Urteil des BVerwG vom 18.01.2007

Rechtliches Gehör, Zustellung, Gegenbeweis, Einzelrichter

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 3 B 86.06
VG 6 A 440/05
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Januar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Liebler und Prof. Dr. Rennert
beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Greifswald vom
11. Mai 2006 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneu-
ten Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungs-
gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
G r ü n d e :
Nach § 133 Abs. 6 VwGO kann das Bundesverwaltungsgericht das mit der
Nichtzulassungsbeschwerde angefochtene Urteil durch Beschluss aufheben
und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das
Verwaltungsgericht zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO vorliegen. Von dieser Möglichkeit macht der Senat
Gebrauch.
Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO sind gegeben. Wie der
Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde geltend macht, liegt ein Verfah-
rensmangel vor, auf dem das Urteil beruhen kann. Das Verwaltungsgericht hat
sein Urteil auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt, zu denen sich der
Kläger nicht hinlänglich äußern konnte; damit hat es das Gebot, rechtliches
Gehör zu gewähren, verletzt (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG). Es lässt
sich nicht ausschließen, dass das Verwaltungsgericht bei ordnungsgemäßer
Verfahrensweise zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unzulässig abgewiesen, weil sie ver-
spätet erhoben worden sei. Dem liegt eine Fristberechnung zugrunde, für die
das Verwaltungsgericht maßgeblich darauf abgehoben hat, dass der umstritte-
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ne Zuordnungsbescheid dem Kläger am 10. Januar 2001 zugestellt worden sei.
Diesen Umstand hat es als durch die ihm vorliegende Postzustellungsurkunde
erwiesen angesehen; der Kläger habe den nach § 415 Abs. 2 ZPO möglichen
Gegenbeweis nicht geführt.
Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger jedoch keine hinlängliche Gelegenheit
gegeben, zur Frage der Rechtzeitigkeit der Klage, namentlich zur Richtigkeit
der Postzustellungsurkunde Stellung zu nehmen. Die Klage ist am 16. Februar
2001 erhoben worden und war damit im Zeitpunkt des Termins zur mündlichen
Verhandlung, auf die das angefochtene Urteil erging, mehr als fünf Jahre lang
anhängig. Keiner der Beteiligten hatte bis dahin Zweifel an ihrer Zulässigkeit
geäußert; die Beteiligten sind ersichtlich davon ausgegangen, dass die Klage-
frist erst durch die Zustellung eines berichtigenden Bescheides am 19. Januar
2001 in Lauf gesetzt worden war. Auch von Seiten des Gerichts ist die Recht-
zeitigkeit der Klage nicht bezweifelt worden; das gilt sowohl für die beiden mit
der Sache befassten Kammern des anfangs zuständigen Verwaltungsgerichts
Schwerin als zunächst auch für den schließlich entscheidenden Einzelrichter
beim Verwaltungsgericht Greifswald. Nach Darstellung der Beschwerdebegrün-
dung hat der Einzelrichter diesen Punkt erstmals im Termin zur mündlichen
Verhandlung am 11. Mai 2006 angesprochen und auf die allein ihm vorliegende
Postzustellungsurkunde verwiesen; er hat der Bitte der Prozessbevollmächtig-
ten des Klägers, die Zustellung überprüfen und gegebenenfalls noch nach
Schluss der mündlichen Verhandlung innerhalb einer nachzulassenden Frist
Gegenbeweis antreten zu dürfen, nicht entsprochen. Mit dieser Verfahrenswei-
se hat er dem Kläger keine ausreichende Gelegenheit gegeben, sich zum Zeit-
punkt der Zustellung des umstrittenen Bescheides und zu der ihm bis dahin
unbekannten Postzustellungsurkunde zu äußern. Daran ändert sich auch
nichts, sollte der Einzelrichter die Prozessbevollmächtigte des Klägers am Vor-
tage des Verhandlungstermins angerufen und sie auf diesen Punkt hingewiesen
haben, wie er in seiner dienstlichen Stellungnahme angibt, sie aber bestreitet.
Auch dann hätte in der bis zum Termin verbleibenden Zeit für den Kläger keine
ausreichende Gelegenheit zur Nachprüfung und Äußerung bestanden; dies gilt
insbesondere im Hinblick darauf, dass die maßgeblichen Vorgänge bereits
mehr als fünf Jahre zurücklagen.
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Das angefochtene Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler. Der Kläger trägt in
der Beschwerdebegründung substantiiert vor, dass er bei ausreichender Gele-
genheit zur Nachprüfung und Äußerung Gegenbeweis gegen die Richtigkeit der
Postzustellungsurkunde angetreten hätte. Er behauptet, nachweisen zu kön-
nen, dass die Beklagte den umstrittenen Bescheid vor dem 17. Januar 2001 gar
nicht der Deutschen Post zur Bewirkung der Zustellung übergeben habe. Fer-
ner behauptet er, nachweisen zu können, dass die Postzustellungsurkunde
auch insofern unrichtig sei, als sie eine persönliche Übergabe des zugestellten
Schriftstücks an seine Prozessbevollmächtigte selbst bekunde; dies sei in sei-
nem Bereich organisatorisch ausgeschlossen.
Im Rahmen seiner erneuten Verhandlung wird das Verwaltungsgericht diesen
Behauptungen nachgehen müssen. Das erübrigt sich nicht etwa deshalb, weil
der umstrittene Zuordnungsbescheid ohnehin nicht mittels Postzustellungsur-
kunde hätte zugestellt werden dürfen. Zwar sieht § 2 Abs. 5 Satz 2 VZOG vor,
dass Zuordnungsbescheide nach §§ 4 oder 5 des Verwaltungszustellungsge-
setzes, also durch Einschreiben oder gegen Empfangsbekenntnis zuzustellen
sind. Dies ist jedoch eine bloße Ordnungsvorschrift, die dem Umstand Rech-
nung tragen sollte, dass in den Anfangsjahren nach dem Beitritt die erforderli-
chen Formulare oft fehlten (BTDrucks 12/103 S. 57). Die Zustellung unter Ver-
wendung einer Postzustellungsurkunde führt daher nicht zur Unwirksamkeit der
Zustellung (Schmidt-Räntsch/Hiestand, RVI 170 B, Rn. 24 zu § 2 VZOG).
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Wegen
des Streitwerts wird auf § 6 Abs. 3 Satz 2 VZOG hingewiesen.
Kley
Liebler
Prof. Dr. Rennert
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