
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dieses Bescheides gerichtete Klage der Klägerin abzuweisen. Da
die Klägerin gegen das verwaltungsgerichtliche Urteil keine
Berufung eingelegt habe, sei dieser Regelungsteil bestands-
kräftig geworden. Diese Argumentation ist nicht haltbar. Zum
einen widerspricht es den Gesetzen der Logik, dass ein Be-
scheid, der von dem Adressaten angefochten worden ist, dadurch
bestandskräftig geworden sein soll, dass das Verwaltungsge-
richt nicht darüber entschieden hat. Zum anderen stellt die
Argumentation des Berufungsgerichts die Prozesssituation auf
den Kopf. Das Verwaltungsgericht hatte dem Begehren der Kläge-
rin - mit Ausnahme eines von ihr selbst unstreitig gestellten
Betrages von 37 116,38 DM - umfassend stattgeben und den Be-
scheid der Beklagten vom 16. April 1993 in der Fassung der
verschiedenen Widerspruchsbescheide insgesamt aufheben wollen.
Das zeigt neben der voll zu Lasten der Beklagten gehenden Kos-
tenentscheidung auch die Argumentation, der durch diesen Be-
scheid vorgenommene teilweise Widerruf der ursprünglichen Be-
willigung sei ebenso wie das darauf gestützte Rückforderungs-
begehren rechtswidrig. Gegen ein solches der Klage in vollem
Umfang stattgebendes Urteil konnte die Klägerin mangels Be-
schwer keine Berufung einlegen.
Der angefochtene Beschluss beruht darauf, dass das Berufungs-
gericht den Beteiligten keine Gelegenheit gegeben hat, zu dem
von ihm für entscheidend gehaltenen Gesichtspunkt der Be-
standskraft des Bescheides Stellung zu nehmen. Es ist kaum an-
zunehmen, dass das Gericht sich einem Hinweis der Klägerin auf
die Fehlerhaftigkeit seiner Argumentation hätte verschließen
können.
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der beschlie-
ßende Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO
Gebrauch, den verfahrensfehlerhaft zustande gekommenen Be-
schluss des Berufungsgerichts aufzuheben und die Sache zur an-
derweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
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Dabei wird sich das Berufungsgericht mit den materiellen Argu-
menten der Beteiligten auseinander zu setzen haben. Dies ver-
bietet eine Befassung allein mit dem angefochtenen Bescheid
vom 16. April 1993, da sich sein Charakter und seine Recht-
mäßigkeit nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Analyse des
ursprünglichen Bewilligungsbescheides klären lassen.
Von der Erhebung von Gerichtskosten für das Beschwerdeverfah-
ren ist gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 GKG abzusehen, da die Inan-
spruchnahme des Bundesverwaltungsgerichts durch den Verfah-
rensfehler des Berufungsgerichts notwendig geworden ist.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 13 Abs. 2, § 14 GKG.
Prof. Dr. Driehaus van Schewick Dr. Brunn